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Ein Jahr in London. – Die ersten Spuren des wiedererwachenden sozialistischen Geistes in England. – Uebersiedlung nach Thonon. – Spitzeltum. – Ignatiews Kompromiß mit den Terroristen. – Frankreich in den Jahren 1881 und 82. –. Elend unter den Lyoner Webern. – Explosion in einem Lyoner Café. – Meine Verhaftung und Verurteilung.
Sobald meine Frau im Oktober oder November l881 ihre Baccalaureatsprüfung bestanden hatte, zogen wir von Thonon nach London, wo wir fast zwölf Monate blieben. Wenige Jahre trennen uns von jener Zeit, und doch kann ich sagen, daß das geistige Leben Londons und Englands überhaupt damals ein ganz anderes war, als es sich bald nachher entwickelt hat. Bekanntlich stand England in den vierziger Jahren an der Spitze der sozialistischen Bewegung Europas, aber in der folgenden Reaktionsperiode stockte diese große Bewegung, welche die arbeitenden Klassen so tief erregte und in deren Verlaufe bereits alles, das sich jetzt als wissenschaftlicher oder anarchistischer Sozialismus darbietet, ausgesprochen worden ist. Davon wußte man in England wie auf dem Kontinent nichts mehr, und das von französischen Schriftstellern sogenannte dritte Erwachen des Proletariats war in Britannien noch nicht eingetreten. Die Arbeiten der landwirtschaftlichen Kommission von 1871, die Propaganda unter den landwirtschaftlichen Arbeitern und die noch weiter zurückreichenden Bestrebungen der christlichen Sozialisten hatten sicher zur Vorbereitung beigetragen, aber noch deutete nichts auf den mächtigen Ausbruch sozialistischen Gefühls, der in England auf die Veröffentlichung von Henry Georges ›Progreß and Poverty‹ (Fortschritt und Armut) folgte.
Das Jahr, das ich damals in London verlebte, war in Wahrheit ein Jahr der Verbannung. Ein Mann mit fortgeschrittenen sozialistischen Ansichten fand dort keine Atmosphäre zum Atmen. Nicht ein Zeichen der lebhaften sozialistischen Bewegung, die ich bei meiner Rückkehr im Jahre 1886 so reich entwickelt fand, ließ sich entdecken. Noch hörte man nichts von Burns, Champion, Hardie und den anderen Arbeiterführern, Morris hatte sich noch nicht zum Sozialisten erklärt, und die Trade Unions, die sich in London nur auf wenige bevorzugte Gewerke beschränkten, waren antisozialistisch. Die einzigen tätigen und ausgesprochenen Vertreter des Sozialismus waren Herr und Frau Hyndman, um die sich nur ein Häuflein Arbeiter gruppierte. Sie hielten im Herbst 1881 einen Kongreß ab, und wir sagten im Scherz – es kam aber der Wahrheit sehr nahe – Frau Hyndman habe den ganzen Kongreß bei sich empfangen. Zweifellos ging in den Köpfen eine radikale, mehr oder minder sozialistische Bewegung vor sich, aber sie bekundete sich nicht frei und offen. Noch merkte man nichts von den gebildeten Männern und Frauen, die vier Jahre später in beträchtlicher Zahl im öffentlichen Leben hervortraten, sich zwar nicht selbst zum Sozialismus bekannten, aber sich an den verschiedensten auf die Wohlfahrt oder die Bildung der Massen abzielenden Bewegungen beteiligten und die jetzt fast in jeder Stadt Englands und Schottlands einen ganz neuen, reformatorischen Geist geschaffen haben. Sie existierten natürlich, sie dachten und sprachen, alle Elemente für eine ausgedehnte Bewegung waren vorhanden, aber da sie keinen einzigen Mittelpunkt zur Sammlung fanden, wie ihn nachher die sozialistischen Gruppen bildeten, so verloren sie sich in der Menge; einer wußte nichts vom andern, oder sie wurden sich nicht einmal ihrer selbst bewußt.
Tschaykowsky hielt sich damals in London auf, und wir begannen wie in vergangenen Jahren eine sozialistische Propaganda unter den Arbeitern. Unter Mitwirkung einiger englischer Arbeiter, deren Bekanntschaft wir auf dem Kongreß von 1881 gemacht hatten, oder die sich wegen der Verfolgungen Johann Mosts zu den Sozialisten hingezogen fühlten, besuchten wir die Versammlungen der Radikalen und brachten dort die russischen Verhältnisse, die Bewegung unserer Jugend ›zum Volke‹ und den Sozialismus überhaupt zur Sprache. Unsere Zuhörerzahl war lächerlich gering und bestand selten aus mehr als zwölf Personen. Gelegentlich erhob sich wohl unter den Zuhörern ein graubärtiger Chartist und erklärte uns, alles, was wir da redeten, sei schon vierzig Jahre vorher gesagt worden und habe damals bei Tausenden von Arbeitern begeisterte Aufnahme gefunden, aber das sei jetzt alles aus und tot, und es bestehe keine Hoffnung, es wieder aufleben zu lassen.
Herr Hyndman hatte soeben seine vorzügliche Darstellung des Marxistischen Sozialismus unter dem Titel ›England for all‹ veröffentlicht, und ich besinne mich, wie ich ihm einmal im Sommer 1882 den ernstlichen Rat gab, ein sozialistisches Blatt zu gründen. Ich erzählte ihm, mit wie geringen Mitteln wir an die Herausgabe von ›Le Révolté‹ gegangen seien, und sagte ihm einen sichern Erfolg voraus, wenn er den Versuch machen wollte. Aber so wenig versprechend war die allgemeine Lage, daß sogar er meinte, das Unternehmen würde zweifellos fehlschlagen, wenn er nicht von vornherein über die Mittel zur Deckung aller Kosten verfügte. Vielleicht hatte er recht; als er aber noch nicht drei Jahre später die ›Justice‹ erscheinen ließ, fand er bei den Arbeitern die freundlichste Unterstützung; 1886 gab es schon drei Sozialistenblätter, und der sozialdemokratische Bund war eine einflußreiche Körperschaft.
Im Sommer 1882 redete ich in gebrochenem Englisch vor den Bergwerksarbeitern in Durham auf ihrer Jahresversammlung; ich hielt in Newcastle, Glasgow und Edinburgh Vorträge über die Bewegung in Rußland und fand begeisterte Aufnahme, so daß die Arbeiter nach der Versammlung auf der Straße herzliche Hochrufe auf die Nihilisten ausbrachten. Aber wir fühlten uns beide, meine Frau und ich, so einsam in London, und unsere Versuche, eine sozialistische Bewegung in England wachzurufen, schienen so hoffnungslos, daß wir uns im Herbst 1882 wieder zur Übersiedelung nach Frankreich entschlossen. Wir zweifelten nicht, daß ich in Frankreich bald verhaftet werden würde, aber wir sagten oft zu einander: »Besser ein französisches Gefängnis als dieses Grab.«
Leute, die gern von der Langsamkeit der Entwicklung von innen heraus reden, sollten die Ansichten des Sozialismus in England studieren. Die Entwicklung von innen heraus ist naturgemäß langsam, aber ihr Gang ist nicht gleichmäßig, Perioden der Ruhe werden von Zeiten plötzlichen Fortschritts abgelöst.
Wir ließen uns noch einmal in Thonon nieder, wo wir bei unserer früheren Wirtin, Frau Sansaux, Wohnung nahmen. Ein Bruder meiner Frau, der sich im letzten Stadium der Schwindsucht befand und nach der Schweiz gekommen war, zog zu uns.
Niemals habe ich russische Spitzel in solcher Zahl zu sehen bekommen, als während meines zweimonatigen Aufenthalts in Thonon. Gleich als wir die Wohnung gemietet hatten, mietete eine verdächtig aussehende Person, die sich für einen Engländer ausgab, den andern Teil des Hauses. Schwärme, richtige Schwärme von russischen Spitzeln belagerten meine Wohnung und suchten unter allen möglichen Vorwänden Einlaß zu erlangen, oder sie trieben sich einfach zu zweien, dreien oder vieren vor dem Hause herum. Ich kann mir denken, was für wunderbare Berichte sie geschrieben haben. Denn ein Spion muß Berichte einsenden. Wollte er nur sagen, er habe eine Woche lang auf der Straße gestanden, ohne etwas Geheimnisvolles zu bemerken, so würde er bald auf Halbsold gesetzt oder entlassen werden.
Damals war für die russische geheime Polizei das goldene Zeitalter angebrochen. Ignatiews Politik hatte Früchte getragen. Es gab zwei oder drei verschiedene miteinander rivalisierende Polizeikörper, von denen jeder über unbeschränkte Geldmittel verfügte und die verwegensten Ränke spann. So denunzierte Oberst Sudeikin, der Chef einer dieser Abteilungen – im Einverständnis mit einem gewissen Degajew, der ihn bei alledem schließlich tötete – Ignatiews Agenten bei den Revolutionären und bot den Terroristen geflissentlich Gelegenheit, den Minister des Innern, den Grafen Tolstoi und den Großfürsten Wladimir aus dem Wege zu räumen, indem er nach eigenem Geständnis darauf rechnete, dann selbst zum Minister des Innern mit diktatorischer Gewalt ernannt zu werden und den Zaren gänzlich in seine Hände zu bekommen. Diese Tätigkeit der russischen Polizei gipfelte späterhin in der Entführung des Fürsten Alexander aus Bulgarien.
Auch die französische Polizei war hinter mir her; die Frage: »Was treibt er jetzt in Thonon?« peinigte sie. Ich gab weiter ›Le Révolté‹ heraus und schrieb Aufsätze für die ›Encyclopaedia Britannica‹ und das ›Newcastle Chronicle‹. Aber was ließ sich darüber groß berichten? Eines Tages erschien der Ortsgendarm bei meiner Hausbesitzerin. Er hatte von der Straße das Rasseln einer Maschine gehört und wünschte in seinem Berichte mitzuteilen, ich hätte im Hause eine geheime Presse. So kam er in meiner Abwesenheit und verlangte, man solle ihm die Presse zeigen. Die Hauswirtin erwiderte, es wäre keine da, und sprach die Vermutung aus, der Gendarm habe vielleicht das Geräusch ihrer Nähmaschine vernommen. Er wollte aber eine so prosaische Erklärung nicht gelten lassen, und Frau Sansaux mußte wirklich die Maschine in Bewegung setzen, während er drinnen und draußen horchte, um sich zu überzeugen, daß das Rasseln das gleiche ist.
»Was tut er den ganzen Tag?« fragte er die Frau.
»Er schreibt.«
»Er kann nicht immer schreiben.«
»Mittags sägt er Holz im Garten, und nachmittags zwischen vier und fünf geht er regelmäßig aus.« Es war im November.
»Ah, da haben wir's! Wenn's dämmert?« Und er notierte sich: »Geht nur aus, wenn es dunkel wird.«
Damals konnte ich mir diese besondere Aufmerksamkeit der russischen Spitzel nicht recht erklären; sie muß aber irgendwie mit dem Folgenden zusammenhängen. Als Ignatiew zum Ministerpräsidenten ernannt war, schmiedete er auf den Rat Andrieux' einen neuen Plan. Er überschwemmte die Schweiz mit seinen Agenten, und einer von ihnen ließ ein neues Blatt erscheinen, das in bedingter Weise für die Ausdehnung der provinzialen Selbstverwaltung in Rußland eintrat, aber als Hauptziel die Bekämpfung der Revolutionäre verfolgte und unter seiner Flagge diejenigen Flüchtlinge sammeln wollte, die dem Terrorismus abgeneigt waren. Zweifellos war dies ein Mittel, eine Spaltung herbeizuführen. Als dann fast sämtliche Mitglieder des Exekutiv-Komitees in Rußland verhaftet waren und ein paar sich nach Paris geflüchtet hatten, schickte Ignatiew einen Agenten nach Paris und bot einen Waffenstillstand an. Er versprach, es sollten keine weiteren Hinrichtungen wegen Teilnahme an den unter Alexanders II. Regierung angezettelten Verschwörungen erfolgen, auch wenn die Betreffenden neuerdings der Regierung in die Hände fallen würden; Tschernischewsky sollte Sibirien verlassen dürfen, und ein Ausschuß zur Revision aller Fälle, in denen ohne gerichtliches Verfahren Verbannung nach Sibirien verfügt worden war, eingesetzt werden. Auf der andern Seite verlangte er vom Exekutiv-Komitee das Versprechen, gegen das Leben des Zaren keinen Anschlag zu unternehmen, bis die Krönung vorüber wäre. Vielleicht war auch von den Reformen zu Gunsten der Bauern, die Alexander III. plante, die Rede. Die Vereinbarung kam in Paris zum Abschluß und wurde auf beiden Seiten innegehalten. Die Terroristen sahen von weiteren Feindseligkeiten ab. Hinrichtungen wegen Beteiligung an früheren Aufständen fanden nicht mehr statt, und die später unter dieser Anklage Verhafteten wurden in Schlüsselburg, in der Bastille Rußlands, eingekerkert, wo man fünfzehn Jahre nichts von ihnen hörte, und wo sie sich zum größten Teile noch heute befinden. Tschernischewsky kehrte aus Sibirien zurück und erhielt Astrachan als Wohnsitz angewiesen, wo er, von jeder Verbindung mit der intellektuellen Welt Rußlands abgeschnitten, bald seinen Tod fand. Ein Ausschuß reiste durch Sibirien, sprach manche Verbannten frei und setzte für die übrigen eine bestimmte Zeit der Verbannung fest. Meinen Bruder verurteilte man zu weiteren fünf Jahren.
Während ich mich in London aufhielt, es war im Jahre 1882, teilte man mir eines Tages mit, es wolle ein Mann mit mir in Unterhandlungen treten, der seiner Behauptung nach ein ›ehrlicher‹ Agent der russischen Regierung sei und dies auch beweisen könne. »Sagen Sie ihm, wenn er in mein Haus käme, würde ich ihn die Treppe hinunterwerfen,« war meine Antwort. Infolgedessen dachte Ignatiew vermutlich, der Zar sei zwar vor den Angriffen des Exekutiv-Komitees sicher, aber die Anarchisten könnten ein Attentat unternehmen, weshalb er mich aus dem Wege zu schaffen wünschte.
In den Jahren 1881 und 1882 hatte die anarchistische Bewegung in Frankreich beträchtlich an Ausdehnung gewonnen. Allgemein galt der französische Geist für einen Feind des Kommunismus, und es wurde daher dort innerhalb der Internationalen Arbeiterassociation der Kollektivismus gepredigt. Unter Kollektivismus verstand man damals den gemeinsamen Besitz aller Produktionsmittel, wobei es jeder einzelnen Gruppe überlassen blieb, die Frage des Güterverbrauches nach individualistischen oder kommunistischen Grundsätzen zu regeln. In Wahrheit widerstrebte der französische Geist nur dem mönchischen Kommunismus, dem ›Phalanstère‹ der alten Schule. Denn als sich der Jurabund auf dem Kongreß von 1880 ohne Scheu als anarchistisch-kommunistisch, das heißt, für den freien Kommunismus, erklärte, gewann der Anarchismus in weiten Kreisen Frankreichs an Boden. Unser Blatt fand dort Verbreitung, es entstand ein lebhafter Briefwechsel mit französischen Handwerkern, und mit großer Schnelligkeit entwickelte sich eine bedeutende anarchistische Bewegung in Paris wie in einigen Provinzen, insbesondere in der Gegend von Lyon. Als mich eine Reise von Thonon nach London durch Frankreich führte, besuchte ich Lyon, St. Etienne und Vienne und hielt in diesen Städten Vorträge; hierbei fand ich, daß die Arbeiter in beträchtlicher Zahl zur Annahme unserer Ideen bereit waren.
Am Ende des Jahres 1882 herrschte in der Lyoner Gegend eine schreckliche Krisis. Die Seidenindustrie stockte fast völlig, und das Elend war unter den Webern so groß, daß die Arbeiterkinder jeden Morgen in Haufen an den Kasernentoren standen, wo die Soldaten, was sie an Brot und Suppe missen konnten, hergaben. Das war, nebenbei bemerkt, der erste Anfang der Popularität des Generals Boulanger, der diese Austeilung von Nahrungsmitteln gestattet hatte. Wie die Weber befanden sich auch die Kohlenarbeiter jener Gegend in sehr bedrängter Lage.
Daß es dort durchaus nicht an Zündstoff fehlte, war mir bekannt, doch hatte ich während meines elfmonatigen Aufenthaltes in London die innige Fühlung mit der französischen Bewegung verloren. Wenige Wochen nach meiner Rückkehr nach Thonon ersah ich aus den Zeitungen, daß die Kohlenarbeiter von Monceau-les-Mines aus Erbitterung über die Bedrückungen seitens der ultrakatholischen Minenbesitzer in eine Bewegung eingetreten waren. In geheimen Versammlungen erörterten sie die Frage eines allgemeinen Ausstandes. Die Steinkreuze, die auf allen Wegen um die Minen herum errichtet sind, fand man umgeworfen oder mit Dynamitpatronen, die bei den Arbeiten unter der Erde vielfach zur Anwendung kommen und oft in den Händen der Arbeiter zurückbleiben, in die Luft gesprengt. Ebenso nahm die Agitation in Lyon selbst einen heftigeren Charakter an. Die Anarchisten, die in der Stadt ziemlich zahlreich waren, ließen die opportunistischen Politiker keine Versammlung abhalten, ohne sich dabei selbst Gehör zu verschaffen, wobei sie, wenn alle andern Mittel versagten, schließlich die Plattform im Sturm zu nehmen pflegten. Sie beanspruchten in ihren Resolutionen die Bergwerke und alle Produktionsmittel, sowie die Wohnhäuser als Eigentum des Volkes – Resolutionen, die zum Entsetzen der Mittelklassen begeisterte Annahme fanden.
Von Tag zu Tag steigerte sich die Erregung der Arbeiter gegen ihren opportunistischen Stadtrat und die politischen Führer, wie auch gegen die Presse, welche die Krisis in ihrer ganzen Schärfe aufdeckte, aber nichts zur Abhilfe gegen das weitverbreitete Elend tat. Wie es unter solchen Umständen zu geschehen pflegt, wandte sich die Wut der Armen ganz besonders gegen die Stätten des Vergnügens und der Ausschweifung, die in Zeiten der Not und des Elends um so mehr in die Augen fallen, als sie für den Arbeiter die Selbstsucht und Zügellosigkeit der reicheren Klassen verkörpern. Vor allem verhaßt war bei den Arbeitern das Café unter dem Théâtre Bellecour, das die ganze Nacht offen blieb und wo man frühmorgens Journalisten und Politiker in Gesellschaft von Freudenmädchen sich vergnügen und prassen sehen konnte. Es fand keine Arbeiterversammlung statt, in der nicht Drohungen gegen dieses Café laut geworden wären, und in einer Nacht wurde wirklich darin von unbekannter Hand eine Dynamitpatrone angezündet. Ein zufällig anwesender sozialistischer Arbeiter sprang herzu, um die brennende Luntenschnur auszulöschen, und fand seinen Tod, während nur wenige von den das Café besuchenden Politikern leichte Verwundungen erhielten. Am nächsten Tage explodierte eine Patrone vor der Tür einer Aushebungsstelle, und es hieß, die Anarchisten wollten das mächtige Standbild der Jungfrau Maria, das einen der Hügel im Umkreis der Stadt krönt, in die Luft sprengen. Nur wer in Lyon oder in dessen Nähe gelebt hat, kann sich eine Vorstellung davon machen, in welchem Maße die Bevölkerung und die Schulen noch in den Händen des katholischen Klerus sind, und vermag den Haß zu verstehen, den der männliche Teil der Bevölkerung dem Klerus entgegenbringt.
Jetzt wurden die besitzenden Klassen in Lyon von einer Panik ergriffen. Man verhaftete einige sechzig Anarchisten – lauter Arbeiter mit Ausnahme eines Vertreters des Mittelstandes, Emile Gautier, der in der Gegend Vorträge hielt. Zugleich forderten die Lyoner Blätter die Regierung auf, mich zu verhaften, indem sie mich als den Führer der Agitation hinstellten, der zu diesem Zwecke von England herübergekommen sei. Russische Spitzel zeigten sich wieder in größerer Zahl in dem kleinen Orte. Fast täglich erhielt ich Briefe, offenbar von Lockspitzeln der internationalen Polizei, in denen von einem Dynamitanschlag die Rede war oder in geheimnisvoller Weise an mich gerichtete Sendungen von Dynamit angekündigt wurden. Ich konnte eine ganze Sammlung solcher Schreiben anlegen, die ich alle mit der Aufschrift ›Internationale Polizei‹ versah, und die später bei der Haussuchung der Polizei in die Hände fielen. Doch wagte man vor Gericht keinen Gebrauch davon zu machen: ebensowenig hat man sie mir wieder zurückgegeben. Im Dezember wurde das Haus, wo ich wohnte, einer polizeilichen Durchsuchung nach russischer Manier unterworfen, auch meine Frau, die sich auf der Reise nach Genf befand, wurde in Thonon festgenommen und ebenfalls untersucht. Doch fand man natürlich nichts, das mich oder sonst jemand hätte kompromittieren können.
Zehn Tage vergingen, während deren mich nichts an einer etwa beabsichtigten Abreise gehindert hätte. Mehrfach erhielt ich Briefe, in denen man mir zu freiwilliger Entfernung riet – darunter einen von einem unbekannten russischen Freunde, vielleicht einem Mitgliede des diplomatischen Korps, der mich zu kennen schien und mir schrieb, ich müßte das Land sofort verlassen, sonst würde ich das erste Opfer eines Auslieferungsvertrages sein, der soeben zwischen Frankreich und Rußland abgeschlossen werden sollte. Ich blieb, wo ich war; und als die Times in einem Telegramm mitteilte, ich sei aus Thonon verschwunden, schrieb ich an das Blatt einen Brief, in dem ich meine Adresse angab und erklärte, daß ich nach der Verhaftung so vieler von meinen Freunden nicht die Absicht hätte, den Ort zu verlassen.
In der Nacht des 21. Dezember verschied mein Schwager in meinen Armen. Wohl wußten wir, daß seine Krankheit unheilbar sei, aber es ist doch fürchterlich, Zeuge davon zu sein, wie ein junges Leben nach tapferem Todeskampfe erlischt. Wir waren beide völlig gebrochen. Als drei oder vier Stunden später der trübe Wintermorgen dämmerte, kamen Gendarmen in das Haus, um mich zu verhaften. Da ich sah, in welchem Zustande sich meine Frau befand, bat ich, mich bis nach dem Begräbnis bei ihr zu lassen, und versprach auf mein Ehrenwort, mich zu einer bestimmten Stunde am Gefängnistor einzufinden. Jedoch man lehnte es ab und brachte mich noch in derselben Nacht nach Lyon. Elisée Reclus kam auf telegraphische Benachrichtigung sofort und erwies meiner Frau alle Freundlichkeit seines großmütigen Herzens; auch aus Genf stellten sich Freunde ein, und obwohl die Bestattung – zum erstenmal in dem kleinen Orte – ohne jeden kirchlichen Beistand vor sich ging, so beteiligte sich doch die halbe Bevölkerung an der Begräbnisfeier, um meiner Frau zu zeigen, daß die Herzen der ärmeren Klassen und der einfachen Savoyer Bauern mit uns und nicht mit ihrer Regierung seien. Auch an meinem Prozeß nahmen die Bauern herzlichen Anteil und kamen täglich aus den Bergdörfern, um in den Tagesblättern darüber nachzulesen.
Tief ergriffen fühlte ich mich auch über das Eintreffen eines mir befreundeten Engländers in Lyon. Er kam im Auftrage eines wohlbekannten, im politischen Leben Englands hochgeschätzten Mannes, in dessen Familie ich 1882 viele glücklichen Stunden verlebt hatte, und überbrachte eine beträchtliche Geldsumme, die als Bürgschaft für mich dienen sollte. Zugleich ließ mir mein Londoner Freund sagen, ich sollte mich durch die Bürgschaft durchaus nicht abhalten lassen, Frankreich auf der Stelle den Rücken zu kehren. Durch irgendeinen geheimen Einfluß setzte es der Abgesandte durch, mich offen zu sprechen – nicht in dem doppelt vergitterten eisernen Käfig, in dem mir Zusammenkünfte mit meiner Frau gestattet wurden. Meine Weigerung, das mir gemachte Anerbieten anzunehmen, ging dem Überbringer nicht weniger nahe, als mir dieses rührende Freundschaftszeichen eines Mannes, den ich mit seiner ganz außerordentlichen Frau schon so hoch schätzen gelernt hatte.
Die französische Regierung wünschte eine Gerichtsverhandlung in großem Stile, mit der sie auf die Bevölkerung Eindruck machen könnte, aber gegen die verhafteten Anarchisten wegen der Explosionen Anklage zu erheben, erwies sich als ganz untunlich. Man hätte uns dann vor ein Geschworenengericht stellen müssen, und dies würde uns höchstwahrscheinlich freigesprochen haben. Die Regierung verfolgte daher den machiavellistischen Plan, die Anklage auf unsere Zugehörigkeit zur Internationalen Arbeiterassociation zu stützen. Es wurde nämlich in Frankreich unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Kommune ein Gesetz angenommen, demgemäß man wegen der Mitgliedschaft bei der Association vor einem einfachen Polizeigericht belangt werden konnte. Als Höchstmaß der Strafe waren fünf Jahre Gefängnis festgesetzt, und es ließ sich von einem Polizeigericht mit Sicherheit erwarten, es würde in seinem Urteil den Wünschen der Regierung entsprechen.
Der Prozeß begann in den ersten Tagen des Januar 1883 vor dem Lyoner Polizeigericht und dauerte etwa zwei Wochen. An sich war die Anklage eigentlich lächerlich, da jeder wußte, daß keiner von den Lyoner Arbeitern je zur Internationale gehört hatte, und sie erwies sich auch, wie man aus der folgenden Episode ersieht, als ganz verfehlt. Der einzige Zeuge für die Anklage war der Chef der Lyoner Geheimpolizei, ein ältlicher Mann, den man vor Gericht mit größter Achtung behandelte. Sein Bericht war, muß ich sagen, was die Tatsachen betrifft, völlig zutreffend. Er sagte aus, die Anarchisten hätten Einfluß auf die Bevölkerung gewonnen und insbesondere opportunistische Versammlungen dadurch unmöglich gemacht, daß sie bei denselben das Wort ergriffen, kommunistische und anarchistische Lehren verkündeten und die Zuhörer mit sich fortrissen. Da ich sah, daß er so weit in seinen Aussagen zuverlässig gewesen war, wagte ich die Frage an ihn zu richten: »Haben Sie jemals in Lyon von der Internationalen Arbeiterassociation reden hören?«
»Niemals,« erwiderte er ärgerlich.
»Als ich von dem Londoner Kongresse des Jahres 1881 zurückkam und nach Kräften der Internationale in Frankreich aufs neue den Boden zu bereiten suchte, hatte ich da Erfolg?«
»Nein, die Arbeiter fanden, daß die Internationale nicht revolutionär genug sei.«
»Danke Ihnen,« sagte ich und fügte, zum Staatsanwalt gewendet, hinzu: »Da haben Sie Ihren ganzen Bau durch Ihren eigenen Zeugen über den Haufen geworfen!«
Nichtsdestoweniger wurden wir sämtlich wegen unserer Zugehörigkeit zur Internationale verurteilt. Vier von uns erhielten die Höchststrafe, fünf Jahre Gefängnis, und mußten außerdem je zweitausend Mark zahlen, den übrigen sprach man ein bis vier Jahre Gefängnis zu. In der Tat machten unsere Ankläger gar keinen Versuch, betreffs der Internationale einen Beweis zu führen. Das schien man ganz vergessen zu haben. Man forderte uns nur auf, über den Anarchismus zu reden, was wir auch gern taten. Von den Explosionen war man ganz still, und als einer oder zwei von unseren Lyoner Genossen diesen Punkt aufklären wollten, erklärte man ihnen geradezu, sie seien nicht darum angeklagt, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zur Internationale, deren einziges Mitglied ich war.
Bei derartigen Prozessen pflegt es gewöhnlich nicht an einem komischen Zwischenfall zu fehlen, und diesmal bot ein Brief von mir den Anlaß dazu. Die ganze Anklage schwebte eigentlich in der Luft, denn man hatte trotz der zu Dutzenden ausgeführten Haussuchungen nichts als zwei Briefe von mir gefunden, aus denen nun die Anklage das Menschenmögliche zu machen suchte. Der eine richtete sich an einen verzweifelten und entmutigten französischen Arbeiter, zu dem ich in meinem Schreiben von der großen Zeit, in der wir lebten, von den kommenden gewaltigen Veränderungen, von dem Entstehen und der Ausbreitung neuer Ideen und ähnlichem sprach. Der Brief war nicht lang, und der Staatsanwalt schlug auch wenig Kapital daraus. Dagegen faßte der andere Brief zwölf Seiten: auch er war an einen französischen Freund, einen jungen Schuhmacher, geschrieben. Dieser verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Anfertigen von Schuhwerk für ein Geschäft. Bei seiner Arbeit, die er daheim verrichtete, hatte er zur Linken einen kleinen eisernen Ofen, auf dem er sich selbst sein tägliches Mahl kochte, und zur Rechten eine schmale Bank, auf der er, ohne seinen niedrigen Schusterschemel zu verlassen, lange Briefe an seine Kameraden schrieb. Nachdem er gerade so viel an seinen Schuhen gearbeitet hatte, daß er von dem Verdienst seinen äußerst bescheidenen Lebensunterhalt bestreiten und noch ein paar Franken an seine alte Mutter auf dem Lande schicken konnte, schrieb er stundenlang Briefe, in denen er die theoretischen Grundsätze des Anarchismus in bewundernswerter Weise mit gesundem Urteil und mit Scharfsinn entwickelte. Jetzt ist er ein in Frankreich wohlbekannter und wegen der Lauterkeit seines Charakters allgemein geachteter Schriftsteller. Damals brachte er es fertig, acht oder zwölf Seiten Briefpapier zu beschreiben, ohne einen einzigen Punkt oder auch nur ein Komma anzuwenden. Darum setzte ich mich einmal hin und suchte ihm klar zu machen, wie wir unsere Gedanken durch eine Reihe von längeren oder kürzeren Satzperioden zum Ausdruck bringen, die durch Punkte voneinander zu trennen sind, wie dann die einzelnen Sätze innerhalb der Perioden durch Semikolon, oder – minder scharf – durch Komma geschieden werden müssen. Ich zeigte ihm, wie sehr seine Aufsätze durch diese einfache Maßregel gewinnen würden.
Der Brief wurde vom Ankläger vor Gericht verlesen und verleitete ihn zu einem höchst pathetischen Kommentar. »Meine Herren, Sie haben diesen Brief gehört,« begann er, zum Gerichtshof gewendet, seine Rede. »Sie haben ihn vernommen. Auf den ersten Blick scheint nichts Verfängliches darin zu sein. Er erteilt einem Arbeiter Unterricht in der Grammatik … Aber« … und hier zitterte seine Stimme vor tiefer Erregung – »dies geschah nicht, um einem Arbeiter Kenntnisse beizubringen, die er sich in der Schule anzueignen wahrscheinlich aus Faulheit versäumt hatte. Es geschah nicht, um ihn in den Stand zu setzen, sein Brot ehrlich zu verdienen … Nein, meine Herren … er lehrte es ihn nur, um ihn mit Haß gegen unsere erhabenen und herrlichen Einrichtungen zu erfüllen, um ihm nur um so besser das Gift des Anarchismus einzuflößen, um ihn nur zu einem furchtbaren Feinde der Gesellschaft zu machen … Verflucht sei der Tag, an dem Krapotkin seinen Fuß auf Frankreichs Boden gesetzt hat!« schloß er mit wunderbarem Pathos.
Wir mußten während der ganzen Rede lachen wie Schuljungen, und die Richter warfen ihm Blicke zu, als wollten sie sagen, er tue in seiner Rolle des Guten zu viel. Er schien aber nichts zu merken und sprach, von seiner Beredsamkeit hingerissen, mit immer theatralischeren Bewegungen und Tönen weiter, wahrhaftig, er tat sein Bestes, sich eine Belohnung von der russischen Regierung zu verdienen.
Kurze Zeit nach der Verurteilung wurde der Vorsitzende zum Landgerichtsrat befördert. Dem Staatsanwalt und einem andern beteiligten Beamten verlieh die russische Regierung – man sollte es kaum glauben – das Sankt-Anna-Kreuz und die Republik gestattete die Annahme des Ordens! So hatte das berühmte Bündnis mit Rußland seinen Ursprung in dem Lyoner Prozeß.
Dieser Prozeß, während dessen zweiwöchiger Dauer die glänzendsten anarchistischen Ansprachen, die nachher alle Zeitungen brachten, von Rednern ersten Ranges, wie dem Arbeiter Bernard und Emile Gautier, gehalten wurden, und bei dem die Angeklagten unentwegt fortwährend unsere Lehren laut verkündeten, dieser Prozeß trug mächtig zur Verbreitung anarchistischer Ideen in Frankreich bei, und ihm ist auch vielleicht in gewissem Maße ein Wiederaufleben des Sozialismus in andern Ländern zu verdanken. Das Urteil selbst war nach dem Ergebnis der Verhandlungen so wenig gerechtfertigt, daß die französische Presse – mit Ausnahme der der Regierung nahestehenden Blätter – die Richter offen deshalb tadelte. Selbst das gemäßigte ›Journal des Economistes‹ war mit der Verurteilung unzufrieden, die man nach den Gerichtsverhandlungen in keiner Weise habe voraussehen können. In der öffentlichen Meinung hatten wir in dem Kampfe zwischen den Anklägern und uns den Sieg davongetragen. In der Kammer wurde sofort ein Amnestieantrag eingebracht, der etwa hundert Stimmen für sich gewann. Er kehrte darauf jedes Jahr wieder und vereinigte immer mehr Stimmen auf sich, bis unsere Begnadigung erfolgte.
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