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Nordwärts ahoi! Blauer Himmel, blaues Meer, oben die lachende Sonne und im Wasser ihr zitterndes Spiegelbild.
O, du unendlicher Ozean, wie bist du so schön, wenn du deine schäumenden Wogen zornig schüttelst, wenn auf deinem Rücken die mächtigen Eisberge donnernd zusammenschlagen und in Myriaden von flimmernden Krystallstückchen auseinanderstäuben; wie erweitert sich das Herz bei einem solchen Anblicke, aber mit wie süßen Schmeicheleien weißt du das Gemüt zu bezaubern, zeigst du deine heitere Seite, den blauen Spiegel mit dem Bilde der Sonne darin!
Traurigkeit, Kummer, Sorge – sie müssen bei deinem Anblick fliehen, du lehrst, wie schön die Welt ist, und daß man in ihr sich nicht das Leben durch selbstgemachte Qualen verbittern soll, wenn wir Menschen sein wollen, welche über den Tieren stehen.
Die Geschöpfe freilich, welche in dir, du friedliches Meer, ihr Wesen treiben, haben weiter keine Gefühle, als nur ein einziges, das des Selbsterhaltungstriebes, aber die Natur gab ihnen kein Gewissen, welches sie lehrt, von sich selbst aus Recht und Unrecht zu unterscheiden; der Stärkere verschlingt den Schwächeren, und sie haben das Recht dazu; wenn dies aber bei der Menschheit ebenso geschieht, wird nicht einmal ein Richter auftreten, welcher Verantwortung fordert? Wird nicht am jüngsten Tage ihr Urteil gefällt, so wird sie doch diese Welt schon, oder ihr eigenes Gewissen richten – die Tiere brauchen dies nicht zu fürchten, die ihnen von der Natur angeborenen Eigenschaften sprechen sie frei. –
Die Haifische, die unzertrennlichen Begleiter eines jeden Schiffes in südlichen Gewässern, umschwärmten auflauernd die ›Vesta‹. Das über Bord geworfene Fleisch, die Reste der Mahlzeit, ein Lappen, ein Schuh, alles war ihnen willkommen, alles verschwand in ihrem gefräßigen Rachen, aber am liebsten hätten es diese Fische gesehen, wenn eine der sich über Bord lehnenden Gestalten ins Wasser gefallen wäre. Daß sie ein Mädchen zerrissen hätten, wäre ihnen gleichgültig gewesen, Schönheit gilt bei ihnen nichts, das an den Mast gebundene Kalb wäre ihnen ebenso lieb gewesen, als wenn sie eine Venus zum Frühstück bekommen hätten. Die Stillung des Hungers war bei ihnen die Hauptsache.
Gierig sahen sie an dem Schiffe empor, von dessen Bordwand die rosigen Gesichter herunterblickten, auf der die halbentblößten Arme lagen, so lecker anzusehen, daß den Haifischen das Wasser im Munde zusammengelaufen wäre, hätten sie nicht sowieso schon in Unmenge davon gehabt.
Aber das Wohlgefallen war nicht ein einseitiges, das heißt, nicht nur die Haifische beschäftigten sich in sehnsüchtigen Gedanken mit den Vestalinnen, sondern auch deren Aufmerksamkeit war auf die Tiere gerichtet.
»Nun schnell ein Stück Speck, aber nicht zu klein, die Tiere können eine tüchtige Portion vertragen,« rief [???] einer Vestalin zu, welche heute die Küche zu besorgen hatte.
Das Mädchen hämmerte bereits mit dem Holz[???] und Meißel an dem herbeigeholten Faß mit [???]speck.
»Sehen Sie sich vor, daß Ihnen Mister Youngpig nicht ins Gesicht springt,« lachte Miß Thomson. In geheucheltem Schrecken ließ das Mädchen den erhobenen Holzhammer sinken.
»Das ist auch wahr,« rief sie, »bis jetzt haben wir ihn noch nicht wiedergefunden, hier wird er aber wahrscheinlich drin sein.«
»Dann kommt er eben an die Angel,« lachte Ellen, die Mädchen waren bei vorzüglicher Laune; wie konnte es bei dem herrlichen Wetter anders sein? »Haben auch Sie in Ihrer Kabine alles ordentlich untersucht, daß sich der Reporter nirgends versteckt hat?« fragte das Mädchen, am Fasse weiterpochend.
»Alles,« versicherte Betty, »keinen Koffer habe ich undurchsucht gelassen.«
»In meinem Museum sieht es aus, als wäre darin eine Schlacht geschlagen worden,« ließ sich Hopes Stimme vernehmen, »ich habe nicht nur Koffer und Kisten durchwühlt, die Hutschachteln ausgepackt, sogar mein armes Krokodil habe ich aufgetrennt und nachgesehen, ob sich Mister Youngpig darin versteckt hat.«
»Und ich glaube doch, daß er hier ist,« sagte Miß Murrey, »in Yokohama hat er mir hoch und heilig geschworen, sich wieder an Bord der ›Vesta‹ zu begeben.«
»Was haben Sie ihm darauf geantwortet?«
»Dann würde er diesmal sicher die Peitsche zu fühlen bekommen und über Bord spazieren müssen, aber diese Drohung machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, er lachte darüber und zeigte mir die Photographien, die er bereits von uns und dem Inneren der ›Vesta‹ besitzt.«
»Es sollte wirklich ein empfindliches Exempel an ihm statuiert werden, hätte er sich abermals an Bord geschlichen,« sagte Miß Sarah Morgan.
»Und doch war es ein Glück, daß er an Bord war,« entgegnete Ellen. »Wer weiß, was unser Schicksal gewesen wäre, hätte der Reporter nicht den Plan jener Matrosen belauscht. Wir sind ihm großen Dank schuldig.«
Das Faß war geöffnet, ein Stück Speck wurde herausgenommen und dieses von Ellen geschickt an einem mächtigen Haken befestigt, mit welchem ein Haifisch gefangen werden sollte.
»Der Haifisch ist nicht eßbar?« fragte eins der Mädchen.
»Nein, sein Fleisch ist zäh und hat einen widerlichen Beigeschmack,« erklärte Ellen, »nur ganz junge Tiere kann man zur Not essen, aber die sind schwer zu fangen, weil natürlich die Alten beim Hineinwerfen des Köders die Jungen verdrängen und zuerst anbeißen.«
Das Fangen des Haifisches kann nicht mit einem gewöhnlichen Tau und Angelhaken vorgenommen werden, es gehört dazu eine ganz besondere Vorrichtung, dieselbe, wie man sie zum Fangen von Delphinen und Schweinsfischen anwendet.
Alle diese großen Fische haben nämlich die Angewohnheit, sobald sie merken, daß die in dem Köder steckende Angel mit dem Widerhaken ihnen ins Fleisch faßt, sich mit ungeheurer Schnelligkeit um sich selbst zu wälzen und nach rückwärts zu ziehen, wenn die Haken auch immer tiefer in die Eingeweide dringen.
Durch die blitzschnelle Bewegung wird das Tau aufgewickelt, die Kraft, mit der sie nach rückwärts streben, ist eine ungeheure, eben durch ihre eigene Schraubenbewegung, und selten findet man einmal ein Tau, welches dabei nicht reißt. Wenn es nicht aufgewickelt wird, so hält dagegen selbst ein schwaches und um dieses zu verhüten, hat man eine einfache Vorrichtung konstruiert.
Das Tau ist an seinem oberen Ende an einem Ringe befestigt, welcher drehbar ist, und der Fisch mag sich nun so schnell wälzen, wie er will, der Ring geht immer mit, also auch das Tau, und ein Aufwickeln der einzelnen Schnüre, oder, wie diese in der Seemannssprache heißen, der einzelnen Kathelen findet nicht statt, das Tau reißt nicht.
Kaum war das etwa kopfgroße Stück Speck klatschend in das Wasser gefallen, so entstand ein Pusten und Drängen im Wasser, alle Haifische schossen gleichzeitig darauf zu, stießen mit den Köpfen zusammen, fuhren wieder auseinander und begannen von neuem den Versuch, sich des leckeren Bissens zu bemächtigen.
Aber es ist dem gefräßigen Haifisch nicht so leicht, seiner Beute habhaft zu werden.
Der mit haarscharfen Zähnen bewehrte Rachen dieses Fisches sitzt nicht, wie bei anderen, vorn am Kopfe, sondern unten und zwar weit hinten, der Kopf bildet mit dem Bauche eine glatte Fläche und da, wo die Grenzlinie beider ist, befindet sich das leicht gebogene Maul.
Ehe der Haifisch seine Beute fassen kann, muß er sich stets erst auf den Rücken werfen, sie also von unten fassen, und haben einige Fische dasselbe Ziel im Auge, so vergeht oft lange Zeit, ehe einer von ihnen den Gegenstand zu packen bekommt, der eine Fisch dreht sich auf den Rücken, taucht unter, ehe er die Beute aber fassen kann, wird er von den anderen verdrängt. Dieses Spiel kann oft lange dauern, schließlich gelingt es aber doch einem Hai, die Beute zu verschlingen. Sofort ist sie in dem Rachen verschwunden, er schießt blitzschnell davon und wird von seinen Kameraden eine Strecke weit verfolgt, doch kehren diese bald nach dem Schiffe zurück, auf neue Beute wartend.
War der über Bord geworfene Gegenstand ein Köder, das heißt, verbarg er einen Haken am Tau, so kann der Fisch natürlich nicht fliehen, sondern beginnt sofort seine Umdrehungen, und die übrigen ziehen sich etwas von ihrem unglücklichen Gefährten zurück, ohne aber eine Warnung aus seinem Schicksal zu nehmen, denn auf den nächsten Köder schießen sie mit derselben Gier los.
So geschah es auch hier.
Schon nach einigen Minuten war es einem Haifische, einem mächtigen Tiere, mit Hilfe seiner riesigen Kraft gelungen, alle Rivalen zu verdrängen, er tauchte unter, drehte sich um, der voller Zähne starrende Rachen öffnete sich, ein Schnappen – und das Stück Speck war verschwunden.
Wie sich das Tier dann auch wand und riß, das Tau folgte allen seinen Bewegungen und gab nicht nach.
»Ueber den Block,« rief Ellen.
Nach der vorher gegebenen Anordnung wurde hinten an den oben befindlichen Ring noch ein Tau geknüpft, doch so, daß er sich noch drehen konnte, dieses Tau durch einen Block, das heißt über eine Rolle gezogen, aus welcher es nicht herausspringen kann, der Block an eine Raa emporgehißt und das Seil um eine Winde geschlungen. Jetzt begann die Arbeit der Mädchen.
Langsam wurde die Winde von ihnen in Bewegung gesetzt, und so sehr sich auch der Fisch sträubte, er wurde immer mehr aus dem Wasser emporgehoben, und schließlich hing der Fisch dicht am Schiffsrumpf, nur noch mit dem Schwanze, mit dem er wütend die Fluten peitschte, im Wasser. Aber seine Macht war gebrochen, er war nicht mehr fähig, die drohende Bewegung und das Reißen fortzusetzen.
»Hiev auf,« kommandierte Ellen.
Der Hai schwebte frei über der Bordwand, der Block wurde geschwenkt, das Tau wieder nachgelassen und das gewaltige, fast vier Meter lange Tier lag an Deck, furchtbar mit dem Schwanze um sich schlagend.
»Seht euch vor!« rief Ellen und entging selbst nur durch einen schnellen Sprung dem Schicksal, von einem Schlage getroffen zu werden.
Wie die Alligatoren, so können auch die großen Fische und ganz besonders die Haie ihre Schwanzflossen so kräftig gebrauchen, daß die durch einen Schlag getroffenen Knochen zerschmettert werden.
Doch das Raubtier sollte nicht lange seine Umgebung in respektvoller Entfernung halten, Ellen näherte sich ihm von der Seite – seine Zähne brauchte man nicht zu fürchten, denn der Kopf lag bewegungslos – und brachte ihm einen kräftigen Hieb mit einer Axt im Nacken bei. Noch einmal zuckte der Haifisch krampfhaft zusammen, er schnellte förmlich in die Höhe, schlug noch mehrere Male mit dem Schwanze so weit herum, daß dessen Spitze den eigenen Leib berührte, und war tot – der Axthieb hatte ihm das Rückgrat zerschnitten.
Die Mädchen schnitten zuerst den Leib des Riesen auf und öffneten den Magen, um sich davon zu überzeugen, was der Haifisch in letzter Zeit alles verschlungen hatte. Der Inhalt bezeugte, was für ein gefräßiges Tier der Hai ist.
Der Magen enthielt nicht nur das Stück Speck mit der Angel, sowie einen Scheuerlappen, welcher vor einer halben Stunde von einem Mädchen über Bord geworfen worden war, sondern, außer einer Unzahl von schon halb verdauten Fischen, auch noch eine Menge von solchen, deren Zustand verriet, daß sie soeben erst verschlungen worden waren.
Während der Haifisch hinter Schiffen herschwimmt und auf die über Bord geworfene Nahrung lauert, ist er fortwährend noch beschäftigt, größere und kleinere ihm begegnende Fische zu verschlingen, und seine Verdauungskraft ist so groß, daß er nimmer satt werden kann – der Haifisch, die Hyäne des Meeres, ist das gefräßigste Tier – er ist unersättlich, höchstens die Möwe kann mit ihm verglichen werden.
Mit geschickten Händen lösten die Mädchen dem Fische die Haut ab und hängten sie zum Trocknen auf, brachen die Kiefer aus, welche mit dreikantigen, spitzen und glasharten Zähnen gespickt waren und schälten noch das Rückgrat heraus. Der übrige Fisch wurde über Bord geworfen und das Deck von den Resten der blutigen Schlächterei gereinigt.
Das Rückgrat des Haifisches ist sehr geschmeidig, zugleich aber fest und unzerbrechlich und wird deshalb mit Vorliebe zu Spazierstöcken verarbeitet. Ist das Tier aber noch jung, so ist sein Rückgrat so geschmeidig, daß man es um die Hand wickeln kann, ohne es zu zerbrechen.
Ein Mädchen nahm das Stück Speck, aus welchem der Haken wieder entfernt worden war, aber sie wurde von Hope daran gehindert.
»Der Speck ist ja noch ganz gut,« sagte sie lachend, »den können wir noch zum Mittagessen verwenden.«
»Shocking!« riefen die umstehenden Mädchen aus.
»Das ist gar nichts Unglaubliches,« behauptete aber Hope, »Hannes Vogel hat mir schon erzählt, daß, wenn an Bord von Schiffen Haifische geangelt werden, der Speck aus dem Magen einfach herausgeschnitten wird und wieder ins Salzfaß zurückwandert, ob Sie es glauben oder nicht.«
Auch Miß Murray, welche schon größere Seereisen gemacht hatte, bestätigte das eben Gesagte. Die Passagierdampfer ausgenommen, gehen alle Schiffe sehr sparsam mit dem Proviant um, und am allermeisten die Segler. Der Koch, welcher mit dem ihm übergebenen Vorrat an Lebensmitteln langen muß, liefert den Speck zum Köder, läßt ihn aber nicht im Magen des Gefangenen, sondern verwendet ihn stets wieder für die Mannschaft.
Zu einem solchen Heroismus konnten sich die Damen, so gern sie sonst auch die Sitten der Seeleute nachahmten, nicht aufschwingen, auch brauchten sie mit dem mitgenommenen Proviant nicht eben sparsam umzugehen.
War das schöne Wetter, welches eine Arbeit in der Takelage unnötig machte, zu solch einem Sportvergnügen geeignet gewesen, so gestattete es auch Reinigungsarbeiten, welche weder bei unruhiger See, noch im Hafen gut vorgenommen werden können – nämlich das Waschen der Farbe an der Außenseite des Schiffes.
Die Vestalinnen machten sich daran, mit Sand und Seifenwasser die weiße Farbe des Außenbords abzuwaschen und dadurch dem Schiffe ein besseres Aussehen zu geben.
Bretter wurden an ihren Enden mit Tauen versehen, über Bord gelassen und an der Bordwand befestigt, sodaß die Mädchen auf ihnen sitzen oder stehen und das Abseifen vornehmen konnten.
Auf jedem Brett befand sich ein Mädchen, neben sich einen Eimer mit Seifenwasser und Sand, und bearbeite mit Lappen und Bürste die Weiße Farbe, während andere, Obenstehende dafür sorgten, daß das Brett auf den Zuruf der Arbeitenden bald höher gezogen, bald heruntergelassen wurde.
Es war dies eine an und für sich ungefährliche Arbeit, das Brett war breit, die Taue fest und die Vestalinnen bereits in allen seemännischen Verrichtungen zu bewandert, um durch ungleichmäßiges Anziehen oder Nachlassen der Taue das Brett in eine schiefe Lage zu bringen, wodurch die Daraufstehenden ins Wasser gefallen wären.
Das wäre schließlich auch weiter kein Unglück gewesen, die ›Vesta‹ fuhr langsam, das Wasser war warm, aber die Haifische unten hätten sich die leckere Beute nicht entgehen lassen – die Herabgestürzten wären sofort den scharfen Zähnen zum Opfer gefallen. Daher durfte das Brett auch nicht zu tief hinabgelassen werden, sonst hätte leicht ein Fisch emporschnellen und ein Mädchen ergreifen können, aber die untere Fläche dicht über der Wasserlinie war noch rein, weil diese schon bei mäßigem Seegang ja fortwährend von den Fluten überspült wurde.
Johanna befand sich unter den zehn Vestalinnen, welche den Platz auf dem Brette einnehmen sollten. Mit Hilfe von Miß Thomson und einem anderen Mädchen umschlang sie die Brettenden mit Tauen.
»Nehmen Sie lieber ein anderes Tau,« riet ihr Betty, »dieses ist schon sehr oft gebraucht worden.«
»Es ist noch stark genug, um meine Wenigkeit zu tragen,« entgegnete Johanna lächelnd.
»Seien Sie nicht unvorsichtig!« warnte aber Betty nochmals. »Ein Sturz ins Wasser ist dem sicheren Tode gleich zu achten. Sehen Sie nur da, wie die Haifische sich gerade hier versammelt haben und uns mit gierigen Augen anstarren.«
Johanna schlang das Seil, welches an einigen Stellen etwas schadhaft war, um einen Poller, stemmte sich gegen die Bordwand und zog mit aller Gewalt daran.
»Es hält,« sagte sie dann einfach, »es könnte selbst das Gewicht von einem halben Dutzend Personen tragen.«
Während die zu dieser Beschäftigung abgeteilten Mädchen, in der Seemannssprache »Außenbordreiniger« genannt, fleißig scheuerten und wuschen, hatten die übrigen andere Arbeit an Deck oder im Zwischendeck zu tun, und nur ab und zu sprangen sie hinzu, um auf Zuruf den Mädchen draußen den Eimer mit Wasser zu füllen oder die Stellung des Brettes zu verändern.
Ellen befand sich im Kartenhaus und beschäftigte sich mit Ordnen der Karten und Bücher, als plötzlich ein gellender Schrei ihr Ohr erreichte. Mit einem Sprunge hatte sie das Häuschen verlassen und sah, wie alle Mädchen, welche sich an Deck befanden, nach einer Stelle der Bordwand stürzten.
Eben schwang sich dort Johanna, bleich wie der Tod, an einem Tau über die Brüstung. Von dem zweiten Tau war nur der obere Teil an dem Kupfergeländer befestigt, der andere schleppte im Wasser nach, es war gerissen, ebenso lag auch das Brett mit einer Seite im Wasser.
Johanna hatte sorglos auf dem Brette gearbeitet, in ihre Arbeit völlig vertieft und nicht auf die unter ihr spielenden Haifische achtend.
Da plötzlich, ohne das geringste vorherige Anzeichen, wie etwa einen Ruck zu bemerken, hatte das Brett auf einer Seite nachgegeben, der Eimer war sofort abgerutscht und ins Wasser gestürzt, und der völlig ahnungslosen Johanna war dasselbe Schicksal beschieden. Schon berührten ihre Füße das Wasser, schon drängten sich die Haie um sie herum, wälzten sich auf dem Rücken und sperrten die drohenden Rachen auf, ihre Beute zu empfangen, als es dem Mädchen noch gelang, das festgebundene Tau zu ergreifen.
Sie schrie entsetzt auf, hatte aber noch die Geistesgegenwart, sich sofort emporzuziehen, und entging somit den unheimlichen Tieren, welche sich schnappend aus dem Wasser nach der entschlüpften Beute emporreckten.
Im nächsten Augenblicke stand Johanna, an allen Gliedern zitternd, an Deck – sie war gerettet.
»Das Tau ist gerissen,« rief Miß Thomson der herbeieilenden Kapitänin zu.
Ellen prüfte das an Deck liegende Seil und bestätigte nach der ersten Prüfung, daß es wirklich an einer schadhaften Stelle dem Gewicht nachgegeben habe und gerissen sei.
Nicht so Johanna!
Kaum hatte sie sich etwas von dem Schrecken erholt, so nahm sie kopfschüttelnd das Ende in die Hand und betrachtete es aufmerksam.
Plötzlich nahmen ihre Züge einen sonderbaren Ausdruck an.
»Dieses Tau ist nicht gerissen,« rief sie, »es ist angeschnitten worden, und dann erst sind die einzelnen Stricke geplatzt.«
Die Mädchen umdrängten die Sprecherin, welche etwas behauptete, was eine unter ihnen als Mörderin bezeichnete, besahen sich das Tau, konnten aber erst lange nichts finden, was diese Behauptung bestätigte, bis Johanna an einigen kaum bemerklichen Spuren bewies, daß hier wirklich ein scharfes Messer angesetzt worden war.
»Es ist nicht möglich!« rief Ellen jedoch. »Das Tau wird sich an dem kupfernen Geländer gescheuert haben und dadurch an der Stelle geschwächt worden sein, an welcher es aufgelegen hat.«
»Sehen Sie hier,« entgegnete Johanna und nahm das Ende des Seiles in die Höhe, »es ist nicht einmal lang genug, um den Rücken des Geländers erreichen zu können, also ist der Durchbruch auch nicht dort erfolgt. Nein, ich behaupte, daß hier mit einem Messer darüber gefahren worden ist, einige Kathelen sind durchgeschnitten worden, und die übrigen sind dann allerdings von selbst gerissen, weil sie mein Gewicht und das des Brettes allein nicht mehr zu tragen vermochten.«
»So hat eine der Damen im Vorbeigehen mit einem scharfen Gegenstande, etwa mit der Kante einer Kiste oder eines Fasses daran gestoßen, und dadurch ist der Schnitt entstanden,« sagte Ellen mit finsterem Gesicht und entschieden, »es ist nicht anders zu erklären, wenn Sie, Miß Lind, durchaus darauf bestehen wollen, daß das Seil durchschnitten worden ist.«
»Miß Lind,« ließ sich da auch Miß Murray vernehmen, und der Ton ihrer Stimme war ein ungehaltener, »fast scheint es mir, als ob Sie behaupten wollten, das Tau wäre von einer unter uns absichtlich durchschnitten worden, um Sie ins Wasser fallen und eine Beute der Haifische werden zu lassen. Wissen Sie jemanden unter uns, den Sie einer solchen Tat für fähig halten könnten? Haben Sie auch nur eine Vermutung, so sprechen Sie sie offen aus!«
Johanna antwortete nicht; sie wandte sich ab und beschäftigte sich damit, das Brett an Deck zu heben. Doch Ellen trat auf sie zu und sagte, die Hand auf ihre Schulter legend, in ernstem Tone:
»Miß Lind, Sie haben einen Argwohn ausgesprochen, so ungeheuerlich, daß ich ihn noch gar nicht fassen kann. Sagen Sie jetzt, ich verlange es von Ihnen, als Kapitänin ›Vesta‹, was veranlaßt Sie zu der schier unglaublichen Behauptung, daß dieses Tau absichtlich durchschnitten worden sei?«
Johanna antwortete noch immer nicht, sie schien die Worte kaum zu vernehmen, ihr Busen wogte stürmisch.
»Wäre es wirklich so,« fuhr Ellen fort, »so ist es klar, daß es mit der Absicht geschehen ist, Ihren Tod herbeizuführen, daß also eine unter uns Ihren Tod wünscht. Kennen Sie jemanden, der Grund dazu hätte? So sprechen Sie doch, Miß Lind, haben Sie eine Feindin unter uns, kennen Sie jemanden, dem Sie so etwas zutrauen?«
Nach und nach waren alle Mädchen herbeigekommen, die Kunde, daß an Miß Lind ein Mordversuch gemacht worden sei, hatte sich schnell verbreitet und war übertrieben worden; die aus dem Zwischendeck Kommenden erwarteten schon, ihre Gefährtin als Leiche vorzufinden, und hörten erst mit Entsetzen, dann mit wachsendem Unwillen von der Behauptung Johannas, der Schnitt wäre dem Tau absichtlich beigebracht worden, um sie ins Meer stürzen zu lassen.
»Ich habe nicht gesagt,« entgegnete Johanna endlich, »daß es auf mein Leben abgesehen, sondern nur, daß an dieses Tau ein Messer angesetzt worden ist.«
»Aber wer soll dies getan haben?« rief Ellen.
»Ich weiß es nicht, traue auch keiner einzigen meiner Freundinnen etwas Derartiges zu, und ich wüßte keine unter ihnen, die mir mit dieser Tat hätte schaden wollen,« sagte Johanna, »aber diejenige, welche es getan hat, wird wohl eine Ursache dazu gehabt haben.«
»Sie sind aufgeregt, der Schrecken gibt Ihnen solche Worte ein,« rief Ellen, nur mit Mühe ihren Unwillen beherrschend, »sonst würden Sie nicht so sprechen. Wer unter Ihnen, meine Damen, kann etwas aussagen, was die Behauptung von Miß Lind bestätigt? Hat jemand gesehen, daß kurz vorher, als sie das Brett unter den Füßen verlor und daher aufschrie, eine Vestalin in der Nähe der Taue war?«
Alle schüttelten die Köpfe; niemand konnte sich erinnern, in jenem Augenblicke jemanden dort gesehen zu haben, und meinten sie doch, eine oder die andere an der Bordwand erblickt zu haben, so sprachen sie deren Namen nicht aus, denn es wäre frevelhaft gewesen, die Freundinnen einer derartigen Tat beschuldigen zu wollen.
Ellen ließ sich nicht weiter auf das Vorkommnis ein, tief verstimmt ging sie in das Kartenhaus zurück.
Auch der anderen Mädchen hatte sich eine Mißstimmung bemächtigt; die anfangs so frohe Laune war dahin, der Unfall war es weniger, welcher den Wechsel der Laune bewirkte, vielmehr die Behauptungen, welche Johanna aufstellte, und welche wenig Glauben bei ihnen fanden. Viele konnten nicht einmal erkennen, daß das Tau überhaupt Spuren von Messerschnitten aufwies, nur den Scharfsichtigsten fiel es auf, und deren Aussagen mußten die anderen einfach glauben. Aber jede fühlte ein Mißbehagen, es war jeder zu Mute, als wäre die Beschuldigung, den Mordversuch vollführt zu haben, direkt gegen sie geschleudert worden.
Erst gegen Abend trat eine Aenderung der Stimmung ein.
Die Kapitänin konstatierte, daß man von dem eigentlichen Kurse, welcher nach Luzon, einer Insel der Philippinen-Gruppe führte, durch ungünstigen Wind und von der Seite kommende Strömung bedeutend abgewichen war. Ellen gab daher neue Segel- und Ruderkommandos.
»Wir werden bald durch eine Gruppe von Inseln segeln müssen,« erklärte sie, »welche zwar noch nicht zu den Philippinen gerechnet werden, aber ganz denselben Charakter tragen. Sie sind, ebenso wie diese, sehr vulkanisch, und zwar kamen vor etwa hundert Jahren so heftige Erderschütterungen auf ihnen vor, daß sie von ihren erschreckten Bewohnern verlassen worden sind. Einige der Inseln sind sogar vollständig unter der Wasseroberfläche verschwunden. Sie standen früher, ebenso wie jetzt die Philippinen, unter Oberhoheit der Spanier, welche auf ihnen bedeutende Städte und Forts errichtet hatten. Wie gesagt, jetzt sind sie nichts weiter, als öde, trostlose und menschenverlassene Eilande.«
Da meldete die auf dem Ausguck liegende Vestalin ein Segel voraus, und nicht lange dauerte es, so war man sich darüber einig, daß es ein stilliegendes Vollschiff war.
Der ›Amor‹ war noch immer in großer Entfernung hinter der ›Vesta‹ zu sehen.