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Das Verhör der dreißig Meuterer war vorüber, das eingetroffene Urteil ihnen vorgelesen worden – es lautete auf Tod am Galgen. Bei Tagesanbruch sollten dieselben Balken, an denen gestern die Chinesen gehangen hatten, ihre Leichen tragen.
Dennoch hatten die Männer noch nicht alle Hoffnung verloren, sie gehörten zu jener Bande, die unter dem Befehle des Meisters stand, und schon bei dem ersten Zuruf: ›Mut, Kameraden, wir helfen euch!‹ war etwas von Hoffnung in ihren Herzen aufgegangen, und am Nachmittag, als sie einzeln zum Verhör über den Hof geführt wurden, war von dem am Türe Posten stehenden japanesischen Soldaten jedem einzelnen noch einmal diese Versicherung zugeflüstert worden.
Das Verhör war ein sehr einfaches gewesen. Sie wurden nach ihrem Namen gefragt, dieser mit der Mannschaftsliste der »Recovery« verglichen, ihnen das Protokoll verlesen, wie es nach der Aussage des Kapitäns Green und seiner Offiziere aufgesetzt wurden war, und da sie keine Einwendungen dagegen machen konnten – es hätte ja doch nichts genutzt – wurde ihnen das Urteil verlesen, immer jedem einzeln.
Sie wurden wieder in ihre Zellen geführt, wo sie die letzte Nacht vor ihrem Tode verbringen sollten. Schlaflos lagen alle auf ihren Pritschen in dem kleinen, langen, schmalen Gemach und grübelten darüber nach, wie wohl ihre Rettung bewerkstelligt werden sollte; es geschah ja sehr häufig, daß die zu der Bande des Meisters gehörenden Leute auf eine geheimnisvolle Weise befreit wurden, hauptsächlich darum, damit die von Todesangst gefolterten Delinquenten keine Geständnisse machten. Dann wieder malten sie sich aus, wie die erwartete Hilfe doch ausbleiben könne, sie fühlten schon, wie ihnen der Strick um den Hals gelegt, wie sie emporgezogen wurden, unter dem Trommelwirbel der Soldaten, und ein kalter Schauer rieselte durch ihr Gebein, Angsttropfen standen auf ihrer Stirn.
Aber nein, sie brauchten keine solche Furcht vor dem Tode zu haben. Noch waren sie im Besitze von Geheimnissen, durch deren Verrat sie sich vom Galgen loskaufen konnten. Bekamen Sie auch nicht die Freiheit geschenkt, lebenslängliches Zuchthaus war doch immer noch besser als der Tod, der ist ein zu bitteres Kraut.
Wurde ihnen erst die Schlinge über den Kopf gestreift, dann war noch immer Zeit, anzudeuten, daß man Sachen von der größten Wichtigkeit aufdecken könnte, die Exekution wurde verschoben, ein neues Verhör angestellt, sie wurden wahrscheinlich nach New-York geschickt, und schon diese Verzögerung war nicht mit Gold zu bezahlen.
Allerdings war dann zu befürchten, der Rache des Meisters zu verfallen; unheimliche Gerüchte gingen über die Schnelligkeit seiner strafenden Hand um, aber so oder so, sterben hätten sie doch gemußt, und waren sie erst im Zuchthaus, dann waren sie auch der Gefahr entrückt, einen Dolchstich ins Herz und das Siegel auf die Stirn gedrückt zu bekommen, dorthin reichte auch der Arm des Meisters nicht mehr.
Aber noch war es nicht so weit.
Still lagen die Matrosen auf den Matratzen und lauschten; jedes kleinste Geräusch ließ sie zusammenzucken und den Atem anhalten; klapperte der Schlüsselbund des Schließers, so hofften sie, er käme zu ihnen, um ihnen in flüsternden Worten mitzuteilen, daß sie frei waren, schallte draußen der Schritt des auf- und abpatrouillierenden Soldaten, so dachten sie, es wäre der Schritt des Retters.
Aber Stunde auf Stunde verrann; das Abendbrot wurde ihnen gebracht; die Nacht brach an, und lange noch lagen sie horchend da. Natürlich konnte eine Befreiung erst bei Dunkelheit erfolgen.
Nur einer war unter ihnen, der diese Aufregung nicht teilte. Er lag völlig still auf der Matratze, den Kopf auf dem Arm, die Augen geschlossen, und alles schien anzuzeigen, daß dieser Mann in der Nacht vor dem Tode ruhig schlief, als habe er ein gutes Gewissen oder als ob er den morgenden Tag noch zu verleben hatte.
Als der Schließer, der von zwei Soldaten mit geladenem Gewehre begleitet wurde, ihm Tee und ein Schüsselchen mit Reis hineinschob, richtete er sich nicht auf, öffnete nicht einmal die Augen.
Kaum aber waren die drei wieder fort und begaben sich zur nächsten Zelle, so stand er mit einem Sprunge, doch völlig geräuschlos, mit den Füßen auf der Matratze, klammerte sich an das Gitter des Fensterchens, zog sich daran hoch und spähte hinaus.
Im nächsten Augenblick lag er wieder wie zuvor bewegungslos auf der Pritsche und stellte sich schlafend.
»Dem schmeckt die Henkersmahlzeit nicht,« meinte der Schließer zu den Soldaten, als er nach einer Stunde die noch gefüllte Reisschüssel und den kaltgewordenen Tee herausnahm.
Die Dunkelheit war schon angebrochen, noch eine Stunde, und in der Zelle mußte vollkommene Finsternis herrschen.
Was für Gedanken aber waren es, welche dem stilliegenden Delinquenten durch den Kopf sagten?
Er prägte sich noch einmal genau die Lage des Gefängnisses ein, über welche er sich seit beinahe sechsunddreißig Stunden bei jeder nur möglichen Gelegenheit orientiert hatte. Der Transport nach dem Gefängnis, der Weg über den Hof zum Verhör, und ferner die Aussicht durch das Fensterchen, jedesmal, wenn die draußen wachenden Soldaten nicht durch das Schiebefensterchen in die Tür sehen konnten, hatten ihm gezeigt, wie das Gefängnis lag, wie seine Einrichtung war, und wie die Bewachung der Gefangenen gehandhabt wurde.
In der kleinen Zelle war nichts weiter vorhanden, als eine Pritsche mit Matratze und wollener Decke, ein Stuhl und ein Waschbecken. Sie lag im ersten Stock, aber dieser war zu hoch, um bei einem Sprung hinab mit dem Leben davonkommen zu können.
Das Fensterchen, von der Diele aus nicht erreichbar, war mit einem starken, eisernen Gitter versehen und außerdem war, wie bei fast allen Gefängnissen, noch ein Drahtgitter angebracht, um ein Herauswerfen von Papier zu verhindern.
Die Aussicht von diesem Fenster ging nach einem freien Felde, unter der Zelle aber befand sich noch ein Hof mit einer hohen Mauer, welche das Gefängnis rings umschloß, viel zu hoch, als daß man im Sprunge den obersten Rand hätte erreichen können.
In diesem Hof patrouillierten fortwährend vier Soldaten, die Gewehre über der Schulter, auf und ab, an jeder Seite des Hauses einer. Sie wurden nur eine Stunde auf diesem Posten gelassen, damit sie während dieser kurzen Zeit ihre ganze Aufmerksamkeit, ohne dabei zu ermüden und dadurch nachlässig zu werden, auf die Fenster des Hauses richten konnten. Ein Pfiff von ihnen alarmierte die ganze Wache, ein Schuß rief noch eine starke Abteilung von Soldaten herbei.
In der Zelle war es völlig dunkel geworden.
Der Gefangene richtete sich auf, setzte sich auf die Pritsche und dehnte und streckte seine Glieder. Er war ein mittelgroßer Mann, kräftig, aber nicht knochig gebaut, mit einem Gesicht, das von einem hellblonden Stoppelbart umrahmt wurde. Es war nicht unangenehm zu nennen – da man aber seinem unstäten Aeußern ansah, daß er nicht gern beobachtet wurde, weil wahrscheinlich sein Gewissen kein reines war, so wollen wir uns nicht länger mit seinem Aussehen beschäftigen.
Er lauschte aufmerksam auf den Schritt des im Korridor gehenden japanesischen Soldaten, wartete, bis derselbe an der Zelle vorüber war, griff dann in sein strohiges, blondes Haar, wühlte darin herum und brachte eine kleine Säge zum Vorschein.
Trotz der äußerst genauen Untersuchung, die mit den Gefangenen vorgenommen wurde, war dieses Instrument doch dem sonst in dergleichen Sachen äußerst erfahrenen Beamten entgangen.
Der Gefangene rückte vorsichtig, ohne das geringste Geräusch dabei zu verursachen, die Pritsche an die Wand, sodaß sie gerade unter das Fenster zu stehen kam, stellte sich darauf und begann an den Eisenstangen zu feilen.
Bald waren alle unten durchgefeilt, die haarscharfe Säge aus Uhrfederstahl, die er fortwährend durch den Mund zog, um sie zu befeuchten, gab keinen Ton von sich, das leise Knirschen konnte nur in sein eigenes Ohr dringen. Das winzige Instrument durchschnitt das harte Eisen überraschend schnell.
Als die Stäbe unten durchsägt waren, begann er mit derselben Arbeit am oberen Ende, und kaum eine Viertelstunde war vergangen, so legte er die durchsägten Stäbe auf die Matratze und sägte auch noch mit wenigen Strichen in das Drahtgitter eine Oeffnung, groß genug, um seine schlanke Gestalt durchzulassen.
Vorläufig streckte er nur den Kopf durch und spähte lange in die Nacht hinaus.
Der einsame Wachtposten schritt auf und ab, sah, das Gewehr im Arm, gedankenvoll vor sich hin und warf nur manchmal einen Blick an dem Hause hinauf. Es war ja noch nie vorgekommen, daß ein Gefangener ausgebrochen war, und selbst, wenn ihm die Flucht aus einem Fenster gelungen wäre, über die drei Meter hohe Mauer konnte er doch nicht kommen, und außerdem rief der Pfiff der Soldaten noch die drei Kameraden herbei.
Es war zu dunkel, als daß der Kopf des Gefangenen von unten hätte gesehen werden können.
Der Mann stieg von der Pritsche, betrachtete prüfend die wollene Decke, zog mit aller Kraft daran und warf sie dann unwillig wieder weg – das morsche Zeug war zerrissen.
Wieder stieg er auf die Pritsche und blickte nach unten.
»Ein verfluchter Sprung,« murmelte er zwischen den Zähnen; »werde meine Knochen zusammennehmen müssen, daß ich sie nicht breche. Na, bin schon einmal vier Stockwerk hoch heruntergesprungen, ohne mir ein Bein dabei zu verstauchen, aber man wird mit jedem Tage älter!«
Nach dieser letzten, sehr richtigen und nicht zu bestreitenden Bemerkung legte er die Hände trichterförmig an den Mund und ahmte täuschend das Krächzen des Käuzchens viermal nach.
Der Soldat unten hielt es nicht einmal für die Mühe wert, den Kopf zu erheben, um nach dem Nachtvogel zu sehen. Hier gab es Käuzchen genug, manche Nacht hindurch konnte man ihr Geschrei vernehmen, und er war als Stadtkind zu unerfahren, um zu bemerken, daß die Pausen, welche zwischen den einzelnen Rufen eingehalten wurden, merkwürdig waren.
Der zweite folgte gleich auf den ersten, der dritte etwas später, und der vierte ließ sehr lange auf sich warten.
Der Gefangene lauschte einige Zeit, ohne eine Erwiderung dieses Zeichens vernehmen zu können; plötzlich aber erscholl an der Außenseite der Mauer, eben da, wo der Posten sich gerade befand, ein furchtbarer Lärm, ohne daß man den Urheber desselben bemerken konnte.
Stimmen heulten, Pfiffe gellten, dann fielen einige Schüsse, und die Japanesen vernahmen, wie ein Mann um Hilfe schrie. Der Lärm fand zwar außerhalb des Gefängnishauses statt; dennoch waren die Soldaten verpflichtet, die Ursache desselben zu ergründen, denn wer wußte, ob die Männer, welche sich da draußen befanden, nicht irgend einen Befreiungsversuch vorhatten, bei dem sie überrascht worden waren!
Die Pfeife des Soldaten an der Mauer rief die Wachtmannschaft herbei, aber in demselben Augenblick, als er das Instrument in den Mund steckte, ließ er es erschrocken wieder fallen und riß das Gewehr von der Schulter.
Aber es war schon zu spät, er kam zu keinem Schuß mehr.
Von einem Fenster des ersten Stockes, da, wo die Meuterer gefangen gehalten wurden, war ein dunkler Gegenstand heruntergefallen, klatschend auf die Erde geschlagen, aber, als wäre es ein Gummiball gewesen, sofort wieder emporgesprungen. Einige Sätze, und die Gestalt war an der Mauer, ein Sprung, und sie saß oben auf dem Sims, und eben, als der Soldat den Kolben an der Wange hatte, war sie verschwunden.
Dennoch schoß der Japanese sein Gewehr ab, die Wache lief herbei, Befehle erschollen, die Soldaten eilten hinaus, aber so genau sie auch die Umgebung der Gefängnismauern absuchten, weder von den Leuten, welche vorher Lärm verursacht hatten, noch von dem Gefangenen, der diese Gelegenheit zur Flucht benutzt hatte, war eine Spur zu finden.
»Wer ist es gewesen?« fragte heftig der verantwortliche Offizier den herbeieilenden, zitternden Schließer.
»Nummer siebenundzwanzig, einer der Meuterer, Red Carpenter. Er hat die Eisenstäbe durchgefeilt und ist durchs Fenster gesprungen.« In der nächsten Minute donnerte ein Böllerschuß durch die Nacht, die Garnison wurde alarmiert, und bald eilten Patrouillen von Soldaten und Schutzleuten durch die Straßen Yokohamas, alle Zugänge, besonders die zum Hafen führenden sperrend, und die Umgebung des Gefängnisses nach dem entflohenen Gefangenen absuchend.
»Hol' über,« rief ein Mann, der wegen des strömenden Regens in einen Wachstuchmantel gehüllt war, über den Kanal, welcher das eigentliche Yokohama von einer kleinen Vorstadt trennt, die hauptsächlich von den sich überall einnistenden Chinesen bewohnt wird.
Es war erst Abend, aber die Dunkelheit schon eine vollkommene.
Der Japanese kam aus der Bretterhütte heraus, die sich auf der anderen Seite des Kanals befand, warf ein Tuch über seinen Kopf, sprang ins Boot und ruderte hinüber. Er hatte zwar die auf englisch gerufene Aufforderung nicht verstanden, denn selten kam es einmal vor, daß ein Europäer dieser schmutzigen Vorstadt einen Besuch abstattete, aber was hätten die Worte anders bedeuten sollen als den Wunsch, hinübergerudert zu werden. Die Brücke war viel weiter oben, und bei diesem schrecklichen Regen den weiten Weg nach dort zu machen, hätte sich kaum ein Japanese unterfangen, um wieviel weniger ein Engländer.
Der Mann im Wachstuchmantel und Wachstuchhut, in seinem ganzen Aeußeren den Seemann verratend, stieg ein, bezahlte auf der anderen Seite den Fährmann, der erstaunt das ihm in die Hand gedrückte, große Silberstück betrachtete.
Der Fremde sprach mehrere Male ein japanesisches Wort langsam aus, den Fährmann dabei fragend anblickend, und jetzt verstand dieser, warum er einen solchen reichen Lohn für seine kleine Mühe bekommen hatte, er sollte dem Engländer, der nicht japanisch sprach, eine Frage beantworten. Mehrmals mußte der Mann im Mantel das Wort wiederholen, denn es ist schwer, ein fremdes, vorgesprochenes Wort so wiederzugeben, daß es dem Eingeborenen verständlich ist; er wurde ungeduldig, fluchte, sprach es in allerlei Arten aus, tief, hoch, breit, schnalzend, und endlich war es ihm doch gelungen, den Sinn des Wortes dem Japanesen begreiflich zu machen.
Dieser nickte, deutete gerade aus in die Gäßchen der schmutzigen Vorstadt, zählte an den Fingern, deutete bald rechts, bald links, und wußte, fast ohne ein Wort dabei zu sagen, doch so geschickt den Weg nach der chinesischen Herberge, welche so hieß, wie das Wort lautete, zu erklären, daß der Fragende gar nicht irregehen konnte.
Verwundert schaute der Japanese dem Fremdling nach, der eiligst der angedeuteten Richtung folgte. Heute hatte der Fährmann schon einmal einen ganzen Trupp von Europäern, alle etwas schäbig gekleidet, über den Kanal setzen müssen, und einer davon, der ziemlich gut spanisch sprach, hatte nach derselben Herberge gefragt. Dort sollte wahrscheinlich heute abend eine Orgie mit chinesischen Mädchen gefeiert werden, ein Fest mit Trinken, Singen und Tanzen, wie es die englischen Seeleute so lieben, dachte der Fährmann, und wachen sie morgen früh mit schwerem Kopfe auf, so haben sie keinen einzigen Dollar mehr in der Tasche, dafür wird schon der Wirt sorgen.
Der Fremde war genau den Anweisungen des Fährmanns gefolgt, und bald stand er vor einem Hause, welches den anderen, elenden Hütten gegenüber so genannt werden konnte. Es war größer, mit Fenstern versehen, und auf dem Dache befand sich sogar ein Schornstein.
Jetzt aber waren die Fenster mit Läden verschlossen, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschimmer drang.
»Wer ist da?« fragte hinter der Tür eine Stimme auf spanisch, als der Fremde mit der Fußspitze leise an das Tor pochte.
»Mach' auf!« raunte der Außenstehende. Sofort wurde die Tür geöffnet, und der Fremde trat schnell ein.
Drinnen saßen um einem Tisch herum auf hölzernen Schemeln gegen zwanzig wildaussehende Gestalten, die Matrosen des einstigen »Friedensengels«, der als »Möve«, vom Feuer zerstört worden war.
Der Eingetretene schüttelte die Regentropfen vom Mantel und Hut, warf beides auf einen Stuhl und wischte sich das Wasser aus dem knochigen, verwitterten Gesicht.
»Alle versammelt?« fragte er kurz.
»Ja, Seewolf,« erwiderte derjenige, der ihn eingelassen hatte, und begab sich an den Tisch zurück.
Die Matrosen, welche in die durch Rauch schon verdickte Luft des Zimmers immer mehr Dampfwolken hineinbliesen, welche sie ihren Holz- und Tonpfeifen entlockten, hatten große Kannen vor sich stehen, aus denen sie sich die Gläser mit rotem Weine füllten; aber das feurige Getränk vermochte nicht, bei ihnen eine heitere Laune hervorzurufen. Es herrschte eine sehr gedrückte Stimmung.
Auch der Seewolf ließ sich auf einen Schemel nieder und füllte sich ein Glas.
»Nichts angekommen?« fragte ihn einer der Matrosen.
»Was geht es dich an?« fuhr ihn der Seewolf grimmig an. »Das sind meine Sachen.«
Aus diesen Worten entnahmen alle, daß der Seewolf, welcher sich nach Yokohama begeben hatte, um Befehle vom Meister zu empfangen, entweder keine vorgefunden oder schlechte Nachrichten bekommen hatte.
Der Seewolf stürzte zwei große Gläser Wein hinunter und sagte dann, etwas milder gestimmt:
»Nichts war da, aber habt keine Angst, Jungens; ist uns auch seit einiger Zeit manches schief gegangen, unseren letzten Auftrag haben wir wenigstens gut ausgeführt, und beim Teufel, es war kein leichtes Stückchen. Dessen wird sich der Meister wohl auch bewußt sein und sich dafür erkenntlich zeigen.«
Diese Worte brachten wieder etwas Stimmung in die stumme Gesellschaft.
»Es geht uns aber auch jetzt alles verkehrt,« meinte einer, »wir haben kaum so viel Verdienst, um uns ein Glas Wein kaufen zu können.«
»Geht anderen auch so,« tröstete der Seewolf, »und besser ist es doch, wir können Wasser trinken, als daß sie uns den Strick um den Hals legen. Schlimm ist es freilich, das ist wahr, aber wenigstens ist es ein Trost, daß selbst die Schlanksten von uns, die vor Hochmut mich kaum kennen wollen, von diesen verfluchten Engländern und Mädchen auch an der Nase herumgeführt werden.«
»Wer ist das?«
»Tannert, dieser Ueberschlaue.«
»Ist Tannert auch hinter den Mädchen her?« riefen einige verwundert, wie aus einem Munde.
»Das nicht,« entgegnete der Seewolf, »er ist in Australien beschäftigt, weiß nicht, was er dort treibt, wahrscheinlich macht er so seine Geschäfte in Geldsachen oder in etwas Aehnlichem, wovon wir nichts verstehen.«
»Aber was hat er mit den Mädchen zu tun? Ich denke, er mischt sich überhaupt nicht in solche Sachen?«
Der Seewolf schmunzelte, trank sein Glas wieder aus und wischte sich den weißen Bart.
»Ihr wißt doch,« begann er, »daß damals in Australien einer der entsprungenen Sträflinge dem Tode durch Flucht entgangen war – er hieß Snatcher. Es mußte dem Meister kolossal viel daran liegen, diesen Mann in seine Hände zu bekommen, und da sich Tannert gerade in Townville aufhielt, so wurde dieser, als der Schlaueste, damit beauftragt, ihn nach Sydney zu bringen.«
»Warum denn?« fragte einer.
»Das weiß ich nicht. Wirklich gelang es Tannert, sich des Snatcher zu bemächtigen, aber es war schwierig, ihn unbemerkt an Bord eines Schiffes zu bringen, denn lebendig sollte er unbedingt in Sydney abgeliefert werden. Doch dem klugen Tannert war dies ein leichtes, er betäubte den Snatcher, steckte ihn in ein Faß, schrieb darauf: ›Gesalzenes Schweinefleisch,‹ verzollte es selber, das heißt, er machte eine falsche Plombe daran und setzte es einstweilen in einen kühlen Keller, damit das Fleisch nicht stinkig werde.«
Ein wieherndes Gelächter über diesen Witz unterbrach den Seewolf, der selbst mitlachen mußte.
»Also,« fuhr er fort, »so weit war alles in Ordnung. Das Faß ward richtig an Bord gebracht, in Sydney ausgeladen, und als Tannert das Faß öffnete, was meint ihr, was darin war?«
»Snatcher, aber tot,« rief ein Matrose.
»Jawohl, Snatcher war fort, aber dafür lag ein toter Hund darin.«
Alle rissen vor Staunen Mund und Nase auf, dann aber erscholl wieder ein brausendes Gelächter.
»Wie in aller Welt ist denn das zugegangen?« fragte einer von den Matrosen.
»Weiß nicht, ebensowenig, wie Tannert und sein Genosse, der bei ihm war. Diese Superklugen sind eben einmal tüchtig angeführt worden. Uns ist auch schon manches mißglückt, aber so blamiert, wie sie, haben wir uns denn doch niemals.«
»Woher habt ihr denn dies erfahren, Seewolf?«
»Ich traf vorhin einen auf dem Bureau, der mit dabei war, als das Faß geöffnet wurde. Tannert hielt erst eine lange Rede, wie geschickt er alles angefangen habe, ließ sich einen Schwamm und kaltes Wasser geben, um den Bewußtlosen gleich wachzurufen, kurz und gut, traf alle Vorbereitungen, und wie er den Deckel öffnete, da lag ein räudiger Hund vor ihm Ich habe gelacht, daß mir die Tränen über die Wangen gerollt sind.«
»Wo ist dieser Snatcher aber denn geblieben?«
»Dies auszuspionieren, dazu ist jener Mann da, der mir dies erzählte. Es war zu vermuten, daß Snatcher von den englischen Herrchen aufgenommen worden ist, warum, weiß ich auch nicht, und der Abgesandte hat dies auch wirklich erfahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach, sagt er mir, wird Tannert noch einmal beordert, dieses Snatchers habhaft zu werden.«
»Das muß ja eine furchtbar wichtige Person sein, dieser Snatcher, daß Tannert hinter ihm hergejagt wird.«
»Wahrscheinlich, er steht jedenfalls mit den Damen in Verbindung, sonst würden sich die Engländer sicher nicht seiner angenommen haben.«
»So steht also zu erwarten, daß wir mit Tannert noch mehrmals zusammentreffen?« fragte einer.
»Aller Vermutung nach, ja,« meinte der Seewolf ärgerlich, »denn Snatcher ist und bleibt an Bord des ›Amor‹, er soll krank sein.«
»Nun möchte ich nur wissen, wer dem sonst so geschickten Tannert einen solchen Streich spielen konnte? Tannert läßt sich doch nicht so leicht übers Ohr hauen.«
»Das hat er eben diesmal bewiesen,« lachte der Seewolf. »Nun aber, Kinder, wenigstens etwas Angenehmes für heute abend, werdet es alle nötig gebrauchen.«
Die Gesichter der Männer heiterten sich plötzlich auf, als der Seewolf, ihr jetziger Kapitän ohne Schiff, in die Brusttasche griff und einen schweren Beutel zum Vorschein brachte.
Begierig hefteten sich die Augen aller auf die Silberstücke, welche auf den Tisch rollten und in gleicher Anzahl den Umsitzenden zugeschoben wurden.
»So,« sagte er, nach Vollendung dieses Geschäftes, »da habt ihr nun euren Lohn. Das muß man dem Meister lassen, pünktlich bezahlen tut er. Und nun, Jungens, füllt eure Gläser und stoßt an auf die dreißig oder vielmehr neunundzwanzig Seelen, die heute morgen mit eurer Hilfe vom Galgen aus dem Teufel in die Arme gelaufen find. Prosit, Jungens!«
Lachend taten sie ihm Bescheid; der Inhalt der Gläser wurde hinabgegossen, und die strahlenden Augen, die roten Gesichter bewiesen, daß der Wein zu wirken begann, und daß durch die Verteilung des Geldes eine bessere Stimmung eingetreten war.
»Hahaha,« lachte der am rohesten aussehende Kerl, »das haben wir auch wirklich gut gemacht. Haben die Burschen hingehalten und hingehalten, ihnen immer wieder zugerufen, den Mut nicht zu verlieren, daß sie wahrhaftig noch glaubten, als sie schon am Galgen in der Luft baumelten, es erscheine ihnen noch ein Rettungsengel und schnitte ihnen den Strick durch.«
»Es muß aber doch eine verdammte Sache sein, immer so auf Hilfe vertröstet zu werden,« meinte einer, sich in den Haaren wühlend, »und schließlich, wenn die Rettung schon zu spät, endlich einzusehen, daß alles nur Schwindel war.« »Was hilft's?« entgegnete der Seewolf gleichmütig. »Wenn wir uns so läppisch dumm benommen und uns eine so sichere Beute, wie die »Recovery« war, aus den Zähnen hätten rücken lassen, ginge es uns auch nicht besser. Versprechungen bekämen wir auch, aber ob sie gehalten würden, wäre eine andere Sache.«
»Na, uns ist es auch nicht viel besser ergangen!«
Der Seewolf warf dem, der diesen Ausruf getan hatte, einen wütenden Blick zu.
»Oho,« entgegnete er, »ist uns auch nicht immer alles geglückt, so schlimm ist es uns doch nie ergangen, und, was die Hauptsache ist, wir haben uns nie fangen lassen.«
»Ich würde nicht so lange warten,« meinte ein Matrose nachdenklich, »bis ich am Galgen hinge. Andere habe ich angeführt, aber mich sollten sie nicht anführen.«
»Was würdest du tun?« schrie der Seewolf heftig und sprang auf, mit der Faust auf den Tisch donnernd, daß die vollen Weingläser überliefen. »Sprich, was würdest du tun? Etwa verraten? Bei Gottes Tod, es wäre dein letztes Wort!«
Der Matrose entfärbte sich, er hatte da eben etwas sehr Unbedachtes gesagt, aber er sammelte sich sofort wieder.
»Was ich tun würde?« sagte er langsam. »Einfach dasselbe wie Ned, ich wollte schon einen Ausweg finden, und wenn sie mich in einen feuerfesten Turm steckten.«
»Ja, du,« lachte ein anderer Matrose, »Red Carpenter ist ein anderer Kerl, als du. Aber, weiß Gott, wo mag nur dieser Bursche stecken? Habt ihr nicht gehört, Seewolf, ob er gefunden worden ist oder nicht?«
»Nichts,« entgegnete der Seewolf, »er ist und bleibt spurlos verschwunden. Das wäre auch eine schöne Geschichte, wenn der jetzt noch gefangen würde und alles verriete. Dann hätten wir unser Geld umsonst erhalten, und schließlich würde es uns auch noch das nächste Mal abgezogen.« »Das tut der Meister nicht,« schaltete ein anderer, grauhaariger Mann ein.
»Wenn auch, fatal wäre es doch, wenn Ned Carpenter gefangen werden sollte. Lieber wäre es mir doch gewesen, wenn auch er mit am Galgen gehangen hätte.«
»Habt keine Angst,« lachte ein Matrose, »Red Carpenter ist nicht der Mann, der sich fangen läßt. Ich kenne ihn, ich bin an Bord eines Schiffes mit ihm zusammen gewesen, ehe ich zu euch kam, Seewolf. Ich sage euch, dieser Ned ist ein Kerl, der Haare auf den Zähnen hat.«
»Gewiß, ein pfiffiger Bursche ist er,« warf ein anderer ein, »aber, daß er so mir nichts, dir nichts aus der ersten Etage herunterspringt und auch noch über die drei Meter hohe Mauer wegsetzen kann, das hätte ich ihm doch nicht zugetraut. Wo er nur stecken mag? Erfährt er, daß wir hier sind, dann sucht er uns sicher auf.«
»Kennt Ihr ihn, Seewolf?« fragte ein Matrose.
»Nein. Wie lange zählt er denn schon zu uns?«
»Etwas über ein Jahr, der Bursche hat Chance; entwischt er diesmal, so wird es nicht lange dauern, und er gehört zu denen, die nur befehlen.«
»Paßt auf, Seewolf, daß er Euch nicht ins Gehege kommt,« lachte ein anderer. »Er ist nicht nur ein schlauer Kerl, er ist auch ein fixer Seemann, der wie ein Teufel segeln kann. Es wäre nicht unmöglich, daß er ein Schiff zu führen bekommt. Der Meister braucht jetzt gerade tüchtige Kräfte.«
»Unsinn,« brummte der Seewolf mürrisch und warf dem Sprecher einen bösen Blick zu, »er ist doch noch ein grüner Junge gegen mich alten, erfahrenen Kerl.«
»Na, wenn der zu befehlen gehabt hätte, wäre die »Recovery« sicher nicht verloren gegangen. Aber dieser Schuft, der Italiener, oder was er ist, der früher auf der Insel der Glücklichen gewesen ist, mußte sich natürlich die Beute entgehen lassen.« »Er soll ein ehemaliger Kapitän gewesen sein,« meinte ein Matrose.
»Ja,« ergänzte ein anderer, »und er soll Grund haben, sich nicht mehr bei den Seemannsämtern sehen zu lassen, ebensowenig wie wir alle, wenn wir uns nicht unkenntlich machen.«
»Mag er sein, was er will,« sagte der Seewolf, »recht ist dem dummen Kerl jedenfalls geschehen, daß er sein Leben am Galgen beschließen mußte.«
Die Krüge waren leer, die Matrosen, wieder mit vollen Taschen, riefen den chinesischen Wirt und ließen sie wieder füllen. Es waren Piraten, sie dachten nicht an morgen, denn wer von ihnen wußte, was der morgende Tag brachte? So lange Gelegenheit war, mußte genossen werden. Der nächste Tag konnte vielleicht nicht mehr ihnen gehören.
»Und van Guden ist auch gehängt worden!« sagte wieder einer nach einer Weile.
»Ist dem Laffen auch ganz recht geschehen,« entgegnete der Seewolf. »Als ich ihn damals aufsuchte, um ihm einen Brief zu bringen, benahm er sich mir gegenüber so hochmütig, daß ich ihm am liebsten eine ins Gesicht geschlagen hätte.«
»Oho,« lachte der alte, grauhaarige Bursche – es war des Seewolfs Steuermann – »das hättet ihr wohl bleiben lassen.«
»Ich?« rief der Seewolf und sprang auf, vom Wein erhitzt. »Ihr wißt doch alle, daß ich eine verdammt gute Faust schlage.«
»Braust nicht gleich so auf!« rief der Steuermann, ebenfalls heftig. »Ich weiß gar nicht, was heute abend mit Euch los ist, habe mich schon die ganze Zeit über euch geärgert. Ihr werft den anderen vor, daß sie sich zu dumm benommen haben, daß sie sich der »Recovery« leicht bemächtigen konnten, und wer ist es denn gewesen, der sich von diesen Mädchen wie ein kleines Kind hat im Schlafe überwältigen und binden lassen? War Euch damals die ›Vesta‹ nicht auch schon so gut wie sicher? Und was seid Ihr nun? Ein Kapitän ohne Schiff, hahaha!«
»Hütet Euch!« zischte der Seewolf, nach dem Messer greifend. »Wäret Ihr nicht ein alter Kamerad von mir, ich hätte Euch schon nach dem ersten Worte eine andere Antwort gegeben. Nehmt zurück, Steuermann, was Ihr gesagt habt! Das war etwas anderes bei mir; wir sind verraten worden, man hat uns ein Schlafmittel ins Essen getan. Nehmt es zurück!«
Auch der Steuermann war aufgesprungen, desgleichen die anderen Matrosen, bereit, sich auf den betrunkenen Seewolf zu werfen und ihn an einem Morde zu hindern.
»Ich nehme nichts zurück, was wahr ist,« rief der Steuermann dem mit glühenden Augen und verzerrtem Gesicht Dastehenden zu. »Ihr sprecht über andere, und denkt nicht an Euch selbst. Ebenso ist es mit van Guden. Hatte er auch ein paar Schrullen im Kopfe, das war doch ein Kerl, mit dem du dich ebensowenig vergleichen kannst, wie wir alle zusammen«
»Hund verdammter!« brüllte der Seewolf und wollte sich auf den Steuermann stürzen, das Messer in der Faust; der Chinese floh in einen Winkel, der Angegriffene wich etwas zurück und faßte einen Krug am Henkel, und die Matrosen streckten die Arme aus, um den Wütenden im rechten Moment packen zu können.
Aber es kam zu keiner blutigen Szene; wie gebannt blieben plötzlich alle stehen, so, wie sie sich eben befanden, hielten den Atem an und lauschten.
An der Tür wurde stark geklopft.
Des Seewolfs Wut hatte sich sofort gelegt, selbst der Rausch war verflogen, jetzt galt es, zu handeln.
»Wer ist es?« flüsterte er dem Chinesen zu.
»Ich weiß es nicht.«
»Sind wir hier sicher?«
»Ja, ich glaube, wenn ihr euch selbst nicht verraten habt.«
Das Pochen ließ nicht nach, sondern wurde immer stärker.
»Geht hin und fragt, wer es ist,« sagte der Seewolf und ließ sich wieder auf seinen Schemel nieder. »Setzt euch, Jungens, und tut, als hätten wir uns hier zu einer Kneiperei versammelt.«
Das Pochen wurde draußen immer fortgesetzt, es wurde immer schneller und ungestümer.
Der Chinese ging ängstlich nach der Tür.
»Wer ist draußen?« fragte er.
»Tod dem Verräter!« erklang eine flüsternde Stimme.
Wie elektrisiert sprangen alle auf und sahen sich mit bestürzter Miene um – es war das Erkennungszeichen der zum Bunde des Meisters Gehörigen.
»Oeffnet die Tür!« rief der Seewolf, sprang selbst hin und schob den Riegel zurück.
Er wäre bald zu Boden geworfen worden, mit solcher Gewalt stürzte ein Mann herein, nur mit zerfetzten Lumpen bedeckt, Gesicht und Hände über und über voll Blut, den Kopf verbunden, rannte gegen den Tisch und fiel dann erschöpft auf einen Stuhl, die Hände und den Kopf auf den Tisch legend.
»Ned!« rief einer der Matrosen. »Ned, in des Teufels Namen, bist du es wirklich?«
»Ned Carpenter,« klang es überall erstaunt wieder.
»Ich bin's!« hauchte der entsprungene Gefangene. »Gebt mir ein Glas Wein, oder die Besinnung verläßt mich!«
Der Kopf wurde ihm in die Höhe gehoben, das Glas an seine Lippen gesetzt und ihm der Wein hinabgegossen. Erst jetzt merkten die Matrosen, daß die Kleider des Entsprungenen so naß waren, daß das Wasser aus ihnen herabrann.
»Unglücksmensch!« sagte der Seewolf und trat dicht au den Matrosen heran. »Du bist verfolgt worden und hast dich hierher gewandt. Wir sind verloren, wenn man dich hier findet.« Der halb Besinnungslose schüttelte den Kopf.
»Ich bin jetzt sicher,« stöhnte er. »Ihr habt nichts zu fürchten.«
»Bist du verfolgt worden?«
»Verfolgt?« der Entsprungene lachte bitter. »Gejagt, gehetzt, müßt ihr sagen. Mit Hunden war man hinter mir her, aber ich bin ihnen doch entkommen.«
»Seit wann hat man deine Spur verloren?«
»Schon seit heute mittag.«
»Wo hast du dich verborgen gehalten?«
»Weit von hier, in einem undurchdringlichen Dornengebüsch, in das kein Mensch hinein kann, höchstens ein wildes Tier, und als solches bin ich ja behandelt worden.«
Seine Kleider gaben Zeugnis davon, daß er die Wahrheit sprach, denn sie waren buchstäblich in Fetzen zerrissen, und Gesicht und Hände zeigten Dornenrisse.
»Hat man dich gesehen, als du dich in dieser Vorstadt zeigtest? Bist du über die Brücke gegangen, oder hast du die Fähre benutzt?« forschte der Seewolf weiter.
»Durch den Kanal bin ich geschwommen, kein einziger Mensch hat mich gesehen. Ach, wie das Salzwasser brennt,« er griff bei diesen Worten an den Verband, der sich um seine Stirn schlang.
»Bist du verwundet worden?«
Ned schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein. Beim Springen aus dem Fenster bin ich mit der Stirn gegen den Boden geschlagen. Gebt mir noch ein Glas Wein!«
Der Genuß des Weines kräftigte den matten Mann sichtlich, er erholte sich langsam.
»Aber zum Teufel, so sprecht Euch doch aus! Woher wißt Ihr denn, daß wir hier versammelt sind? Das weiß doch sonst keiner, und Ihr lauft direkten Weges hierher?«
Dem Seewolf fiel es mit einem Male ein, daß dieser Mann nicht zufällig hierherkam, das konnte ja gar nicht sein, sondern daß er hergeschickt worden war, und er hatte sich nicht darin getäuscht.
»Wer führt unter euch den Namen Seewolf?« fragte Ned, sich im Kreise umblickend.
»Hier!« rief der Pirat, »was habt Ihr?«
»Dann ist dieser Brief für Euch!«
Er holte einen Brief hervor und händigte ihn dem Seewolf ein – er trug das Siegel des Meisters.
»Wie kommt Ihr zu diesem Schreiben?« fragte der alte Pirat erstaunt. »Ich denke doch, Ihr habt niemanden getroffen?«
»Doch, einen Mann, lest den Brief und gehorcht dem, was er sagt; ich weiß so ziemlich, was darin steht.«
Der Seewolf überflog den Inhalt, ein freudiges Lächeln erhellte sein Gesicht, »Hurra, Jungens!« schrie er fröhlich, »der Seewolf hat wieder ein Schiff, und ihr habt einen Kapitän. Aber,« wandte er sich etwas sorgenvoll an Ned Carpenter, »seid Ihr auch fähig, uns zu führen? Der Brief sagt, wir sollten uns Eurer Führung anvertrauen, Ihr wüßtet, wo ein Schiff läge, dessen wir uns bemächtigen könnten.«
»Ich bin es.«
»Auf denn, Jungens!« rief der alte Seewolf mit vor Freude blitzenden Augen. »Leert die Gläser auf unser neues Schiff und kommt mit! Ned, Herzensjunge, ich möchte dich umarmen, wenn du nicht so entsetzlich naß wärst.«
»Halt, halt,« beschwichtigte dieser, »wir haben noch einige Stunden Zeit, ehe wir das Schiff verlassen finden. Macht keine Torheiten durch Uebereilung, laßt uns lieber noch ein paar Krüge von diesem Weine leeren.«
Niemandem war dies lieber als den Matrosen. Die Gläser erklangen, die erst so traurige Stimmung der schiffslosen Mannschaft war plötzlich die lustigste geworden, sie hatten ja nun wieder Aussicht, ein Schiff zu bekommen.
Während der Seewolf das Schreiben mit dem Siegel sorgfältig verbrannte, betrachtete er Ned Carpenter von der Seite.
Das mußte ja ein ganz besonderer Mensch sein, da ihm ein solcher Auftrag zu teil wurde, und, wie er jetzt erzählte, war er von dem Manne, der ihm das Schreiben übergeben hatte, auf eine ganz wunderbare Weise gerettet worden. Nun, der Brief bewies ja, daß man ihm trauen könne, und außerdem bewies die Flucht Red Carpenters auch schon, was für eine tüchtige Kraft er war.
Einige Stunden vergingen noch, als Ned nach der Zeit fragte.
»Es ist gleich zwölf Uhr,« antwortete der Seewolf.
»Dann ist es Zeit, daß wir aufbrechen,« rief Ned und stand auf. »Wir haben noch einen kleinen Weg zu marschieren. Die Anordnungen gebe ich euch unterwegs, Kameraden, es ist nicht die geringste Gefahr bei der Wegnahme des Schiffes.«
»Aber so sprecht doch, wo liegt es denn, und wie kommt es, daß es verlassen ist?«
»Es ist nicht verlassen,« war die Antwort, »es ist sogar vollständig ausgerüstet und wartet nur auf die Bemannung. Ein alter Wächter, ein Engländer, ist darauf, aber der geht heute nacht zu einem Gelage, und da haben wir Gelegenheit, ohne jedes Aufsehen uns des Schiffes zu bemächtigen.«
»Wo liegt es denn, daß wir das können?«
»Etwas weiter von hier ab, es ist auf eine Sandbank aufgelaufen.«
»Auf eine Sandbank? Dann müssen wir es ja aber erst flottmachen?«
»Unsinn,« lachte Ned, »heute nacht um zwölf Uhr ist Springflut, das weiß der alte Wächter nicht, sonst würde er sich hüten, gerade um diese Zeit das Schiff zu verlassen.«