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Lord Harrlington stand am Bug des ›Amor‹ und blickte unverwandt hinaus in die Nacht. Noch vor einer halben Stunde hatte er die ›Vesta‹ sehen können, aber als bei Anbruch der Dunkelheit keine Seitenlichter aufgesteckt waren, da dauerte es nicht lange, und der weiße Schiffsrumpf war seinen Augen entschwunden.
Doch gab er seinen Posten nicht sogleich auf; erst nach einer Stunde verließ er ihn und entgegnete den Herren, welche ihr Bedauern darüber aussprachen, wieder einmal die ›Vesta‹ verloren zu haben, ebenso sicher wie schon oft zuvor:
»Sorgen Sie sich nicht, wir werden sie wiederfinden.«
»Haben Sie durch Ihre geheimnisvolle Verbindung den nächsten Hafen wiederum erfahren?«
»Ja, ich werde ihn erst auf der Karte suchen und dann Ihnen den Namen mitteilen,«
Die Herren wußten, daß Lord Harrlington stets von einer Dame benachrichtigt wurde, wohin die ›Vesta‹ fuhr, aber nicht, wie er die Nachricht erhielt, noch wer die Verräterin sei. Uebrigens wurde auch niemals darüber gesprochen.
Ehe Lord Harrlington das Kartenhaus aufsuchte, wurde er von Williams beiseite gezogen. »Ich wollte Ihnen nur sagen,« redete ihn der immer zu Spaßen aufgelegte Engländer leise an, »das Guanosaca nahe bei Arauka liegt und dieses etwa auf dem 38. Grade an der Westküste von Südamerika.«
Lord Harrlington lächelte.
»Sie haben also gemerkt, aus welche Weise mir die Nachricht signalisiert worden ist. Nun, so bitte ich Sie nur, nicht weiter darüber zu sprechen.«
»Es soll mein Geheimnis bleiben,« versicherte Charles.
Harrlington trat ins Kartenhaus, um die Lage des bezeichneten Hafens genau zu bestimmen. Er fand in dem Häuschen schon John Davids, den zweiten Steuermann, in dem Hauptatlas blätternd.
Seit dem Abend, da sich zwischen beiden der unerquickliche Vorfall ereignet hatte, war Harrlington seinem vermeintlichen Nebenbuhler, der den linken Arm in der Binde trug, immer ausgewichen, als fühle er sich schuldbewußt, jetzt aber ließ sich das Zusammentreffen nicht vermeiden.
John Davids blickte auf und begegnete ruhig den auf ihn gerichteten Augen Harrlingtons.
»Wünschen Sie den Atlas?« fragte er, stand auf und wollte das Kartenhaus verlassen, als hinter ihm leise sein Name gerufen wurde.
»Davids,« sagte Lord Harrlington und trat mit vorgestreckter Hand auf ihn zu, »ich habe Sie noch um Verzeihung zu bitten.«
»Nein, das haben Sie nicht mehr nötig, denn wir haben uns schon gestern abend versöhnt,« entgegnete Davids, nahm aber trotzdem die dargebotene Hand und drückte sie.
»Ich gestehe, ich habe furchtbar unbesonnen gehandelt, wie ein Schuljunge habe ich mich durch meine Leidenschaft hinreißen lassen und mußte dann doch einsehen, wie grundlos meine ...«
»Ich bitte Sie, lassen Sie die Sache ruhen,« unterbrach ihn Davids herzlich. »Wenige hätten an ihrer Stelle anders gehandelt, ich selbst wahrscheinlich auch nicht. Daß ich mit Miß Peters eine Unterredung hatte, haben Sie erfahren, und auch, daß diese nur das Feuerwerk betraf. Was das Bild anbelangt, welches ich im Medaillon bei mir trug, so versichere ich Ihnen, daß Miß Petersen selbst keine Ahnung davon hat. Ich bin bereit, Ihnen zu erklären, was mich veranlaßte, das Bild malen und in Gold fassen zu lassen.«
»Nein, nein, Davids,« rief Harrlington, »lassen wir die Sache nun vollständig ruhen! Ich muß mir immer wieder zürnen, daß ich in meinem besten Freunde einen Feind gefunden zu haben glaubte. Ich nehme keine weitere Erklärung an, ich bin mit Ihrem Wort vollständig zufrieden.«
Die Sache war wirklich damit zwischen beiden abgemacht, nie wurde ihrer wieder Erwähnung getan, ja, die Folge des kurzen Streites war sogar, daß das Verhältnis zwischen beiden intimer wurde und Davids Harrlington gegenüber etwas von seiner sonstigen Verschlossenheit verlor.
Am nächsten Morgen war die ›Vesta‹ nicht mehr zu sehen, der ›Amor‹ begann zu suchen, d. h., mit Hilfe der Schraube große Bogen zu fahren. Es verging Tag um Tag, aber die ›Vesta‹ war und blieb verschwunden.
Hatten die Herren den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit nicht vor sich, so begannen sie sich meist bald zu langweilen, denn den an Zerstreuungen gewöhnten jungen Herren gefiel es durchaus nicht, immer nur zu lesen, zu musizieren oder zu plaudern; sie dachten oft mit Sehnsucht an die Annehmlichkeiten, die sie verlassen hatten, um der ›Vesta‹ zu folgen, nur so lange diese oder die Damen in Sicht waren, tauchten derartige Gedanken nicht auf.
Trat eine solche niedergeschlagene Stimmung ein, dann war es Sir Charles Williams, welcher im Gegensatz zu seinen Freunden immer lustiger wurde, jede Gelegenheit benutzte, um sich und die Genossen zu erheitern, weil er es nun einmal sowieso abgeschworen hatte, grundlos den Kopf sinken zu lassen, und dann auch, weil er es geradezu als seine Pflicht betrachtete, jede üble Laune unter seinen Freunden durch seine witzigen Einfälle zu verscheuchen.
Einen großen Teil des Tages verbrachte er in der Kabine Chaushilms, der zwar langsam, aber sicher der Genesung entgegenschritt, las diesem vor und blieb auch des Abends bei ihm, bis der Kranke eingeschlafen war, weil derselbe während des Abends oft vom Fieber heimgesucht wurde. Die übrige Zeit verweilte Charles nur selten in seiner Kabine, um zu lesen, sondern trieb sich an Deck herum, scherzte mit seinen Freunden, erheiterte sie durch die unerschöpfliche Fülle seines Humors oder ging auch einmal in das Zwischendeck zu den Heizern, um bei ihnen, wie er sagte, Musterung abzuhalten.
Arbeit in der Takelage gab es fast gar nicht; der Kurs war direkt nach Guanosaca, und da der Wind immer gleichmäßig von der Seite kam, so blieben die Segel mit wenigen Ausnahmen so stehen, wie sie am ersten Tage gestanden, da Harrlington den Kurs angegeben.
Der ›Amor‹ war erst einige Tage von Mgwana unterwegs, als Charles eines Morgens, wie er eben seine Kabine verließ, in dem nebenanliegenden Aufenthaltsort der Heizer ein schreckliches Zetergeschrei vernahm.
Schnell sprang er durch den Gang, stieß die Verbindungstür auf und sah, wie ein großer, starker Heizer einen kleineren Kameraden nach allen Regeln der Kunst erst zu Boden boxte und dann ihn auch noch mit den Füßen treten wollte.
»Halt ein, Thomas!« schrie Charles und packte den Wütenden am Genick. »Wie kannst du hier solchen Lärm verursachen? Habe ich euch nicht oft genug gesagt, ihr sollt euch ruhig verhalten, damit Marquis Chaushilm nicht im Schlafe gestört wird? Und du bringst durch deine Hiebe deinen Gefährten zum Schreien, daß das ganze Schiff in allen seinen Fugen zittert!«
Charles war nicht nur bei den Heizern sehr beliebt, sondern stand auch wegen seiner entschlossenen Bündigkeit in großem Ansehen bei ihnen. Niemandem folgten sie so gern und ohne Murren wie ihm.
Thomas ließ sofort sein Opfer los und strich sich mit allen Zeichen der Verlegenheit durch sein vom Raufen zerzaustes Haar.
»Das ist schon wahr,« antwortete er, »aber dem Jimmy tat schon lange einmal eine Portion Prügel not.«
»Was ist denn vorgefallen?«
»Der Kerl maust wie ein Rabe, und jetzt habe ich ihn endlich dabei ertappt, wie er ein Stück Fleisch ansaß, was ich mir von gestern abend aufgehoben hatte.«
»Das ist nicht wahr,« verteidigte sich der unterlegene, ausgestandene Heizer, der sich die blutende Nase hielt.
»Was ist nicht wahr?«
»Ich habe das Fleisch nicht gestohlen, ich glaubte, es wäre meins; erst hinterher habe ich eingesehen, daß es Thomas gehörte, und habe meinen Irrtum gleich eingestanden.«
»Und darum hast du Jimmys Gesicht wie ein rohes Beefsteak behandelt, weil er sich versehentlich an deinem Essen vergriffen hat?« sagte Charles streng. »Pfui, Thomas, das ist nicht schön von dir, wegen eines lumpigen Stückes Fleisch das Ebenbild Gottes blauzuschlagen.«
»Es ist aber nicht das erste Mal, daß Jimmy stiehlt,« verteidigte sich Thomas. »Fast jeden Tag fehlt uns etwas am Essen, entweder Butter oder Fleisch oder Brot.«
»Ich bin es aber nicht gewesen,« rief Jimmy beleidigt.
»Auch die anderen Heizer sagten, daß jetzt immer Nahrungsmittel, die sie sich vom Abend zuvor aufgehoben, während der Nacht verschwänden.
»Wir glaubten anfangs, die Katze wäre es,« fügte Thomas hinzu, »aber wir hatten uns aus Mgwana ein Schock Eier mitgenommen, und in voriger Nacht sind zehn davon verschwunden. Die Katze frißt aber doch keine rohen Eier samt den Schalen.«
»Das kommt auf einen Versuch an,« meinte Charles, was die Heizer veranlaßt«, die Mäuler grinsend zu verziehen. »Jedenfalls aber fangt ihr deshalb keine Schlägerei an, sondern meldet mir, wenn nochmals so etwas vorkommt, ich werde die Sache dann näher untersuchen. Wer hier noch einmal schlägt, wird von mir mit eigener Hand gekielholt. Verstanden?«
Unter dem Lachen der Heizer verließ Charles das Logis.
Kielholen ist eine ganz barbarische Strafe, welche von Seeleuten in früheren Zeiten oft angewendet wurde, gewöhnlich auf eigene Faust und oft sogar zum bloßen Vergnügen. Der zu Bestrafende wird an ein Tau gebunden, welches unter dem Schiffe hinläuft, auf der einen Seite ins Wasser geworfen, und unter dem Kiel weg auf der anderen Seite wieder herausgezogen. Geht die Prozedur nicht schnell genug von statten, so muß der Betreffende natürlich ertrinken, jedenfalls kommt er im besten Falle halbtot an Deck zurück.
Charles begab sich zu Chaushilm und fand diesen schon wach.
Der Marquis hatte sich wahrend der Krankheit sehr verändert: er war viel stiller geworden, ging nicht mehr auf Charles' Scherze ein, und von seinem früheren Lieblingsgespräch, die Vestalinnen betreffend, wollte er nichts mehr hören. Charles hatte selbst öfters angefangen, von den Damen zu sprechen, ja, er hatte den Kniff nicht verschmäht, zu fragen, ob Chaushilm schon seine neueste Eroberung bemerkt habe. Aber der nervöse Kranke hatte sich ein für allemal dieses Thema verbeten. »Derartige Kindereien habe ich hinter mir,« hatte er heftig erklärt, und Charles nahm sich vor, nicht wieder darauf zurückzukommen. War Chaushilm erst gesund, dachte er, so wird er schon von selbst wieder auf seinem Steckenpferde reiten.
Chaushilm lag über und über mit weichen Kissen zugedeckt in seiner Koje und behielt beim Eintritt seines Freundes ein ernsthaftes Gesicht, während er Charles sonst stets mit einem freundlichen Lächeln einen Gruß zurief.
»Wie geht's, Marquis?« fragte Charles und rückte einen Stuhl neben die Koje.
»Schlecht,« flüsterte der Kranke mit schwacher Stimme.
»Ach, gehen Sie, das ist Einbildung!« sagte Charles ermunternd. »Davids, unser Arzt, sagte mir gestern, ich sollte Sie nicht mehr an Deck führen, Sie müßten jetzt schon allein gehen. Fieber haben Sie auch kaum noch, Appetit haben Sie wie ein Scheunendrescher, wie können Sie also sagen, es ginge Ihnen schlecht?«
Der Marquis schüttelte traurig den Kopf.
»Ich glaube doch nicht, daß ich aufkommen werde.«
Erschrocken sprang Charles vom Stuhle auf.
»Weisen Sie solche Gedanken von sich,« rief er. »Nichts ist einem Kranken schädlicher, als sich mit derartigen Grillen herumzutragen. Was wetten wir, daß wir beide in spätestens acht Tagen zusammen auf den höchsten Rahen herumrutschen?«
»Ich werde es nicht mehr tun, ich weiß, daß mein Ende nicht mehr fern ist.«
»Donnerwetter, Chaushilm, seien Sie ein Mann! Haben Sie Fieber?«
»Nein.«
»Haben Sie Schmerzen?«
»Nein.«
»Schmeckt Ihnen das Frühstück?«
»Ja.« »Haben Sie gut geschlafen?«
»Nein.«
»Sehen Sie, das ist es. Sie haben Fieber gehabt.«
»Nein, ich habe ganz ruhig und vernünftig mit offenen Augen dagelegen. Charles, mein guter, alter Freund, es hilft alles nichts, ich muß sterben!«
»Zum Teufel, Marquis, schwatzen Sie doch keinen Unsinn! Wie kommen Sie nur auf eine so verrückte Idee?«
»Kommen Sie her, ich will Ihnen sagen, woher ich die Nähe meines Todes so bestimmt weiß.«
Charles neigte seinen Kopf vor, so daß des Kranken Mund sein Ohr berühren mußte. Er glaubte, Chaushilm würde ihm sagen, daß er ein innerliches Leiden spüre, und wurde sehr ängstlich.
»Kasegora war diese Nacht bei mir.«
Charles Gesicht nahm mit einem Male einen ganz sonderbaren Ausdruck an; er wurde sehr ernst, sah dem Marquis besorgt in die Augen und versuchte dann, unbemerkt dessen Puls zu fühlen.
»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Chaushilm jedoch und entzog ihm die Hand. »Ich habe nicht das geringste Fieber, sondern bin ebenso vernünftig wie diese Nacht.«
»Wer war bei Ihnen?« fragte Charles langsam.
»Kasegora, wie sie leibte und lebte.«
»Chaushilm, bedenken Sie, was Sie sprechen, und gestehen Sie dann, daß Sie geträumt haben, das ist ein gutes Zeichen. Ich habe mit eigenen Augen Kasegora sterben und unter großem Pomp begraben sehen. Glauben Sie mir das?«
»Wohl glaube ich Ihnen. Aber es war auch nicht Kasegora selbst, die mich besuchte, sondern ihr Geist.«
Charles wußte nicht, was er sagen sollte. Er fürchtete, Chaushilm hätte einen Rückfall bekommen.
»Wie sah sie denn aus?« fragte er, um nur etwas zu sagen. »Wie im Leben; sie trug ein Tuch um die Hüften, sah aber sehr mager und elend aus.«
»Sie wollen also nicht zugeben, daß Sie nur einen Traum gehabt haben?«
»Wie sollte ich denn? Ich war so wach wie jetzt, völlig ohne Fieber, ich sah Kasegora ebenso deutlich, wie ich jetzt Sie sehe.«
»Und daraus schließen Sie, daß Sie sterben müssen?«
»Ganz bestimmt; Kasegora will mich holen.« »Um was wetten wir, daß Sie wohlbehalten in London ankommen? Besinnen Sie sich noch auf die braune Fuchsstute mit den weißen Fesseln, die Sie immer zu solcher Bewunderung nötigte?«
Des Marquis Augen leuchteten auf. Wie alle Engländer, schwärmte auch er für Pferde, und gerade für das Tier, dessen jetzt gedacht wurde, hatte er früher Charles große Summen angeboten, aber immer vergeblich.
»Nun, wenn Kasegora Sie abholen sollte, dann schenke ich Ihnen die Fuchsstute, damit Sie neben der Amazone in den Himmel reiten können.«
Nach diesen Worten verließ Charles seinen Freund und suchte John Davids auf, dem er von Chaushilms angeblichem Gespensterbesuch erzählte. Davids meinte ebenso, daß die Halluzination eine Folge des stark erregten Gehirns wäre, und bat Charles, dem Kranken nicht mehr vorzulesen, sondern ihn dafür öfter an Deck zu führen und ihn in Unterhaltung mit den Herren zu bringen.
Charles wollte diesen Rat sofort befolgen, stieß aber auf energischen Widerstand Chaushilms. Er wollte in Frieden sterben, sagte er, in der Einsamkeit.
Charles gab daher vorläufig die Hoffnung auf, ihn zur Vernunft zu bringen.
Aber am anderen Morgen war sein erster Gang wieder zu Chaushilm, und er erwartete sicher zu hören, daß der Kranke das Phantom abermals gesehen habe.
»Wie geht's, Chaushilm?« fragte er. »Haben Sie eine gute Nacht gehabt?«
»Nein, ich habe nicht schlafen können.«
»Hat Kasegora Sie wieder besucht?«
Chaushilm schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe sie die ganze Nacht erwartet, aber sie ist nicht gekommen.«
»Und darüber sind Sie wohl gar traurig?« fragte Charles entrüstet.
»Wenn sie mich nun einmal zu sich holen will, dann soll sie es wenigstens bald tun!« entgegnete der Marquis.
Charles wurde von tiefem Mitleid ergriffen, wie er die abgezehrte Gestalt seines Freundes sitzen sah, der sich mit solchen sinnlosen Hirngespinsten abquälte, über welche er früher gelacht hätte. Doch Charles wurde wieder von den Heizern in Anspruch genommen, diesmal beklagte sich Jimmy, daß ihm sein Tee während der Nacht weggetrunken sei, und gleich darauf erschien ein anderer Heizer, dem Zucker gestohlen war, dann ein dritter, und Charles wußte sich schließlich keinen anderen Rat, als alle sechs Mann aus seiner Kabine hinauszuspedieren. Da die Heizer aber in ihn drangen, denjenigen herauszufinden, der die Diebstähle beginge, so fällte Charles endlich das salomonische Urteil, daß derjenige, der sein Essen nicht gleich ganz aufzehre, sondern etwas für den Morgen aufhebe, auf schmalere Rationen gesetzt werden würde.
Er glaubte, daß einer der Leute ebensoviel wie der andere Schuld an den Vorkommnissen wäre, und daß alle diese harmlosen Stehlereien auf Scherz beruhten.
Wie gewöhnlich, so besuchte Charles auch am nächsten Morgen den Kranken, sobald er ein Geräusch in dessen neben der seinigen liegenden Kabine vernahm.
Chaushilm sah noch bleicher aus als gewöhnlich, seine Augen aber glänzten fieberhaft, und zugleich lag in ihnen ein Ausdruck, wie von Freude.
»Kasegora war heute nacht wieder bei mir,« rief er dem Eintretenden entgegen.
»Teufel, Chaushilm, sind Sie noch immer nicht von Ihrem Wahne kuriert?«
Jener lächelte schwermütig und überlegen zugleich.
»Halten Sie mich für wahnsinnig?« sagte er. »Ich kann Ihnen fest versichern, daß sie hier in meiner Kabine war; ich sah sie so deutlich, wie ich Sie jetzt sehen kann, und ebenso wie die Schwelle knarrte, als Sie jetzt eintraten, so knarrte sie auch bei ihrem Eintritt.«
Charles zog mit einem Male ein ganz merkwürdiges Gesicht und stieß einen leisen Pfiff aus.
»Alle Wetter,« dachte er vor sich hin, »der Geist hat also ein gewisses Gewicht, sonst würde die Schwelle nicht knarren. Hm, die Sache gibt zu denken! Doch nein, Chaushilm hat sich daran gewöhnt, daß, wenn jemand in seine Kabine kommt, die Schwelle knarrt, und träumt er nun, es öffnet jemand die Tür und tritt auf die Schwelle, so ist die unabwendbare Folge davon, daß er auch das Knarren zu vernehmen glaubt. Chaushilm hat also nur vermöge seiner aufgeregten Phantasie die Gestalt gesehen.«
»Was hat sie Ihnen denn erzählt, Herzog?« fragte er den Kranken.
»Kein Wort hat sie gesprochen,«
»So! War sie lange bei Ihnen?«
»Nur eine halbe Minute.«
»Erzählen Sie mir doch einmal, wie sie sich benimmt, wenn Sie Ihnen einen Besuch abstattet.«
»Ich weiß nicht, wann es gewesen ist, vielleicht gegen Mitternacht, als sich plötzlich die Tür leise öffnete und ...«
»Hatten Sie vorher geschlafen?« unterbrach ihn Charles.
»Etwas, aber ich wache in der Nacht stets einige Male auf und liege dann mit offenen Augen da. Da kam plötzlich eine dunkle Gestalt herein, die Augen starr auf mich gerichtet, und bewegte sich langsam, Schritt für Schritt, dort nach der Kommode zu, ohne auch nur einmal die Augen von mir zu wenden. Ach, lieber Williams, ich hätte mir so gern weisgemacht, daß ich träumte, aber es war alles Wirklichkeit, denn ich bin seitdem nicht wieder eingeschlafen. Es lag auf mir, wie ein drückender Alp, ich konnte mich nicht bewegen, ja, der Atem stockte sogar, aber endlich, als Kasegora dort die Kommode erreicht hatte, gelang es mir, einen Seufzer auszustoßen. Sofort wandte sie sich um und war verschwunden, spurlos, ohne daß ich sie weggehen sehen konnte.«
»Sie ging nicht zur Tür hinaus?«
»Nein, sie zerfloß in Nebel.«
»Brannte die Lampe?«
»Ja, Sie haben dieselbe ja erst ausgelöscht. Sie brannte niedrig, aber hell genug, um Kasegoras Züge erkennen zu lassen. Ein schwarzes, hübsches Gesicht, große Augen und wolliges Haar. Ist das nicht schrecklich, Charles, daß mich das Weib durchaus besitzen will, selbst nach dem Tode? Ich fühlte schon, daß ich wieder ziemlich gesund war, und nun kommt diese Kasegora und will mich zu sich holen.«
Wehmütig betrachtete Charles den armen Freund, der ganz von seiner phantastischen Vorstellung beherrscht wurde.
»Wissen Sie was, Herzog,« sagte er endlich, hoffend, auf diese Weise den Fieberkranken trösten zu können,«ich werde einmal mit Kasegora sprechen, wenn sie Sie besucht, was sie eigentlich von Ihnen will, und werde sie höflich ersuchen, sich nach einem anderen Geliebten umzusehen, Sie sähen Ihr Verhältnis mit ihr für gelöst an.«
»Tun Sie das, tun Sie das,« rief Chaushilm, »ich wäre herzlich froh, wenn sie sich überreden ließe, mich nicht mehr zu besuchen.«
»Sein Verstand hat doch etwas gelitten, aber es wird sich schon wieder geben,« dachte Charles, als er dem Freunde die Chinin enthaltende Medizin gab.
Am nächsten Morgen war Charles‹ erste Frage, ob Kasegora wiedergekommen wäre, und als Chaushilm verneinte, rief er:
»Sehen Sie, sie hält Wort. Ich habe diese Nacht vor Ihrer Tür gestanden, und als Kasegura kam und Sie besuchen wollte, habe ich ernstlich mit ihr gesprochen. Sie sagte, sie wollte Sie gar nicht abholen, sondern Sie nur dann und wann wiedersehen, da sie aber hörte, daß Sie noch immer sehr krank wären, versprach sie mir fest, gar nicht wiederzukommen.«
»Gott sei Dank,« seufzte Chaushilm, »so habe ich also doch noch Hoffnung, zu genesen. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Charles.«
Dieser war wohl froh, daß er den Kranken durch seine List anscheinend von der phantastischen Vorstellung befreit hatte, aber hundertmal lieber wäre es ihm gewesen, Chaushilm hätte ihn für einen albernen Menschen erklärt, der solchen Unsinn wohl Kindern vorschwatzen könne, aber nicht ihm, Chaushilm.
Ein gutes Zeichen war solche gläubige Vertrauensseligkeit jedenfalls nicht.
Es vergingen einige Tage, und jeden Morgen erklärte Chaushilm von neuem, Kasegora hielte Wort, sie käme seit jener Zeit nicht mehr zu ihm. Wenn Chaushilm nicht immer wieder davon angefangen hätte, so hätte Charles die Geschichte jedenfalls bald vergessen, ebenso wie die anderen Herren, welche natürlich auch davon erfuhren, da aber wurde sie mit einem Male von anderer Seite aufgefrischt.
Eines Nachts vernahm Charles ein heftiges Pochen an seiner Tür. Fluchend sprang er aus der Koje, denn er glaubte nicht anders, als daß er wegen irgend einer Arbeit an Deck müsse. Zu seinem Erstaunen aber fand er vor seiner Tür zwei Heizer stehen, bleich, mit zitternden Gliedern und mit vor Angst sich sträubenden Haaren.
»Was ist denn los? Habt ihr ein Gespenst gesehen?« fragte Charles, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.
»Kasegora,« brachte Thomas nur stammelnd hervor, und der andere Heizer nickte dazu bestätigend.
»Seid ihr verrückt, daß ihr, gesunde und kräftige Männer, auch Gespenster seht? Ihr habt wohl gestern abend zu viel Grog getrunken?«
»Kasegora war es,« wiederholte Thomas. »Wir haben nicht geträumt, Sir, wir beide haben sie ganz deutlich gesehen, so, wie sie noch auf Erden herumwandelte.«
»So,« sagte Charles trocken, wahrend er sich anzog, »wie sah sie denn aus?«
»Schwarz.« »Natürlich, weil sie eine Negerin ist, aber wie sonst? Klein, dick?«
»Ja, sie war klein und dick.«
»Seht ihr wohl, ihr Lügenbolde!« donnerte Charles die Erschrockenen an, »Kasegora war groß, sogar sehr groß und schlank. Habt ihr denn Kasegora überhaupt früher einmal gesehen?«
»Nein,« gaben die beiden Heizer kleinmütig zu.
»Ihr wäret wert, daß man euch wegen eurer Dummheit in Eisen legte,« sagte Charles und wollte sich schon wieder ausziehen.
»Aber, Sir Williams, wir schwören Ihnen, wir haben eine schwarze Gestalt gesehen, eine Negerin, die am Sirupfaß stand und mit einem Löffel daraus aß.«
Charles besann sich plötzlich anders, er zog sich völlig an und begab sich mit den Heizern ins Logis.
»Wenn Kasegora Sirup ißt, dann wird die Sache doch ernsthaft,« dachte er. »Jetzt muß die Sache näher untersucht werden, vielleicht hat Chaushilm doch kein Gespenst gesehen.«
Beim ersten Blick nach dem Sirupfaß sah Charles etwas, was mit einem Male Licht in die Sache zu bringen schien. Die Person, welche aus dem Fasse gegessen hatte, mußte mit der Hand zu tief in den Sirup gegriffen haben, denn deutlich konnte man auf dem Deckel des Fasses den Abdruck von Fingern sehen.
Auf englischen, sowie auch auf einigen deutschen Schiffen steht der Mannschaft immer Sirup zur Verfügung, mit dem des Morgens die Hafergrütze, das gewöhnliche Frühstück auf englischen Schiffen, versüßt wird.
Ohne weiteres weckte Charles die übrigen Heizer und unterzog die Hände aller einer genauen Prüfung, konnte aber keine Spur von Sirup finden, auch nicht, daß sich einer die Hände erst kurz vorher gewaschen oder abgewischt hätte.
Die Sache gab zu denken. In derselben Nacht noch durchstreifte Charles mit einer Laterne das ganze Schiff von oben bis unten, ohne etwas zu finden. Sollte sich, wie er jetzt fest glaubte, in Mgwana eine Person, vielleicht ein Neger, im Schiff versteckt haben, um freie Fahrt nach irgend einem anderen Hafen zu bekommen, was wanderlustige Individuen oft tun, so war dieselbe nicht so leicht zu finden, denn auf einem Schiffe gibt es unzählige Verstecke, jedes leere Faß bietet ein solches, an dem man des Tages über hundertmal vorübergeht, bis man durch Zufall endlich merkt, daß schon lange jemand daruntergesteckt hat.
Am anderen Tage erzählte Charles den Herren seine Wahrnehmung, und eine allgemeine Reinigung des Schiffes ward beschlossen, denn dabei konnte man den etwaigen blinden Passagier am besten entdecken.
Das ganze Schiff ward unter Wasser gesetzt, keine Ecke, kein Winkel entging dem Scheuerbesen, jedes Faß wurde umgekippt, kein Kasten und keine Kiste blieb stehen, aber alles war umsonst, kein Schwarzer wurde gefunden.
Und dennoch behauptete abermals ein Heizer, daß das Gespenst dem Logis wieder einen Besuch abgestattet habe und mit einem halben Schinken verschwunden sei.
»Aber warum hast du es denn nicht gepackt?« rief Lord Harrlington ärgerlich.
»Ich werde mich hüten, den Klabautermann anzugreifen,« rief der Heizer erschrocken.
Aus Kasegora war also bei den Heizern der Klabautermann geworden, jenes Gespenst der Seelente, welches dem Schiff, auf dem es sich befindet, immer Glück bringt. Wird es aber gesehen, wie es seine Kleiderkiste packt, als wolle es das Schiff verlassen, dann gibt es immer bald ein Unglück.
Der ›Amor‹ war nicht mehr weit ab von der Ostküste Amerikas, und da man um Kap Horn fahren mußte, um nach der Westküste zu gelangen, so mußte man südlich segeln, und zwar bedeutete dies eine Fahrt gegen den Wind. Das erste Mal wurde während derselben die Maschine benutzt, die Heizer begannen ihre Tätigkeit, karrten Kohlen aus den Bunkers (Kohlenräumen) und warfen sie dann unter die Kessel ins Feuer.
Da stürzte eines Nachmittags ein rußbedeckter Heizer an Deck und schrie Zeter und Mord – er hätte den Klabautermann in einem Kohlenbunker sitzen sehen, derselbe hätte ihn mit feurigen Augen angefunkelt und sich nicht von der Stelle gerührt, sei aber plötzlich verschwunden.
Ohne Verzug begaben sich alle Herren, die gerade an Deck waren, allen voran Charles, nach dem bezeichneten Kohlenbunker. Der Raum hatte keinen weiteren Ausgang, und der geflüchtete Heizer hatte sofort die Tür hinter sich zugeschmettert. Konnte das Gespenst also nicht in Rauch aufgehen oder durch das Schlüsselloch kriegen, so mußte es sich noch zwischen den Kohlen befinden.
Vorsichtig wurde die Tür aufgemacht – nichts war zu sehen. Nun begann ein emsiges Suchen, die mächtigen Blöcke, die erst mit der Hacke zertrümmert werden mußten, wurden umgangen oder umgewendet, die Herren scheuten sich nicht, in zufällig entstehende Höhlen zu kriechen, aber alles ohne Erfolg.
Da hörte man Plötzlich von da, wo der am weitesten vorgedrungene Charles sich befand, eine Kinderstimme weinen, und im nächsten Augenblick erschien Charles, am Kragen eine kleine, über und über mit Kohlenstaub bedeckte Gestalt haltend.
»Was hast du hier zu suchen? Wie kamst du hierher, Schlingel?« fuhr Charles den Entdeckten an, von dem man noch nicht sagen konnte, ob er ein Neger oder nur ein vom Kohlenstaube Geschwärzter war, denn seine Haut war ebenso schwarz, wie die paar Tücher, die um seinen Körper hingen.
»O, o, Massa,« wimmerte der Kleine unter den Fäusten Charles', »Massa Pontence mich zu viel geschlagen, ich weggelaufen, ich gehen nach Amerika.«
»Hektor,« rief Charles überrascht, »das ist ja der Diener des Franzosen, der in Afrika geblieben ist.«
Hektor erzählte unter vielen Tränen, wie der Franzose trotz aller scheinbaren Gutmütigkeit ein ganz grausamer Herr gewesen sei, der ihn manchmal fast zu Tode gequält und ihn oft genug grausam geschlagen hätte.
Zuletzt habe er von einem Neger einen großen Affen gekauft, um ihn zu zähmen und Versuche anzustellen, wie weit er ihn den Menschen ähnlich machen könne. Hektor bekam das Tier zum Warten, er sollte es des Morgens waschen, kämmen und so weiter, aber der Affe hatte sich dies nicht gefallen lassen, sondern mit seiner zehnfach überlegenen Kraft den armen Hektor oftmals übel zugerichtet, und dann hatte dieser auch noch Schlage von seinem Herrn dazu bekommen.
Da war der Junge kurz entschlossen eines Tages auf- und davongelaufen und hatte sich auf dem ›Amor‹ versteckt, weil er erfahren hatte, daß die Herren bald nach Amerika segelten. Dort wollte er sein Glück probieren.
Er hatte sich während der Fahrt immer in dem Bunker aufgehalten, auf gestohlenen Decken geschlafen und sich des Nachts Essen aus dem Logis oder den Kabinen besorgt.
»Bist du einmal dabei ertappt worden, als du in eine Kabine gingst?« fragte ihn Charles.
»Nein, die Herren schliefen immer ganz fest, nur einmal, glaube ich, hat mich einer gesehen, denn er machte die Augen auf und seufzte tief, aber er schrie nicht. Er glaubte sicher, er hätte geträumt.«
Charles erklärte, da ihm Hannes entsprungen wäre, so würde er von jetzt ab Hektor als Diener annehmen und an ihm seine Erziehungskunst probieren. Die Herren waren damit einverstanden, denn Hektor schien ein guter, williger Junge zu sein.
Am meisten freute sich Charles Chaushilms wegen. Als er diesem erzählte, wer die vermeintliche Kasegora gewesen sei, brach der Marquis plötzlich in ein unbändiges Gelächter aus, er ließ sich Hektor zeigen, und als er die kleine, schmutzige Gestalt mit den verschmitzten Augen sah, da brach seine Heiterkeit nochmals los, und dann erklärte er plötzlich, er habe nun das Bettliegen satt, er wolle an Deck gehen und versuchen, ob er nicht etwas arbeiten könne.
»Hektor ist kein schöner Name für einen Neger,« meinte Chaushilm, als ihm sein Freund beim Anziehen half, »ich liebe nicht, klassische Namen auf Leute anzuwenden, die ihrer unwürdig sind.«
»Da haben Sie recht,« entgegnete Charles, »ich habe ihn auch schon umgetauft. Er heißt von jetzt ab Kasegorus.«