Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Jurabund und seine hervorragendsten Mitglieder. – Aufenthalt in La Chaux de Fonds. – Verbot der roten Fahne in der Schweiz. – Eine neue Gesellschaftsordnung. – Aenderung in der Lebensanschauung der Arbeiter
Zu jener Zeit gehörte dem Jurabunde eine ganze Anzahl bemerkenswerter Männer verschiedener Nationalität an, die fast alle persönliche Freunde Bakunins gewesen waren. Der Redakteur des Hauptblattes, des ›Bulletin‹ des Bundes, war James Guillaume, von Beruf Lehrer, der einer alten Familie Neuchatels entstammte. Mittleren Wuchses und schmächtig von Gestalt, erinnerte er in seinem etwas steifen Wesen wie in seiner unbeugsamen Entschlossenheit an Robespierre; sein wahrhaft goldenes Herz erschloß sich nur dem vertrauten Freunde; seine seltene Arbeitskraft und unermüdliche Tätigkeit ließen ihn als geborenen Führer erscheinen. Acht Jahre lang kämpfte er gegen alle möglichen Schwierigkeiten, die sich dem Bestehen seines Blattes entgegenstellten, und betätigte sich aufs eifrigste bei allem und jedem, was den Bund betraf. Dann aber mußte er schließlich die Schweiz wegen Mangels an jeder Arbeitsgelegenheit verlassen und sich nach Frankreich wenden, wo man seinen Namen einmal in der Geschichte der Pädagogik mit höchster Achtung nennen wird.
Adhemar Schwitzgebel, ebenfalls ein Schweizer, war das Muster eines lebensfrohen, lebhaften, scharfsinnigen Uhrmachers französischer Zunge aus dem Berner Jura. Gelernter Uhrengraveur, dachte er niemals daran, sein Handwerk aufzugeben, und stets wohlgemut und tätig, brachte er seine starke Familie glücklich auch durch die schlimmsten Perioden schlechten Geschäftsganges und schmalen Verdienstes. Seine Fähigkeit, eine schwierige wirtschaftliche oder politische Frage richtig zu erfassen und nach reiflichem Durchdenken vom Standpunkte des Arbeiters zu beleuchten, ohne daß sie dabei das geringste von ihrer tiefsten Bedeutung verloren hätte, war wunderbar, weit und breit kannte man ihn in den Bergen, und bei den Arbeitern aller Länder erfreute er sich großer Beliebtheit.
Sein gerades Gegenstück bildete ein anderer Schweizer, ebenfalls ein Uhrmacher, Namens Spichiger. Er war ein Philosoph, langsam in seinen Bewegungen wie im Denken und glich in seiner äußeren Erscheinung einem Engländer. Immer mühte er sich, jedem Dinge auf den Grund zu gehen, und überraschte uns alle durch die Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen, wenn er über alle möglichen Gegenstände gegrübelt hatte, ohne dabei in seiner Uhrmacherarbeit eine Pause zu machen.
Um diese drei sammelte sich eine ganze Anzahl zuverlässiger, tüchtiger Arbeiter in mittlerem oder höherem Lebensalter, die von leidenschaftlicher Liebe zur Freiheit erfüllt und glücklich waren, an einer so vielversprechenden Bewegung teilzunehmen. Hierzu kamen noch etwa hundert aufgeklärte junge Leute, ebenfalls meist Uhrmacher, die allesamt von entschieden unabhängiger und treuergebener Gesinnung, dabei außerordentlich rührig und zu jedem Opfer bereit waren.
Verschiedene flüchtige Mitglieder der Pariser Kommune hatten sich dem Bunde angeschlossen. Unter ihnen befand sich der große Geograph Elisée Reclus, der, in seiner Lebensweise ein echter Puritaner, in geistiger Beziehung den französischen Encyklopädisten des achtzehnten Jahrhunderts gleicht; ein Mann, der andere mit seinem Geiste erfüllte, aber sie niemals beherrscht hat, noch es je tun wird, ein Anarchist, dessen Anarchismus nur der folgerechte Ausfluß seiner weiten und tiefen Kenntnis der Formen des menschlichen Lebens unter allen Himmelsstrichen und auf allen Stufen der Gesittung ist, dessen Bücher zu den allerbesten des Jahrhunderts zählen, dessen ergreifend schöner Stil Herz und Gewissen des Lesers erregt. Betritt er die Redaktion eines anarchistischen Blattes, so fragt er sogleich den Redakteur, auch wenn dieser im Vergleich mit ihm selbst ein Knabe ist: »Sagen Sie mir, was soll ich tun!« und setzt sich dann wie ein untergeordneter Zeitungsschreiber hin, um eine Lücke von so und so vielen Zeilen in der laufenden Nummer auszufüllen. Beim Aufstand der Pariser Kommune nahm er einfach ein Gewehr zur Hand und stellte sich in Reih und Glied, und wenn er einen Mitarbeiter zur Mitwirkung an einem Bande seiner weltberühmten Geographie einlädt und der Mitarbeiter fragt schüchtern: »Was habe ich zu tun?« so erwidert er: »Hier sind die Bücher, hier ist ein Tisch. Verfahren Sie nach Belieben!«
Neben ihm ist Lefrançais zu nennen, ein älterer Mann, früher Lehrer, der dreimal in seinem Leben in die Verbannung gehen mußte: nach dem Juni 1848, nach Napoleons Staatsstreich und nach 1871. Auch ihm sagte man als Exmitglied der Kommune nach, er habe Paris mit Millionen in der Tasche verlassen, und dabei arbeitete er als Güterverlader an der Eisenbahn in Lausanne und kam bei dieser Arbeit, die jüngere Schultern erfordert, beinahe ums Leben. Nur in seinem Werke über die Pariser Kommune ist die wahre historische Bedeutung dieser Bewegung in das rechte Licht gestellt. »Bitte, ein Kommunalist, kein Anarchist,« pflegte er zu sagen. »Mit solchen Narren, wie ihr seid, kann ich nicht arbeiten,« und dabei arbeitete er mit niemand als mit uns, »weil,« wie er sagte, »ihr Narren noch die Leute seid, die ich am meisten liebe. Mit euch kann man arbeiten und bleiben, was man ist.«
Ein anderes Exmitglied der Kommune in unseren Reihen war Pindy, ein aus Nordfrankreich stammender Zimmermann, der sich später dauernd in Paris niedergelassen hatte. Er machte sich während eines von der Internationale unterstützten Ausstandes in Paris durch sein tatkräftiges und kluges Auftreten in weiten Kreisen bekannt und wurde zum Mitglied der Kommune erwählt, die ihn dann zum Kommandanten der Tuilerien ernannte. Als die Versailler Truppen in Paris einrückten und ihre Gefangenen zu Hunderten erschossen, wurden wenigstens drei Männer in verschiedenen Teilen der Stadt, weil man in jedem Falle Pindy vor sich zu haben glaubte, niedergeschossen. Nach dem Kampfe hielt ihn eine tapfere Näherin verborgen, die ihn bei einer Durchsuchung des Hauses durch ihre Ruhe vor den Händen der verfolgenden Soldaten rettete, und die nachmals sein Weib wurde. Erst zwölf Monate später glückte es dem Paare, Paris unbemerkt zu verlassen und nach der Schweiz zu entkommen. Hier erlernte Pindy das Metallscheiden und brachte es darin zu großer Geschicklichkeit. So arbeitete er den Tag über bei seinem rotglühenden Ofen, und abends widmete er sich mit Leidenschaft dem Werke der Propaganda, bei dem er in bewundernswerter Weise zugleich revolutionäres Feuer, gesunden Menschenverstand und die dem Pariser Arbeiter eigenen organisatorischen Fähigkeiten entfaltete.
Paul Brousse, ein junger Arzt von äußerst regsamem Geiste, etwas lärmend, scharf und lebhaft, entwickelte jede Idee mit mathematischer Logik bis zu ihren äußersten Konsequenzen und erzielte eine bedeutende Wirkung durch seine gewaltige Kritik des Staates und der staatlichen Organisation. Er gab zwei Blätter, ein französisches und ein deutsches, heraus, führte zu gleicher Zeit eine äußerst umfangreiche Korrespondenz und war außerdem die Seele eines regelmäßigen Unterhaltungsabends für Arbeiter. Dabei organisierte er mit dem feinen Gefühl eines echten ›Südländers‹ beständig neue Parteikräfte.
Unter den mit uns in der Schweiz zusammenarbeitenden Italienern sind zwei stets in engem Verein wirkende Männer zu nennen, deren Andenken mehr als eine Generation in Italien hochhalten wird, Cafiero und Malatesta, beide mit Bakunin eng befreundet. Cafiero war ein Idealist der höchsten und reinsten Art, der für die gemeinsame Sache ein beträchtliches Vermögen opferte und sich seitdem die Sorge ums tägliche Brot nicht kümmern ließ. Ein in philosophische Spekulation sich versenkender Denker, und ein Mann, der niemals einem Menschen ein Leid zufügte, griff er doch zur Flinte und zog in die Beneventer Berge, als er und seine Freunde glaubten, einen sozialistischen Aufstand versuchen zu müssen, und wäre es nur, um den Leuten zu zeigen, daß ihre Bewegung mehr zu bedeuten hätte als eine bloße Revolte gegen Steuerbeamte. Malatesta war ein Student der Medizin, der auf sein Studium wie auf sein Vermögen um der Revolution willen verzichtet hatte. Voll Feuer und Intelligenz, war auch er ein reiner Idealist, der sein Leben lang – und er nähert sich nun den Fünfzig – niemals danach gefragt hat, ob er ein Stück Brot zum Abendessen und ein Bett zur Nachtruhe haben wird. Ohne auch nur ein Zimmer sein eigen nennen zu können, erwarb er sich seinen Lebensunterhalt durch Verkauf von Limonade in den Straßen Londons und verfaßte dann am Abend glänzende Artikel für italienische Zeitungen. In Frankreich eingekerkert, freigegeben, ausgewiesen, in Italien von neuem verurteilt, auf eine Insel verbannt, entwichen und wiederum verkleidet in Italien, dabei hier wie anderwärts immer mitten im heißesten Kampfe: das war dreißig Jahre hintereinander der Inhalt seines Lebens. Und wo er auch wieder auftaucht, sei es nach der Entlassung aus dem Gefängnisse oder nach der Flucht von der Insel, immer zeigt er sich wieder von demselben Geiste beseelt wie vorher, jedesmal erneuert er den Kampf, von der gleichen Menschenliebe erfüllt, frei von jedem Haß gegen seine Feinde und Kerkermeister, mit demselben herzlichen Lächeln für einen Freund, der gleichen Liebkosung für ein Kind.
Von Russen hatten wir nur wenige unter uns, da sie sich zumeist der deutschen Sozialdemokratie zuwandten. Doch gehörte uns Joukowsky an, ein Freund Herzens, der Rußland im Jahre 1863 verlassen hatte, ein bestechender, eleganter, hochintelligenter Edelmann und ein Liebling der Arbeiter. Mehr als irgend ein anderer von uns besaß er ihr Ohr, denn er verstand es, sie bald durch Schilderung der großen Rolle, die sie bei der Neubildung der Gesellschaft spielen sollten, anzufeuern, bald durch Vorführung hoher historischer Vorbilder zu erheben, bald ihnen das verwickeltste wirtschaftliche Problem blitzartig zu erhellen, bald sie durch seinen Ernst und seine Aufrichtigkeit zu elektrisieren. Zeitweise sahen wir auch Sokolow unter uns, einen ehemaligen russischen Generalstabsoffizier, den Paul Louis Courier durch seine Kühnheit und Proudhon durch seine philosophischen Ideen angezogen, und der in Rußland durch seine Artikel in Wochenschriften viele für den Sozialismus gewonnen hatte.
Ich erwähne nur diejenigen, die sich als Schriftsteller oder als Kongreßabgeordnete oder sonstwie in weiteren Kreisen einen Namen gemacht hatten. Und doch frage ich mich, ob ich nicht lieber von denen reden sollte, die immer ungenannt blieben und die doch für die Existenz des Bundes ebenso wichtig waren, wie irgend einer von den Federgewandten, von ihnen, die in Reih und Glied mitmarschierten und immer zu jedem Unternehmen bereit waren, ohne zu fragen, ob es eine großartige, hervorragende oder eine unbedeutende, bescheidene Arbeit sei, ob es große Folgen nach sich ziehen oder nichts als endlose Plage für sie selbst und ihre Familien bedeuten würde.
Auch die Deutschen Werner und Rinke, den Spanier Albarracin und viele mehr sollte ich erwähnen, aber ich fürchte, diese meine farblosen Skizzen werden in dem Leser schwerlich dieselben Gefühle der Achtung und Liebe erregen, die jedes Mitglied dieser kleinen Familie allen einflößte, die mit ihm bekannt wurden.
Unter allen Schweizer Städten, die ich kenne, ist La Chaux de Fonds wohl die am wenigsten anziehende. Es liegt auf einem hohen, völlig vegetationslosen Plateau und ist im Winter, wo der Schnee die Erde so hoch bedeckt wie in Moskau und so oft abwechselnd schmilzt und wieder fällt wie in Petersburg, bitterkalten Winden ausgesetzt. Aber es war von Wichtigkeit, unseren Ideen in diesem Mittelpunkte Ausbreitung zu verschaffen und der lokalen Propaganda mehr Leben einzuhauchen. So ließ ich mich in Chaux de Fonds nieder. Pindy, Spichiger, Albarracin, die beiden Blanquisten, Ferré und Jeallot, hatten dort ihren Aufenthalt, und gelegentlich konnte ich von dort aus Guillaume in Neuchatel und Schwitzgebel im Tale von St. Imier aufsuchen.
Nun fing für mich ein arbeitsvolles Leben an, wie es meinem Geschmacke entsprach. Wir hielten zahlreiche Versammlungen ab, für die wir die Programme in den Cafés und Werkstätten selbst austeilten. Wöchentlich hatten wir unsere Sektionssitzung, auf der die lebhaftesten Verhandlungen stattfanden, auch besuchten wir die von den politischen Parteien einberufenen Versammlungen und predigten dort den Anarchismus. Außerdem reiste ich oft nach den Sitzen anderer Sektionen und half diesen vorwärts.
Im Laufe des Winters wandten viele unserer Sache ihre Sympathie zu, doch wurden wir durch eine Krisis im Uhrmachergewerbe in unserer regelmäßigen Arbeit beträchtlich gehemmt. Die Hälfte der Arbeiter war gänzlich arbeitslos oder nur teilweise beschäftigt, so daß die Gemeindevertretung Speisesäle eröffnete, in denen sie für wenig Geld Mahlzeiten zum Kostenpreise gewährte. Die von den Anarchisten in La Chaux de Fonds gegründete kooperative Werkstätte, deren Ertrag unter alle Mitglieder gleichmäßig verteilt wurde, konnte trotz des guten Rufes, dessen sie sich erfreute, kaum Arbeit erhalten, und Spichiger mußte mehrmals, um nur sein Leben zu fristen, für ein Polstergeschäft Wolle kämmen.
Wir nahmen in jenem Jahre sämtlich an einer sozialistischen Veranstaltung in Bern teil, bei der die rote Flagge entfaltet werden sollte. Die Woge der Reaktion schlug bis in die Schweiz, so daß die Berner Polizei gegen die Verfassung das Tragen der Arbeiterfahne verboten hatte. Es war daher notwendig, wenigstens ab und zu zu zeigen, daß die Arbeiter ihre Rechte nicht mit Füßen treten ließen und Widerstand leisteten. Am Jahrestage der Pariser Kommune begaben wir uns also alle zusammen nach Bern, um dort ungeachtet des Verbotes die rote Flagge durch die Straßen zu tragen. Natürlich kam es zu einem Zusammenstoß mit der Polizei, wobei zwei Kameraden Säbelhiebe und zwei Polizisten ziemlich schwere Verwundungen erhielten. Aber die rote Fahne brachten wir glücklich zur Arbeiterhalle, wo eine äußerst bewegte Versammlung stattfand. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß sich die sogenannten Führer nicht im Hintergrunde hielten und ebenso wie die übrigen kämpften. In die Untersuchung waren fast dreißig Schweizer Bürger verwickelt, die sämtlich selbst verlangt hatten, in Anklagezustand versetzt zu werden; auch meldeten sich freiwillig die zwei, welche die Polizisten verwundet hatten. Im Verlaufe des Strafprozesses gewann unsere Sache vielfache Sympathien; man erkannte an, daß alle Freiheiten, wenn sie nicht verloren gehen sollen, eifersüchtig verteidigt werden müssen. Die Strafen waren daher auch nur leicht und gingen nicht über drei Monate Gefängnis hinaus.
Doch verbot die Berner Regierung nun für den ganzen Kanton das Führen der roten Fahne, worauf der Jurabund den Beschluß faßte, sie trotz des Verbotes in St. Imier, wo wir in jenem Jahre unsern Kongreß abhielten, zu entfalten. Diesmal trugen die meisten von uns Waffen, um unser Banner bis zum Äußersten zu verteidigen. Auf einem Platze hatte eine Polizeimannschaft Stellung genommen, um unseren Zug nicht weiter zu lassen, und auf einem nahen Felde hielt man eine Abteilung Miliz in Bereitschaft, angeblich zum Zwecke einer Schießübung – wir konnten bei unserm Marsche durch die Stadt deutlich das Schießen hören. Als unser Zug aber auf dem Platze erschien und man aus seiner Haltung entnehmen konnte, ein Angriff würde zu ernstem Blutvergießen führen, ließ uns der Bürgermeister unbehelligt unsern Marsch zum Sitzungssaale fortsetzen. Keinen von uns verlangte nach dem Kampfe, aber doch hatte uns das Marschieren in Gefechtsordnung und nach dem Klange der Militärmusik in solche Spannung versetzt, daß es mir zweifelhaft ist, welches Gefühl bei den meisten von uns in den ersten Augenblicken nach unserer Ankunft im Saale überwog: die Freude darüber, daß uns ein ungesuchter Kampf erspart blieb, oder das Bedauern, daß es nicht zum Kampfe kam. Wie mannigfaltig und rätselhaft sind doch oft die Regungen der Menschenseele!
Unsere Haupttätigkeit bestand jedoch in der Ausgestaltung des anarchistischen Sozialismus nach der praktischen und theoretischen Seite hin, und in dieser Beziehung hat der Bund zweifellos etwas Dauerndes geschaffen.
Wir bemerkten bei den gesitteten Völkern den Keim zu einer neuen Gesellschaftsform, der die alte weichen mußte. Diese neue Gesellschaft besteht aus einander gleichgestellten Mitgliedern, die nicht mehr gezwungen sind, Hand und Kopf an andere zu verkaufen und von diesen in beliebiger, planloser Weise ausnutzen zu lassen; sie können vielmehr ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zielbewußt der Produktion zuwenden im Rahmen eines Organismus, der vermöge seines Aufbaues alle auf die Gewinnung des größtmöglichen Gesamtbetrages der allgemeinen Wohlfahrt gerichteten Bestrebungen zusammenfaßt und dabei für die individuelle Initiative vollen Spielraum läßt. Der Organismus gliedert sich in eine Vielheit von Associationen, die sich zu allen, gemeinsame Arbeit erfordernden Zwecken zusammenschließen: zu Gewerbebünden zum Zwecke der Produktion jeder Art, der landwirtschaftlichen, industriellen, rein geistigen oder künstlerischen; zu Konsumgemeinden, die für Wohnungen, für Beleuchtung und Heizung, für Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen u. s. w. Sorge tragen; zu Vereinigungen dieser Kommunen wie der Gewerbeorganisationen untereinander. Endlich bilden sich noch weitere, auf ein ganzes Land oder auf mehrere Länder sich erstreckende Gruppen, deren Mitglieder in gemeinsamer Arbeit die Befriedigung wirtschaftlicher, geistiger, künstlerischer und sittlicher Anforderungen, soweit sie über ein bestimmtes Gebiet hinausgreifen, erstreben. Alle diese Gruppen wirken in freier gegenseitiger Vereinbarung zusammen, ganz wie jetzt die Eisenbahngesellschaften oder die Postverwaltungen der verschiedenen Länder zusammenarbeiten, ohne daß eine Zentralbehörde für Eisenbahnen oder Posten bestände, und obwohl jene rein egoistische Zwecke verfolgen und diese zu verschiedenen oft einander feindlichen Staaten gehören, oder wie die Meteorologen, die Alpenvereine, die englischen Lebensrettungsanstalten, die Radfahrer, die Lehrer u. s. w. miteinander zu gemeinnützigen, zu rein geistigen Zwecken oder auch nur des Vergnügens halber einander die Hände reichen. Es besteht volle Freiheit zur Entwicklung neuer Formen in der Produktion, Erfindung und Organisation, die individuelle Initiative findet Anregung und Unterstützung, während der Neigung zur Gleichförmigkeit und Vereinheitlichung entgegengearbeitet wird.
Überdies kristallisiert sich diese Gesellschaft nicht in bestimmten, unveränderlichen Formen, sondern ist als lebensvoller, sich ausgestaltender Organismus beständig im Flusse. Nach einer Regierung besteht kein Bedürfnis, weil man durch freie Vereinbarung und Verbindung alle Aufgaben erfüllt, für die heute die Regierungen unentbehrlich zu sein glauben, und weil einerseits die Ursachen zu Konflikten naturgemäß seltener werden und man diese andererseits, soweit sie doch vorkommen, schiedsgerichtlich beilegen kann.
Keiner von uns suchte die Bedeutung und Tiefe der Änderung, die wir anstrebten, geringer als sie war, darzustellen. Wir erkannten, daß die bestehenden Ansichten über die Notwendigkeit des Privateigentums an Land, Bergwerken, Fabriken, Wohnhäusern und so fort als Mittel zur Sicherung des industriellen Fortschritts wie des Lohnsystems, als Mittel zum Antrieb zur Arbeit nicht so bald den höheren Vorstellungen von sozialisiertem Eigentum und sozialisierter Produktion Raum geben würden. Wir wußten, daß es einer rastlosen Propaganda und fortgesetzter Kämpfe, individuellen wie gemeinsamen Ansturmes gegen die jetzt vorherrschenden Formen des Eigentums, daß es individueller Aufopferung bedürfe, und daß es hier und da zu Revolutionen und Gegenrevolutionen kommen würde, bis die heutigen Anschauungen über das Privateigentum sich änderten. Es war uns auch klar, daß die jetzigen Ideen von der Notwendigkeit der Autorität, in denen wir alle aufgewachsen sind, nicht sofort und völlig von der gesitteten Welt über Bord geworfen werden würden und könnten. Offenbar mußten eine jahrelange Propaganda und eine lange fortgesetzte Reihe von Kämpfen gegen die Autorität sowie eine vollständige Revision der jetzt von der geschichtlichen Erfahrung abgeleiteten Lehren vorhergehen, ehe die Menschen der Erkenntnis fähig waren, daß sie fälschlicherweise ihren Herrschern und ihren Gesetzen zuschrieben, was in Wahrheit ein Ergebnis ihrer eigenen sozialen Gefühle und Gewohnheiten war. Das alles war uns bekannt. Aber wir wußten auch, daß wir von der vorwärts drängenden Flut des Fortschrittes der Menschheit getragen wurden, wenn wir nach jenen beiden Richtungen eine Änderung anstrebten.
Bei näherer Bekanntschaft mit den Arbeitern und den mit ihnen fühlenden Vertretern der gebildeten Klassen erkannte ich bald, daß ihnen ihre persönliche Freiheit noch höher stand als ihr persönliches Wohlergehen. Vor fünfzig Jahren hätten sie ihre persönliche Freiheit gegen das Versprechen materieller Wohlfahrt unbedenklich an jeden Herrscher, selbst an einen Cäsar verkauft, aber das war jetzt anders. Ich sah, daß der blinde Glaube an erwählte Führer, sollten sie auch den Reihen der besten Arbeiterführer entnommen sein, unter den romanischen Arbeitern immer mehr dahinschwand. »Zuerst müssen wir wissen, was uns not tut, und dann können wir es am besten selbst ausführen« – dieser Gedanke war nach meiner Erfahrung unter ihnen stark verbreitet – viel mehr, als man gewöhnlich glaubt. Der in die Satzungen der Internationalen Association aufgenommene Satz: Die Befreiung der Arbeiter muß durch die Arbeiter selbst erfolgen – hatte allgemeinen Anklang gefunden und in den Geistern Wurzel gefaßt, und die traurige Erfahrung der Pariser Kommune hatte diese Ansicht nur verstärkt.
Beim Ausbruch des Aufstandes waren zahlreiche Vertreter der Mittelklassen willens, in sozialer Richtung einen neuen Versuch zu machen oder ihn wenigstens zu dulden. »Als mein Bruder und ich unser kleines Zimmer verließen und auf die Straße traten,« erzählte mir einmal Elisée Reclus, »richteten Leute aus den wohlhabenderen Klassen von allen Seiten die Frage an uns: ›Sagt uns, was nun zu tun ist! Wir sind zu einem Versuch in neuer Richtung bereit‹, aber wir wußten ihnen noch keine Vorschläge zu machen.«
Noch niemals waren in einer Regierung alle fortschrittlichen Parteien so gleichmäßig vertreten gewesen, wie in dem am 25. März 1871 erwählten Ausschuß der Kommune. Alle Schattierungen von Revolutionären, Blanquisten, Jakobiner, Internationale, fanden sich darin im rechten Verhältnis. Aber weil die Arbeiter selbst keine klaren sozialen Reformideen besaßen, die sie ihren Vertretern hätten einflößen können, so tat die Regierung der Kommune in dieser Richtung nichts. Schon die Tatsache, daß die Erwählten ohne Fühlung mit der großen Masse im Stadthause eingeschlossen waren, verurteilte sie zur Unfruchtbarkeit. Die Kommune hat es klarer als je bewiesen, daß gerade davon der Erfolg des Sozialismus abhängt, daß die Gedanken der Herrschaftslosigkeit, der Selbständigkeit, der freien Initiative des einzelnen – in einem Wort, des Anarchismus – zugleich mit den Lehren vom gemeinsamen Eigentum und von sozialisierter Produktion verkündet werden.
Wir verkannten nicht, daß wir bei der dem einzelnen gewährten vollen Freiheit des Gedankenausdrucks wie des Handelns bis zu einem gewissen Grade auf eine Übertreibung unserer Grundsätze gefaßt sein müßten. Schon bei der nihilistischen Bewegung hatte ich das in Rußland gesehen. Aber wir hegten das Vertrauen – und die Erfahrung hat uns darin recht gegeben – das soziale Leben selbst würde im Verein mit einer freien, ungeschminkten Kritik der Meinungen und Handlungen das wirksamste Mittel zur Abschleifung der unvermeidlichen Übertreibungen sein, wir handelten also gemäß dem alten Worte, daß Freiheit noch das beste Heilmittel für die gelegentlichen Auswüchse der Freiheit bleibe. Es trägt der Mensch in sich als noch nicht genügend gewürdigtes Erbteil aus der Vergangenheit einen Kern sozialer Gewohnheiten und Anschauungen, der nicht auf äußeren Zwangsmitteln beruht, sondern über sie erhaben ist. Auf ihn gründet sich aller Fortschritt der Menschheit, und solange die Menschen nicht körperlich und geistig entarten, wird er nicht zu Grunde gehen trotz allem Übermaß der Kritik und gelegentlichen tätlichen Übergriffen. In diesen Ansichten befestige ich mich immer mehr, je besser ich Menschen und Dinge kennen lernte.
Es war uns zugleich klar, daß eine solche Änderung nicht durch die Entwürfe eines genialen Mannes bewirkt, daß sie nicht von einem einzelnen gewissermaßen in fertigem Zustande entdeckt werden könnte, sondern daß sie das Ergebnis der konstruktiven Arbeit der Massen sein müßte, geradeso wie die im frühen Mittelalter herrschenden Formen des Gerichtsverfahrens, der Dorfgemeinde, der Gilde und des Stadtwesens oder die Grundlagen des internationalen Rechtes vom Volke selbst allmählich ausgearbeitet worden sind.
Viele unserer Vorgänger hatten Pläne von Mustergemeinwesen entworfen, die sich meistens auf dem Grunde der Autorität, in seltenen Fällen auf dem der Freiheit aufbauten. Robert Owen und Fourier hatten der Welt ihre Ideale von einer freien sich organisch entwickelnden Gesellschaft vor Augen gestellt im Gegensatz zu den dem römischen Reiche oder der römischen Kirche nachgebildeten pyramidenförmig konstruierten Musterbildern. Proudhon hatte ihr Werk fortgesetzt, und Bakunin ›baute zerstörend auf‹, indem er seine weite und klare Auffassung der Philosophie der Geschichte in der Kritik der gegenwärtigen Zustände zur Anwendung brachte.
Die Internationale Arbeiterassociation führte eine neue Methode zur Lösung der Probleme der praktischen Soziologie ein, indem sie die Arbeiter selbst zur Mitwirkung aufrief. Die Gebildeten, die sich der Association angeschlossen hatten, dienten nur dazu, die Arbeiter über die Vorgänge in den verschiedenen Ländern der Welt auf dem Laufenden zu erhalten, die erreichten Erfolge zu analysieren und später den Arbeitern in der Formulierung ihrer Forderungen zu helfen. Wir erhoben keinen Anspruch darauf, aus unsern theoretischen Erwägungen heraus ein ideales Gemeinwesen zu entrollen und zu zeigen, wie nach unserer Meinung die Gesellschaft sein sollte; sondern wir luden die Arbeiter ein, nach den Ursachen der bestehenden Mißstände zu forschen und in ihren Diskussionen und auf ihren Kongressen die praktischen Seiten einer im Vergleich zu der unsrigen verbesserten sozialen Organisation in Betracht zu ziehen. Es wurde eine Frage, die auf einem internationalen Kongresse erhoben war, allen Arbeitervereinigungen als Gegenstand der Verhandlung empfohlen. Im Laufe des Jahres erörterte man dann in ganz Europa in den kleinen Sektionsversammlungen die Frage mit voller Kenntnis der lokalen Bedürfnisse jedes Gewerbes. Das Ergebnis der Sektionsarbeiten kam dann vor den nächsten Kongreß jedes Bundes (Föderation) und wurde endlich in vervollkommneterer Form dem nächsten internationalen Kongresse unterbreitet. So erfolgte die theoretische wie praktische Ausarbeitung des Gebäudes der von uns ersehnten Gesellschaftsordnung von unten her, und der Jurabund nahm in ausgedehntem Maße an der Ausgestaltung des anarchistischen Ideals teil.
Was mich betrifft, so kam ich unter den günstigen Verhältnissen, wie sie sich mir boten, allmählich zu der Erkenntnis, daß der Anarchismus mehr zu bedeuten hat, als eine bloße Aktionsmethode oder nur eine besondere Auffassung von einer freien Gesellschaftsordnung. Er stellte sich mir als ein Teil einer natürlichen und sozialen Philosophie dar, die in ganz anderer Weise als die bisher in den anthropologischen und soziologischen Wissenschaften angewandten metaphysischen und dialektischen Methoden zu entwickeln war. Ich erkannte, daß bei ihm dieselben Methoden wie bei den Naturwissenschaften zur Anwendung kommen müßten, doch nicht nach Herbert Spencer auf dem schlüpfrigen Grunde bloßer Analogien, sondern auf der festen Unterlage der auf die menschlichen Einrichtungen angewandten Induktion. Und ich bemühte mich, nach Kräften in dieser Richtung beizusteuern.
*