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Vierzehntes Kapitel.

Wachsende Unzufriedenheit in Rußland nach dem russisch-türkischen Kriege. – Prozeß der 193. – Attentat auf Trepow. – Vier Attentate auf gekrönte Häupter. – Verfolgung des Jurabundes. – Uebernahme der Redaktion von ›Le Révolté‹. – Wie soll ein Sozialistenblatt beschaffen sein? – Finanzielle und technische Schwierigkeiten.

 

Inzwischen nahmen die Dinge in Rußland eine ganz neue Wendung. Allgemein war die Enttäuschung über den Ausgang des Krieges, den Rußland 1877 gegen die Türkei begonnen hatte. Vor dem Ausbruch des Krieges loderte im Lande das Feuer der Begeisterung für die slawischen Brüder hoch auf; auch glaubte man damals vielfach, der Befreiungskrieg auf der Balkanhalbinsel werde den Anstoß zu einer fortschrittlichen Bewegung in Rußland selbst geben. Aber die Befreiung der vom Türkenjoch gedrückten Slawen war nur zum Teil erreicht worden. Die entsetzlichen Opfer von russischer Seite waren infolge verschiedener Mißgriffe der Heeresleitung vergebens gebracht. Hunderttausende hatten in Schlachten, die nur halbe Siege waren, ihren Tod gefunden, und die der Türkei abgerungenen Zugeständnisse gingen durch den Berliner Kongreß wieder verloren. Außerdem wurde in weiten Kreisen bekannt, daß die Unterschlagung öffentlicher Gelder während dieses Krieges fast in demselben Maße stattgefunden hatte, wie während des Krimkrieges.

Gerade in der Zeit dieser Ende 1877 ganz Rußland erfüllenden Unzufriedenheit wurden einhundertdreiundneunzig Personen, die seit 1873 wegen ihrer Teilnahme an unserer Agitation in Haft waren, vor Gericht gestellt. Die von einer Reihe begabter Anwälte verteidigten Angeklagten gewannen sofort die Sympathien des Publikums. Der Eindruck, den sie auf die Petersburger Gesellschaft hervorbrachten, war ein außerordentlich günstiger, und als bekannt wurde, daß die meisten von ihnen drei oder vier Jahre als Untersuchungsgefangene in Haft gehalten worden waren und nicht weniger als einundzwanzig durch Selbstmord geendet hatten oder dem Wahnsinn verfallen waren, machte sich eine noch entschiedenere Stimmung zu ihren Gunsten, auch unter den Richtern selbst, bemerkbar. Der Gerichtshof verhängte über einige wenige sehr schwere Strafen, während alle übrigen mit verhältnismäßig milden Urteilen davonkamen, wobei die Richter ausdrücklich erklärten, die Untersuchungshaft habe so lange gedauert und sei schon eine so schwere Strafe, daß man gegen die Angeklagten billigerweise nicht noch härter verfahren könne. Man hoffte zuversichtlich, noch auf weitere Milderung der Erkenntnisse durch den Kaiser. Aber wider alles Erwarten revidierte er die Urteile nur, um sie zu verschärfen. Die vom Gerichte Freigesprochenen wurden in entfernte Teile Rußlands oder Sibiriens verbannt, und die zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilten erhielten zwischen fünf und zwölf Jahren schwerer Arbeit zugesprochen. Dies war das Werk General Mesentsows, des Chefs der Dritten Abteilung.

 

Zu derselben Zeit geschah es, daß der Chef der Petersburger Polizei, der General Trepow, als er bei einem Besuche im Untersuchungsgefängnis bemerkte, daß einer der politischen Gefangenen, Bogolubow, nicht seinen Hut vor ihm, dem allmächtigen Satrapen, abzog, auf den Gefangenen losstürzte, ihm einen Schlag versetzte, und als sich jener wehrte, ihn auspeitschen ließ. Sobald die anderen Gefangenen in ihren Zellen davon erfuhren, gaben sie ihrem Unwillen laut Ausdruck und wurden infolgedessen von den Wärtern und den Polizisten schrecklich mißhandelt. Ohne Murren ertrugen die russischen politischen Gefangenen jede Unbill und Mühsal, die sie in Sibirien oder bei der Zwangsarbeit traf, aber körperliche Züchtigung waren sie fest entschlossen nicht zu dulden. Ein junges Mädchen, Wera Sassulitsch, der Bogolubow nicht einmal persönlich bekannt war, kaufte sich einen Revolver, ging zu dem Polizeichef und schoß auf ihn, verwundete ihn aber nur. Alexander II. kam in Trepows Haus, um sich das heldenhafte Mädchen anzusehen, das mit seinem auffallend sanften und anziehenden Gesichte und seinem bescheidenen Wesen sicher Eindruck auf ihn machte. Trepow hatte so viele Feinde in Petersburg, daß es gelang, den Fall vor ein Schwurgericht zu bringen. Hier erklärte Wera Sassulitsch, sie habe erst zur Waffe gegriffen, als alle Mittel, die Sache in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und irgendwie Abhilfe zu erlangen, erschöpft gewesen wären. Selbst der Petersburger Timeskorrespondent habe auf die Bitte, den Vorgang in seinem Blatte zur Sprache zu bringen, dies unterlassen, wohl weil er ihn für unglaublich gehalten habe. Darauf sei sie, ohne zu irgend jemand ein Wort von ihrem Vorhaben zu sagen, hingegangen, um auf Trepow zu schießen. Jetzt, da die Sache bekannt geworden sei, sei sie ganz glücklich, daß sie ihn nur leicht verwundet habe. Die Geschworenen sprachen sie einstimmig frei; und als die Polizei sie beim Verlassen des Gerichtes von neuem verhaften wollte, retteten sie die jungen Leute in Petersburg, indem sie sich am Eingange um die Freigelassene scharten, vor den Klauen ihrer Verfolger. Sie ging ins Ausland und befand sich bald in unserer Mitte in der Schweiz.

Dieser Fall machte überall in Europa das größte Aufsehen. Als die Nachricht von Wera Sassulitschs Freisprechung nach Frankreich kam, befand ich mich in Paris, wo ich an jenem Tage aus geschäftlichen Gründen bei verschiedenen Redaktionen vorzusprechen hatte. Die Redakteure glühten vor Begeisterung und schrieben schwärmerische Artikel zu Ehren des russischen Mädchens. Sogar die ›Revue des deux Mondes‹ erklärte in ihrem Rückblick auf das Jahr 1878, die beiden Personen, die die öffentliche Meinung Europas im Jahre 1878 am meisten erregt hätten, seien der Fürst Gortschakow in seinem Auftreten auf dem Berliner Kongreß und Wera Sassulitsch gewesen. Ihre beiden Porträts erschienen in mehreren Kalendern nebeneinander. Auf die westeuropäischen Arbeiter machte Wera Sassulitschs Aufopferung einen tiefen Eindruck.

 

In demselben Jahre, 1878, fanden auch, ohne daß irgend ein Komplott vorlag, kurz hintereinander vier Attentate auf gekrönte Häupter statt. Der Arbeiter Hödel und sodann Dr. Nobiling schossen auf den deutschen Kaiser; ein paar Wochen darauf folgte das Attentat des spanischen Arbeiters, Oliva Moncasi, der auf den König von Spanien schoß, endlich stürzte sich der Koch Passanante mit seinem Messer auf den König von Italien. Die europäischen Regierungen hielten es für unmöglich, daß diese Attentate auf das Leben dreier Souveräne stattgefunden haben sollten, ohne daß irgendeine internationale Verschwörung zu Grunde läge, und kamen zu dem kühnen Schluß, der anarchistische Jurabund sei der Mittelpunkt dieser Verschwörung. Seitdem sind mehr als zwanzig Jahre vergangen, und ich kann ganz positiv erklären, daß nicht der geringste Grund für eine solche Annahme vorhanden war. Nichtsdestoweniger fielen alle europäischen Regierungen über die Schweiz her und warfen ihr vor, sie hege die Revolutionäre, die dergleichen Anschläge planten. Paul Brousse, der Redakteur unseres Jurablattes, der ›Avantgarde‹, wurde verhaftet und vor Gericht gestellt. Die Schweizer Richter fanden, daß man Brousse und den Jurabund ganz grundloserweise mit den Attentaten in Verbindung gebracht habe, und verurteilten ihn nur wegen seiner Artikel zu zwei Monaten Gefängnis. Aber das Blatt wurde unterdrückt, und die Bundesregierung verbot allen Schweizer Druckereien den Verlag dieses oder eines ähnlichen Blattes. So war dem Jurabund ein Maulkorb angelegt.

Außerdem verstanden es die politischen Persönlichkeiten in der Schweiz, denen die anarchistische Bewegung in ihrem Lande mißliebig war, durch private Maßregeln die leitenden Schweizer Mitglieder des Jurabundes vor die Wahl zu stellen, entweder dem politischen Leben zu entsagen oder zu verhungern. Brousse wurde aus der Schweiz ausgewiesen. James Guillaume, der das ›Bulletin‹ des Bundes acht Jahre durch alle Fährlichkeiten gesteuert hatte und hauptsächlich vom Stundengeben lebte, konnte keine Beschäftigung finden und mußte die Schweiz verlassen und nach Frankreich gehen. Adhemar Schwitzgebel, über den als Uhrmacher der Boykott verhängt wurde und der für eine starke Familie zu sorgen hatte, mußte sich schließlich von der Bewegung zurückziehen. Spichiger, der sich in derselben Lage befand, wanderte aus.

So kam es, daß ich, der Ausländer, die Redaktion einer Zeitung des Jurabundes übernehmen sollte. Ich zauderte natürlich, aber es blieb nichts weiter übrig, und so fing ich an, mit zwei Freunden, Dumartheray und Herzig, im Februar 1879 unter dem Titel ›Le Révolté‹ in Genf ein neues alle zwei Wochen erscheinendes Blatt herauszugeben. Das meiste darin mußte ich selbst schreiben. Nur dreiundzwanzig Franken standen uns bei der Herausgabe zur Verfügung, aber wir machten uns alle ans Abonnentensammeln und konnten glücklich die erste Nummer herausbringen. Sie war im Ton maßvoll, aber dem Wesen nach revolutionär, auch mühte ich mich nach Kräften, so zu schreiben, daß verwickelte historische und wirtschaftliche Fragen für jeden intelligenten Leser verständlich wären. Sechshundert Stück war das Äußerste, das wir bei den Auflagen unserer früheren Blätter erreicht hatten, von ›Le Révolté‹ druckten wir zweitausend Stück, und in wenigen Tagen waren sie sämtlich vergriffen. Das Blatt schlug ein und erscheint noch heute in Paris unter dem Titel ›Temps Nouveaux‹.

Sozialistenblätter zeigen oft die Neigung, bloße Chroniken von Klagen über die bestehenden Zustände zu sein. Es wird über die bedrängte Lage der Arbeiter in den Bergwerken, in den Fabriken und beim landwirtschaftlichen Betriebe berichtet, die Leiden und das Elend der Arbeiter bei Ausständen werden in lebhaften Bildern vorgeführt, man klagt über ihre Hilflosigkeit im Kampfe gegen ihre Arbeitgeber, und dieses beständige hoffnungslose Ringen, das jede Woche aufs neue geschildert wird, übt auf den Leser einen höchst niederdrückenden Einfluß aus. Diesem Eindruck kann der Redakteur meist nur durch die Glut seiner Worte entgegenwirken, durch die er seine Leser mit Tatkraft und Vertrauen zu erfüllen sucht. Mir schien es im Gegenteil, daß ein revolutionäres Blatt in erster Linie die Symptome sammeln muß, die allenthalben das Kommen eines neuen Zeitalters, das Keimen und Knospen neuer Formen sozialen Lebens, die zunehmende Auflehnung gegen veraltete Einrichtungen erweisen. Diese Symptome sollte man wahrnehmen, sie in inneren Zusammenhang bringen und so darstellen, daß sie der zögernden größeren Masse die ihr sonst nicht sichtbare und oft unbewußt gewährte Unterstützung vor Augen führten, die fortgeschrittenen Ideen immer zu teil wird, wenn in der Gesellschaft eine geistige Wiedergeburt stattfindet. In dem Arbeiter das Gefühl zu erzeugen, daß er teil nimmt an dem die ganze Welt durchzuckenden Klopfen des Menschenherzens, an seinem Aufbäumen gegen eine, ganze Zeitalter hindurch geübte Ungerechtigkeit, an seinen Versuchen zur Ausprägung neuer Lebensformen, dies sollte nach meiner Meinung die Hauptaufgabe eines revolutionären Blattes sein.

Geschichtsschreiber erzählen uns oft, dieses oder jenes philosophische System habe die Anschauungen der Menschen und nachher ihre Einrichtungen in gewisser Weise beeinflußt und geändert. Aber das ist keine Geschichte. Die größten sozialen Philosophen haben nur die Anzeichen kommender Änderungen aufgefaßt, ihre innere Bedeutung verstanden und mit Hilfe der Induktion wie der Intuition, was kommen würde, vorhergesagt. Soziologen wieder haben Pläne sozialer Neuordnungen entworfen, indem sie von einigen Prinzipien ausgingen und aus ihnen die logischen Folgerungen zogen, wie man auf wenigen Grundsätzen einen geometrischen Schluß aufbaut. Aber das ist keine Soziologie. Ein richtiger sozialer Plan kann nur entworfen werden, wenn man die Tausende von Symptomen des neuen Lebens im Auge behält, dabei das nur Zufällige von dem organisch Wesentlichen scheidet und auf dieser Grundlage verallgemeinert.

Mit dieser Anschauung suchte ich in einfachen, verständlichen Worten meine Leser vertraut zu machen und so den bescheidensten unter ihnen dahin zu bringen, daß er in allem sich selbst ein Urteil darüber bilde, welcher Art das Ziel der sozialen Bewegung sei, und selbst den Denker zurechtweise, wenn er zu falschen Schlüssen käme. Was die Kritik des Bestehenden anlangt, so übte ich sie nur in der Weise, daß ich die Wurzel der Übel aufdeckte und zeigte, daß ein tief sitzender und sorglich gehegter Fetischdienst gegenüber den veralteten Überbleibseln einer überwundenen Entwicklungsstufe der Menschheit und eine weitverbreitete Feigheit im Denken und Wollen die Hauptquellen aller Übel sind.

Bei dieser Arbeit gewährten mir Dumartheray und Herzig die kräftigste Unterstützung. Dumartheray entstammte einer der ärmsten savoyischen Bauernfamilien und hatte in der Volksschule nur den dürftigsten Unterricht genossen. Dennoch war er einer der intelligentesten Männer, die mir je vorgekommen sind, und seine Urteile über Tagesereignisse und die maßgebenden Persönlichkeiten zeugten so sehr von außergewöhnlicher Einsicht, daß sie sich oft als prophetisch erwiesen. Ebenso war er einer der schärfsten Kritiker der neu erscheinenden sozialistischen Literatur und ließ sich nie von dem bloßen Spiele mit schönen Worten und dem Anschein von Wissenschaftlichkeit blenden. Herzig war ein junger Kaufmannsgehilfe aus Genf, ein zurückhaltender, schüchterner Mensch, der wie ein Mädchen errötete, wenn er einen eigenen Gedanken zum Ausdruck brachte, und der, als nach meiner Verhaftung die Verantwortung für das weitererscheinen der Zeitung auf ihm ruhte, durch die bloße Kraft des Willens gut schreiben lernte. Von allen Genfer Geschäftsinhabern boykottiert und mit seiner Familie dem baren Elend ausgesetzt, arbeitete er trotzdem für die Zeitung, bis sie nach Paris verpflanzt werden konnte.

Auf das gute Urteil dieser beiden Freunde konnte ich mich ohne weiteres verlassen, wenn Herzig die Stirn runzelte und leise sagte: »Ja – nun – 's kann gehen,« so wußte ich, daß es nichts damit war. Und wenn Dumartheray, der immer an seiner Brille etwas auszusetzen fand, wenn er ein undeutlich geschriebenes Manuskript lesen sollte, und der darum gewöhnlich nur Abzüge las, das Vorlesen mit dem Ausruf unterbrach: »Non, ça ne va pas!« so hatte ich sofort das Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei, und suchte herauszufinden, welcher Gedanke oder Ausdruck sein Mißfallen erregte. Ich wußte, daß es zwecklos war, ihn zu fragen, warum es nicht ginge. Er antwortete dann: »Ja, das ist nicht meine Sache, das ist Ihre Sache. Es geht nicht; weiter kann ich nichts sagen.« Aber ich fühlte, er hatte recht, und setzte mich einfach hin, den Satz umzuschreiben, oder griff zum Winkelhaken und setzte dafür, wenn nötig, ein paar neue Zeilen.

Ich muß gestehen, daß auch schwere Zeiten für unser Blatt kamen. Kaum hatten wir fünf Nummern herausgegeben, so sagte uns der Drucker, wir sollten uns nach einer andern Druckerei umsehen. Für die Arbeiter und ihre Veröffentlichungen ist die in den Verfassungen gewährte Freiheit der Presse außer den Gesetzesparagraphen noch manchen anderen Schranken unterworfen. Der Drucker hatte nichts gegen unser Blatt – es gefiel ihm sogar; aber in der Schweiz sind alle Druckereien von der Regierung abhängig, die ihnen bei der Herausgabe statistischer Werke mehr oder weniger Arbeit zuweist, und unserm Drucker hatte man offen erklärt, wenn er unsere Zeitung noch weiter verlege, so brauche er sich keine Rechnung mehr auf Aufträge von der Genfer Regierung zu machen. Ich ging in der ganzen französischen Schweiz von einem Druckereibesitzer zum andern, doch überall, auch wo man gegen die Richtung unseres Blattes nichts einzuwenden hatte, erhielt ich dieselbe Antwort: »Ohne Aufträge von der Regierung können wir nicht bestehen, und wir kriegen keine, wenn wir den Druck von ›Le Révolté‹ übernehmen.«

In sehr herabgedrückter Stimmung kehrte ich nach Genf zurück, aber Dumartheray zeigte sich nur um so eifriger und hoffnungsvoller. »Die Sache ist sehr einfach,« sagte er. »Wir kaufen uns eine eigene Druckereieinrichtung auf drei Monate Kredit, und in drei Monaten haben wir sie bezahlt.« »Aber wir haben kein Geld, nur ein paar hundert Franken,« warf ich ein. »Geld? Unsinn! Das werden wir haben, wir wollen nur gleich die Lettern bestellen und unsere nächste Nummer herausgeben, und Geld wird kommen.« Wieder einmal hatte er das Rechte getroffen. Als unsere nächste Nummer aus unserer eigenen ›Imprimerie Jurassienne‹ erschien und wir darin unsere schwierige Lage auseinandersetzten und außerdem ein paar kleine Flugblätter herausgaben, wobei wir alle beim Drucke mithalfen, kam das Geld herein, meist in Kupfer und Silber, aber es kam. Immer und immer wieder habe ich in meinem Leben von den radikalen Parteien über Geldmangel klagen hören, aber je länger ich lebe, umso mehr überzeuge ich mich, daß es nicht sowohl am Gelde fehlt als an Männern, die fest und stetig auf ein gegebenes Ziel in der rechten Richtung vorwärts gehen und andere mit dem gleichen Geiste erfüllen. Länger als zwanzig Jahre hat unser Blatt nun beständig von der Hand in den Mund gelebt, und fast in jeder Nummer findet sich auf der ersten Seite ein Aufruf zu Beiträgen. Aber solange sich Männer finden, die unentwegt und mit voller Energie dafür eintreten, wie es Herzig und Dumartheray in Genf taten, und wie es Grave während der letzten sechzehn Jahre in Paris getan hat, kommt das Geld auch ein und machen sich die Druckkosten mehr oder minder bezahlt, und das in der Hauptsache durch die Pfennige der Arbeiter. Wie für alles andere sind auch für ein Blatt Männer unendlich wertvoller als Geld.

Unser Druckerraum war ein winziges Zimmer, und als Setzer gewannen wir einen Kleinrussen, der mit der sehr bescheidenen Summe von monatlich sechzig Franken zufrieden war. Solange er jeden Tag sein einfaches Mahl hatte und hin und wieder einmal im Theater eine Oper hören konnte, fragte er nach weiter nichts. »Geht's ins türkische Bad, Johann?« fragte ich ihn einmal, als ich ihn in Genf auf der Straße mit einem in braunes Papier geschlagenen Pakete unter dem Arme traf. »Nein, ziehe in eine neue Wohnung um,« erwiderte er mit seiner melodischen Stimme und seinem gewöhnlichen Lächeln.

Unglücklicherweise verstand er kein Französisch. Ich schrieb mein Manuskript unter Aufbietung meiner besten Kalligraphie, wobei ich oft mit Bedauern an die in den Schreibstunden unseres guten Ebert vergeudete Zeit dachte. Doch Johann las ein französisches Schriftstück in höchst phantastischer Weise und setzte die wunderbarsten Wörter eigener Erfindung, aber da er den Raum innehielt, so daß die Zeilen nicht aufs neue umbrochen werden mußten, so war nur etwa ein Dutzend Buchstaben in jeder Zeile zu ändern, und es ging ganz hübsch vorwärts, wir kamen mit ihm sehr gut aus, und bald hatte ich unter seiner Leitung etwas von der ›schwarzen Kunst‹ gelernt. Das Blatt war immer zur rechten Zeit fertig, so daß die Abzüge an einen Schweizer Kameraden gehen konnten, der als verantwortlicher Redakteur zeichnete, und dem wir die Bogen gewissenhaft vor dem Druck unterbreiteten, worauf einer von uns die Formen zur Druckerei karrte. Unsere ›Imprimerie Jurassienne‹ verschaffte sich durch ihre Publikationen bald einen weiten Ruf, insbesondere durch die Flugschriften, die auf Dumartherays Drängen nie mehr als vier bis fünf Pfennige kosteten. Für diese Flugschriften mußte ein ganz neuer Stil geschaffen werden. Ich muß gestehen, daß ich oft schlecht genug war, mit Neid auf die Schriftsteller zu blicken, denen zur Entwicklung ihrer Ideen Seiten in beliebiger Zahl zur Verfügung stehen, und die sich mit Talleyrands bekanntem Wort: »Ich hatte keine Zeit, kurz zu sein,« entschuldigen dürfen. Wenn es galt, die Resultate monatelanger Arbeit, beispielsweise über den Ursprung der Gesetze, zu einem Flugblatt für fünf Pfennige zu verdichten, so mußte ich noch besondere Zeit anwenden, um kurz zu sein. Aber wir schrieben für Arbeiter, die oft nicht mehr als fünf Pfennige aufwenden können. So kam es, daß unsere Nickel-Flugblätter in Zwanzigtausenden von Exemplaren verkauft wurden und in Übersetzungen auch in allen andern Ländern Verbreitung fanden. Meine damaligen Leitartikel hat Elisée Reclus später, während ich im Gefängnis war, unter dem Titel ›Paroles d'un Révolté‹, (›Worte eines Rebellen‹) herausgegeben.

 

In Frankreich unserm Blatte Verbreitung zu gewinnen, bildete immer unser Hauptziel, aber ›Révolté‹ war in Frankreich streng verboten, und die Schmuggler haben so viele gute Dinge aus der Schweiz nach Frankreich einzupaschen, daß sie sich ihr Handwerk nicht durch die Beförderung verbotener Zeitungen gefährden wollten. Einmal ging ich mit ihnen und überschritt in ihrer Gesellschaft die französische Grenze; ich lernte hierbei ihren Mut und ihre Zuverlässigkeit kennen, aber zum Einschmuggeln unseres Blattes konnte ich sie nicht bewegen. Es blieb uns nichts weiter übrig, als die Zeitung in versiegelten Umschlägen an etwa hundert Personen in Frankreich zu schicken. Für Porto berechneten wir nichts und rechneten für die Deckung unserer Sonderausgaben auf freiwillige Beiträge unserer Abonnenten, die auch niemals ausblieben. Aber oft kam uns der Gedanke, daß die französischen Behörden sich eine herrliche Gelegenheit, ›Le Révolté‹ zu ruinieren, entgehen ließen, indem sie nicht auf hundert Exemplare abonnierten und keine freiwilligen Beiträge leisteten.

Im ersten Jahre waren wir ganz auf uns selbst angewiesen, aber allmählich interessierte sich Elisée Reclus immer mehr für das Unternehmen; schließlich schloß er sich uns völlig an und verlieh dem Blatte nach meiner Verhaftung mehr Leben als je. Reclus hatte mich eingeladen, ihm bei der Ausarbeitung desjenigen Bandes seiner monumentalen Geographie, der die asiatischen Besitzungen Rußlands behandelt, beizustehen. Er war selbst des Russischen mächtig, dachte aber, ich könnte ihm vermöge meiner auf eigener Anschauung beruhenden Kenntnis Sibiriens behilflich sein, und da die Gesundheit meiner Frau angegriffen war und sie auf ärztliche Anordnung Genf mit seinen kalten Wintern sofort verlassen sollte, so gingen wir im ersten Frühjahr 1880 nach Clarens, wo Elisée Reclus damals wohnte, wir nahmen in einem kleinen Wohnhause oberhalb Clarens Wohnung, von wo wir das blaue Wasser des Sees mit der weißen Schneedecke des Dent du Midi im Hintergrunde übersehen konnten. Ein Wässerlein, das mit dem Tosen eines regengeschwellten, mächtigen Gießbachs gewaltige Felsblöcke in seinem engen Bette fortrollte, floß unter unsern Fenstern vorüber, und auf dem Abhang des gegenüberliegenden Hügels erhob sich das alte Schloß Châtelard, dessen Besitzer bis zum Aufstand der ›Burla papei‹ (der Aktenverbrenner) im Jahre 1799 von den Leibeigenen ringsherum bei Geburten, Eheschließungen und Todesfällen feudale Abgaben erhoben hatten. Hier habe ich unter dem Beistande meiner Frau, mit der ich jedes Ereignis und jeden Aufsatz vor der Niederschrift besprach, und die alles, was ich schrieb, einer strengen literarischen Kritik unterzog, meine besten Artikel für ›Le Révolté‹ verfaßt, darunter auch den Aufruf ›An die Jungen‹, der in Hunderttausenden von Exemplaren in allen Sprachen verbreitet wurde. In der Tat habe ich hier fast für alles, was ich später schrieb, die Grundlage geschaffen. Verkehr mit gebildeten Männern ähnlicher Denkungsart, das ist es, was uns anarchistischen Schriftstellern, welche die Verfolgung über alle Welt zerstreut, vielleicht mehr als alles andere fehlt. Diesen Verkehr hatte ich in Clarens mit Elisée Reclus und Lefrançais, und dabei stand ich immer noch in ununterbrochener Verbindung mit Arbeitern; und obwohl ich für die geographische Arbeit viel zu tun hatte, konnte ich doch auch für die anarchistische Propaganda mehr als sonst leisten.

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