Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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33.

Verrat.

»Lebe wohl, Afrika, lebt wohl ihr alle, die ihr uns treu zur Seite gestanden habt – es geht der Heimat zu!«

So rief Ellen und schwenkte auf der Kommandobrücke das weiße Taschentuch, ebenso wie an Deck die übrigen Damen. Am Lande standen die Beamten der Faktorei und winkten Abschiedsgrüße, die Neger schwangen die Arme in die Luft und sandten lachend und brüllend den Damen Kußhändchen nach, und auf dem ›Amor‹ lehnten die Herren an der Brüstung und riefen: »Auf Wiedersehen!«

»Es scheint doch so, als ob wir die Wette verlieren,« meinte die neben Ellen stehende Miß Murray. »Bis an die Westküste von Südamerika haben wir etwa 14 Tage zu segeln, und innerhalb dreißig Tagen soll uns der ›Amor‹ nicht erblicken.«

»Ich habe doch noch Hoffnung,« entgegnete Ellen. »Einmal können wir die Fahrt länger ausdehnen, und sind wir ihnen einmal, nur ein einziges Mal aus den Augen, dann ändern wir unseren Kurs, und sie finden uns nicht wieder. Da wir ausgemacht haben, jetzt in der Nacht ohne Laternen zu fahren, so soll uns dieses ein Leichtes sein. Da, jetzt lichtet auch der ›Amor‹ die Anker.«

»Es ist aber gefährlich und verboten, in der Nacht ohne Lichter zu fahren.«

»Wir müssen es eben einmal riskieren.«

»Und wenn wir ihnen nun entkommen sind, was dann?« fragte Jessy.

»Dann fahren wir direkt nach einem kleinen Hafen Süd-Amerikas und erkundigen uns, wo der ›Amor‹ vor Anker liegt. Nach Ablauf der dreißig Tagen fahren wir hin, und dann,« lachte Ellen, »lassen wir uns zu der gewonnenen Wette gratulieren.«

»Sie wissen also noch nicht, welchen Hafen wir anlaufen wollen?«

»Doch, aber ich habe den Namen noch nicht bekannt gemacht, weil eine oder die andere Vestalin ihn doch versehentlich ausplaudern könnte. Dann sagen Sie selbst, Miß Murray, ist es nicht geradezu wunderbar, daß die Engländer uns immer finden, wo wir auch liegen, und zwar nicht erst tagelang später, so, daß sie unseren Ankerplatz in irgend einem anderen Hafen erfahren haben könnten. Woher mag dies kommen?«

Miß Murray zuckte mit den Achseln.

»Es ist sonderbar, aber ich kann es mir nicht erklären. Manchmal sind wir zusammen gesegelt, manchmal haben wir ihnen den Namen selbst gesagt.«

»Aber manchmal konnten sie auch keine Ahnung von dem Bestimmungsorte haben, denn wir machten ihn erst unterwegs aus, wechselten sogar oft den Beschluß, und trotzdem fanden sie uns wieder. Nun, diesmal will ich es noch versuchen, indem ich ihnen erst entkomme und dann solch einen Hafen aufsuche, der gar nicht den Namen eines solchen verdient. Er besitzt weder Seeamt, noch Post, noch sonst etwas, auch auf den genauesten Karten ist er nicht angegeben.«

»Was für einer ist es?«

»Vor dem Frühstück, wenn die Wachen wechseln, werde ich die Vestalinnen zusammenrufen und ihnen den Namen verkünden. Ach, liebe Jessy, Sie glauben nicht, wie ich mich freue, die Heimat wiederzusehen!«

»Wir sind noch weit ab von New-York,« lächelte Jessy.

»Ich bezeichne ganz Amerika als meine Heimat,« sagte Ellen. »Dort kenne ich den Namen jedes Tieres, jedes Baumes, jeder Pflanze, ich kenne alle Sprachen, alle Gewohnheiten der Bewohner, der Eingeborenen, ich kann mich mit Indianern in ihrem eigenen Idiom unterhalten und habe in allen Gegenden gute Bekannte.«

»Sie sind also froh, daß diese Weltreise zu Ende geht? Wirklich, von Ihnen hätte ich das am allerwenigsten gedacht, wenn ich auch schon manchmal Aehnliches gemerkt habe.«

»Liebe Jessy,« antwortete Ellen, tief aufatmend, »ich fühle, daß ich als Kapitänin der ›Vesta‹ eine Last auf meine Schultern gelegt habe, unter deren Bürde ich manchmal, besonders in letzter Zeit, zusammenzubrechen drohe. Was ist der Kapitän eines Handelsschiffes gegen mich? Ihm ist es gleichgültig, ob er während der Reise einige seiner Leute einbüßt oder nicht, er mag wohl anfangs etwas Mitleid haben, das ist aber auch alles. Und ich? Ich zittere oft bei dem Gedanken, daß durch ein Unglück gar manche Vestalin die Heimat nicht wiedersehen dürfte. Zwei Damen haben uns schon verlassen, und ach, eine sogar, gerade die, welche ich liebte, ist ohne ein Wort des Abschiedes heimlich von mir geflüchtet.«

»Denken Sie nicht mehr daran,« tröstete Jessy ihre Freundin, »Sie haben keinen Grund, solche Sorge um uns zu tragen. Wir sind alle freiwillig an Bord gegangen, ich betone, Sie haben uns nicht veranlaßt, Ihnen zu folgen, sondern wir haben Sie als Kapitänin gewählt, und stößt uns ein Unglück zu, so müssen wir es geduldig ertragen, denn wir alle haben es uns selbst zuzuschreiben. Wie sich jemand bettet, so liegt er, Sie aber können sich von jeder Verantwortung freisprechen.«

»Ich habe aber nun einmal das Gefühl, als hätte ich doch eine solche auf mich genommen,« entgegnete Ellen, »und so oft ich mir dies auch ausrede, es gelingt mir nicht. Ich will herzlich froh sein, wenn wir erst amerikanischen Boden unter unseren Füßen haben. Dort drohen uns weniger Gefahren, wir können überallhin mit der Eisenbahn fahren, Militär steht uns überall zur Verfügung, was sollte uns also dort für ein Unglück zustoßen?« »Der Krieger, welcher von keinem Feinde zu besiegen ist, der aus jeder Schlacht wohlbehalten und siegreich hervorgeht, kann durch einen zufällig vom Dach herabfallenden Ziegelstein erschlagen werden,« antwortete Jessy nur, dann schwieg sie.

Sie wußte recht gut, was Ellen die Reise verleidet hatte, sie kannte den Schmerz, welcher deren Innerstes durchwühlte, aber keine der Vestalinnen konnte sich dazu aufschwingen, Ellen zu trösten, denn alle wußten, daß sie an ihrem Schmerz die Hauptschuld, ja, einige sagten sogar, die alleinige Schuld trug. Dort auf dem nachsegelnden Schiffe war die Ursache ihres Elendes, und wie leicht hätte sie dieses in Glück und Freude verwandeln können, aber Ellen hatte nun einmal einen Charakter, in dem maßloser Stolz vorherrschte. Jede Andeutung, daß sie sich versöhnen sollte, wies sie mit Entschiedenheit, ja sogar mit Heftigkeit zurück. So kam es, daß niemand auch nur den Versuch machte, mit ihr über den wunden Punkt zu sprechen.

Lord Harrlington wurde allgemein bedauert, noch nie hatte er die Sympathie der Damen so besessen wie jetzt, da man ihm ansah, wie sehr er unter der Entzweiung mit Ellen litt. Gar manche der Vestalinnen wäre bereit gewesen, seinetwegen Ellen die Freundschaft zu kündigen, wenn man nicht hoffte, das Mißverständnis würde sich noch lösen.

»Ich bitte die Damen, sich um das Steuerrad zu versammeln,« rief Ellen, als um acht Uhr – es war morgens – alle Damen an Deck erschienen, um sich abzulösen.

Eine Hauptversammlung wurde stets am Steuerrad abgehalten, damit die an demselben Stehende dabei sein könne.

»Es gilt, den Hafen zu bestimmen, welchen wir als Ziel festsetzen wollen,« begann Ellen und erklärte, warum sie jetzt erst den Namen nenne.

Daß man während der Nacht immer ohne Lichter segeln wollte, hatte Ellen schon früher vorgeschlagen, und es war ihr beigestimmt worden. Es war nun einmal Ellens Wunsch, dem ›Amor‹ zu entkommen, und wenn auch die meisten Vestalinnen es lieber gesehen hatten, wenn derselbe immer bei ihnen geblieben wäre, so fügten sie sich doch dem Wunsche der Kapitanin.

Und dann war es ja auch ganz hübsch, wenn man die Wette gewann, wenn sich die englischen Herren öffentlich von den Damen als besiegt erklären mußten. Später traf man wieder mit ihnen zusammen, wenn man nach Ablieferung der befreiten Mädchen New-York erreicht hatte.

Und dann? Ja, dann würde wohl so manches ans Tageslicht kommen, was während der Reise im Dunkeln gesponnen worden war. Denn so sehr es die Mädchen auch manchmal, wenn sie im engeren Kreise zusammen waren, einander abstritten, innerlich waren sie doch anderer Meinung, und gar manche dachte: Auf zwei oder drei Jahr Priestern, der ›Vesta‹ zu sein, ist ja ganz hübsch, aber immer? Nein, das wäre auf die Dauer langweilig, selbst Ellen, so sehr sie sich auch den gegenteiligen Anschein gibt, denkt im Herzen doch nicht anders als ich.

»Der Name dieses kleinen Hafens,« fuhr Ellen fort, »welcher so versteckt liegt, daß ihn sogar die Geographen noch nicht aus den Karten verzeichnet haben, ist Guanosaca, einige Meilen südlich von Arauco, welchen Hafen Sie wohl alle kennen. Wie der Name schon andeutet, wird dort Guano gestochen, fremde Schiffe kommen nur sehr selten dahin, ich meine, zu außergewöhnlicher Zeit, die Dampfer und Segler, welche dort anlaufen, um Guano zu laden, fahren regelmäßig und kehren direkt von dort wieder nach Europa oder Amerika zurück. Eine Postverbindung gibt es nicht, und so brauchen wir nicht zu fürchten, daß unser Aufenthalt dort verraten wird. Wir begeben uns in kleinen Seebooten nach Arauco, dortwerden uns schon die Herren wiederfinden, und behaupten dann, die ›Vesta‹ sei gescheitert, bis die dreißig Tage vorüber sind. Sind die Damen mit diesem Vorschlag einverstanden?«

Alle waren es.

»Guano ist doch der Unrat von Vögeln, der sich mit der Zeit angesammelt hat,« ließ sich ein Mädchen hören, »und so ist anzunehmen, daß in Guanosaca nicht eben eine angenehm duftende Luft weht.«

Die Damen mußten lachen, selbst Ellen stimmte mit ein.

»Nein, Guano riecht nicht,« erklärte sie dann, »der Verwesungs-Prozeß ist völlig vorüber, sonst würde Guanosaca ein sehr ungesunder Ort sein, während er im Gegenteil sehr gesund ist. Uebrigens werden Sie mir wohl nicht zutrauen, daß ich Sie nach einem Hafen führe, in dem es, mit Erlaubnis zu sagen, stinkt,« schloß Ellen lächelnd.

»Na, na,« flüsterte ein Mädchen einem anderen zu, »um dem ›Amor‹ zu entgehen, würde Miß Petersen noch einen ganz anderen Ort aufsuchen.«

Die Damen waren also mit den Vorschlägen einverstanden, sie zerstreuten sich wieder, um ihrer Arbeit nachzugehen. Johanna hatte das Amt des ersten Steuermannes übernommen und begab sich auf die Kommandobrücke.

Ellen war überzeugt, daß sie ihrer Freundin bitter unrecht getan hatte, als sie diese für eine Detektivin hielt, und suchte dieses Versehen durch doppelte Freundlichkeit wieder gut zu machen. Kein Wort wurde über jene Verwechselung verloren, auch über den, der den Irrtum herbeigeführt hatte, und den man seit jenem Abend nicht wieder gesehen, wurde nicht mehr gesprochen.

Den Führer desselben traf man in Mgwana, er erzählte, Mister Andersen hätte ihn in der Nähe der Küste entlasten und wäre allein weitergeritten.

Die beiden Mädchen unterhielten sich also über die noch an Bord befindlichen Schützlinge. Ellen fragte Johanna um Rat, wie man die Wege am besten zu wählen habe, um alle so schnell als möglich nach ihren entfernt voneinander liegenden Geburtsorten zu bringen. Sie nahmen dabei die Karten zu Hilfe, und wieder mußte Ellen einsehen, welch einen klaren und scharfsinnigen Kopf ihre Freundin besaß. Obgleich dieselbe noch nie in Südamerika gewesen war, wie sie sagte, wußte sie doch ebensogut und noch besser als Ellen dort Bescheid, rechnete mit allen möglichen Hindernissen, schloß aus den Sitten der Eingeborenen, deren Gebiete sie zu passieren hatten, auf etwaige Unannehmlichkeiten und wußte immer das richtige Mittel, um diese zu verhüten.

»Bitte, Johanna,« sagte Ellen nach Beendigung dieser Unterredung, »wollen Sie einmal hinunter in den untersten Raum gehen und nachsehen, ob die Wasserfässer gut angelascht (angebunden) sind? Es ist leicht möglich, daß wir diese Nacht einen heftigen Seegang bekommen, wodurch die Fässer ins Rollen geraten können.«

In Mgwana waren die alten Fässer durch neue ersetzt worden, und Johanna sollte sich nochmals davon überzeugen, ob sie gut angebunden waren. Die ›Vesta‹ schlingerte nur leicht, aber schon jetzt mußte zu erkennen sein, welche Fässer nicht genug angelascht waren, schon jetzt mußten sich an diesen die Stricke gelockert haben und sie sich etwas hin- und herbewegen

Johanna nahm eine Laterne und begab sich in das Zwischendeck, unter welchem sich der Raum befand, in dem gewöhnlich der Wasservorrat aufbewahrt wird. Das Mädchen schloß einen Lukendeckel auf, hob ihn vom Boden empor und stieg langsam eine Treppe hinunter, die in diesen Raum führte.

Hier war es völlig dunkel. Die Laterne beleuchtete die eisernen Tanks und die Fässer, in denen sich das Wasser befand.

Tanks sind große, eiserne Behälter, Reservoire, welche jetzt alle Schiffe mit sich führen. In ihnen wird das Wasser aufgehoben, welches zum Waschen diente während die Holzfässer das Trinkwasser enthalten, dem das Wasser hält sich in Tanks nicht so gut wie in Holzfässern, es nimmt zu sehr den Eisengeschmack an. Da die ›Vesta‹ viel Wasser brauchte und auch viel mitnehmen konnte, da sie sonst keine Ladung barg, so waren hier mehrere große Tanks und viele Fässer vorhanden.

Als Johanna von der Leiter herab in den Raum trat, fiel das Licht der Laterne plötzlich auf eine Gestalt, die ihr entgegenkam.

»Miß Morgan,« rief sie erstaunt, »wie kommen Sie hierher?«

»Ich hörte im Zwischendeck unter mir ein Rauschen. Ich fürchtete, ein Tank oder Faß möchte gebrochen und das Wasser ausgelaufen sein und wollte mich sofort davon überzeugen,« antwortete Miß Morgan.

»Aber die Luke war doch oben zugeschlossen,« sagte Johanna verwundert.

»War sie das? So hat eine Dame sie offen gefunden, glaubte wahrscheinlich, sie wäre versehentlich offen gelassen worden und hat sie zugedeckt. Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, wenn man mich eingeschlossen hätte,« fügte sie lachend hinzu.

»Nun, Sie hätten ja nur zu klopfen brauchen,« meinte Johanna gleichgültig und begann die Untersuchung der Fässer, welche sie alle in gutem Zustande fand.

Während dieser Beschäftigung blieb Miß Morgan immer bei ihr, unterhielt sich mit ihr über dieses und jenes und begab sich mit Johanna wieder nach oben.

Diese teilte weder der Kapitänin, noch irgend einer anderen mit, daß sie Miß Morgan unten in der Wasserlast – so lautet der seemännische Ausdruck für diesen Raum – eingeschlossen gefunden, fragte auch nicht, wer die offenstehende Luke zugeschlossen habe.

Ganz anders verhielt sich Miß Morgan.

Sie beklagte sich bei Ellen, daß man sie in der Wasserlast eingeschlossen habe, als sie sich von dem vermeintlichen Wasserrauschen überzeugen wollte, vielleicht hätte sie stundenlang, ja tagelang dort stecken können, wenn ihr Klopfen nicht gehört worden wäre.

Ellen ließ die Vestalinnen zusammenrufen und fragte, wer die Luke wieder zugedeckt habe.

Es erfolgte keine Antwort. Jede behauptete, nichts davon zu wissen.

Die Sache wurde fallen gelassen, man nahm an, daß eine der Damen in Gedanken den Lukendeckel aufgesetzt und verschlossen habe. Niemand dachte daran, daß hier eine Absichtlichkeit vorliegen könnte. Es wäre ein kindischer Spaß gewesen, jemanden in der Wasserlast einzuschließen, und die Person, welche am allerwenigsten an so etwas glaubte, war – Johanna.

Um zwölf Uhr kam Miß Morgan an die Reihe, die ›Vesta‹ zu steuern, und Johanna wurde abgelöst.

Kaum stand Miß Morgan am Steuernd, so verließ Johanna den Salon, wo das gemeinschaftliche Mittagsmahl eingenommen wurde, und begab sich in den Gang, von welchem aus man die einzelnen Kabinen betrat.

Niemand war auf demselben zu sehen, die Wache befand sich an Deck, die Freimache im Salon beim Mittagessen. Die Speisen wurden nicht durch den Gang getragen, sondern mittels eines Aufzuges von der Kombüse aus direkt in den Salon hineingelassen.

Vor der Tür, welche in Miß Morgans Kabine führte, blieb Johanna stehen, klinkte am Schloß und versuchte zu öffnen.

Die Tür war verschlossen.

Einen Augenblick blieb Johanna nachdenkend stehen, dann zog sie einen seltsam gebogenen Haken aus der Tasche und betrachtete das Schloß. Die Kapitänin besaß einen Schlüssel, welcher alle Kabinentüren öffnete, aber mit diesem Instrument war auch Johanna im stande, das Schloß zu öffnen, und wenn es noch so kompliziert gearbeitet gewesen wäre.

Schon wollte sie den Haken ins Schloß stecken, als sie wieder einhielt, etwas vor sich hinmurmelte, den Schlüssel in der Tasche verbarg und die Tür verließ.

»Miß Morgan ist zu schlau,« murmelte sie, »sie hat ein unmerkliches Zeichen, wenn jemand die Tür öffnet, und vielleicht finde ich nichts in der Kabine.«

Johanna begab sich nach jener Luke, welche nach der Wasserlast führte, öffnete den Deckel und stieg zum zweiten Male die Treppe hinunter.

In diesem Augenblicke kam Ellen durch den Gang.

»Johanna,« rief sie erstaunt, »wir vermissen Sie bei Tisch! Was wollen Sie unten? Funktioniert die Pumpe nicht?«

Das Wasser wird von unten durch mehrere Pumpen an Deck befördert.

»Ich wollte noch einmal nach einem Fasse sehen,« entgegnete Johanna, »die Stricke des einen sind etwas schwach, und da das Schiff jetzt stärker schlingert, so könnten sie doch noch nachgeben.«

»Sie sind zu diensteifrig,« lachte Ellen der in der Luke Verschwindenden nach.

»Besorgt ist das richtige Wort,« tönte es von unten herauf.

Johanna setzte die mitgenommene Lampe in Brand und ging, die Augen auf die niedrige Decke geheftet, nach einer bestimmten Stelle in der Wasserlast und musterte dort noch schärfer die Decke. Sie bemerkte nichts Außergewöhnliches.

»Gerade hier darüber befindet sich die Kabine von Miß Morgan,« murmelte sie.

Sie stieg auf ein Faß, welches auf dieser Stelle lag, und berührte mit dem Kopfe die Decke, wenn sie sich aufrichtete, sie mußte also gebückt stehen. Aufmerksam betrachtete sie die eingesetzten Bretter, dieselben beleuchtend, aber auch jetzt konnte sie nicht das geringste Verdächtige bemerken. Nun setzte sie die Lampe auf das Faß, stemmte beide Arme gegen ein Brett und versuchte, es aufzuheben, vermochte aber dieses ebensowenig, wie die anderen hochzustemmen, obgleich sie in ihrer jetzigen Lage eine bedeutende Kraft entwickeln konnte.

Johanna hatte sich vorher über die Lage von Miß Morgans Kabine orientiert; sie konnte hier unten ganz genau angeben, wie weit der Fußboden dieser Kabine reichte, aber wie sie auch jedes einzelne Brett untersuchte und emporzuheben sich bemühte, keine Planke zeigte eine Spur, noch bewegte sie sich im mindesten in ihren Fugen.

»Und doch möchte ich darauf schwören,« flüsterte sie, »Miß Morgan hat ihren Weg in die Wasserlast durch den Fußboden ihrer Kabine genommen; eine Ahnung, oder wie man es sonst auch nennen mag, sagt es mir, und noch nie hat mich eine solche getäuscht. Aber was mag sie hier unten zu suchen gehabt haben?

»Ihre Aussage war eine leere Ausflucht, sie hat hier etwas ganz anderes gesucht. Aber was? Warum hat sie sich einen geheimen Eingang zur Wasserlast verschafft? Das einzige wäre, daß sie hier ein Versteck hat, und ist ein solches da, so werde ich es finden.«

Sie stieg vom Faß, nahm die Laterne und begann eine Untersuchung des Raumes.

Die Wasserlast war leicht zu übersehen. Es standen vier eiserne Tanks darin, dicht an der Wand, und zehn Fässer, ziemlich weit voneinander entfernt. Johanna untersuchte alles gründlich, und zwar mit dem Auge des Detektiven. Nichts wäre ihrer Aufmerksamkeit entgangen, aber sie fand keinen Anhalt für ihren Verdacht. Sie besah die Verschlüsse der Tanks – die Schrauben waren fest angezogen, die Spunde der Fässer waren nicht angetastet worden; Johanna kroch unter die letzteren, den dunkelsten und entferntesten Fleck beleuchtete und befühlte sie; ab und zu klopfte sie mit dem Finger an die Wand oder den Fußboden, aber es war vergeblich.

»Ich muß Miß Morgan noch genauer beobachten,« dachte sie, »einmal werde ich sie schon fassen. Vielleicht habe ich auch eine günstige Gelegenheit, in ihre Kabine zu kommen.«

Sie stieg wieder ans Zwischendeck und suchte im Salon ihre Freundinnen auf. – – –

Die Nacht brach an, Dunkelheit lagerte sich über das Meer; auf dem ›Amor‹ waren schon die grünen und roten Seitenlichter, wie auch die Toplaterne angezündet worden, aber auf der ›Vesta‹ traf man keine Vorbereitungen dazu. Ebensowenig wie die Brigg von der ›Vesta‹ gesehen werden konnte, sondern nur die Lichter, so konnten die Engländer auch nicht mehr das Vollschiff sehen, selbst nicht mit dem besten Nachtfernrohr, denn mittels desselben ist nur eine kleine Entfernung zu überblicken.

Das Nachtfernrohr besitzt im Inneren zwei kleine Spiegel, von denen der eine einen Lichtstrahl auffängt und ihn nach dem anderen Spiegel wirft, von welchem dieser Lichtstrahl weiter durch das Fernrohr geht und den Gegenstand beleuchtet, den man beobachten will. Es gehört eine große Uebung dazu, das Fernrohr immer so zu drehen, daß das Licht der hinter dem Beobachter stehenden Flamme immer gerade dahin reflektiert wird, wohin man sehen will.

Das Nachtfernrohr ist eine schöne Erfindung, aber im Gebrauch recht mangelhaft. Man kann den Gegenstand, den man vor sich hat, wohl erkennen, es ist aber unmöglich, einen Gegenstand, von dem man nicht weiß, wo er ist, in der Nacht damit zu finden. Ueber das Nachtfernrohr wird viel erzählt, was auf Übertreibung beruht.

»Jetzt oder nie wird es uns gelingen,« sagte Ellen, »dem ›Amor‹ zu entkommen. Es ist eine stockfinstere Nacht, der Mond geht erst des Morgens für eine Stunde auf. Wer hat um zehn Uhr das Steuerrad zu bedienen?«

»Ich,« entgegnete Miß Morgan, »an mir ist heute die Reihe.«

»So steuern Sie, wenn Sie das Rad übernehmen, direkt Westen, wir sind genug südlich gefahren. Morgen nehmen wir den alten Kurs wieder auf. Will doch sehen, ob der ›Amor‹ uns diesmal wiederfinden kann. Also Westen, Miß Morgan.«

»Ich wollte Sie bitten, mich für heute abend durch eine andere Dame vertreten zu lassen,« sagte Miß Morgan schnell, »ich fühle mich etwas unwohl.«

»Wer von den Damen will Miß Morgan vertreten?« fragte die Kapitänin die Umstehenden.

»Hier!« rief ein Mädchen und trat hervor.

»Gut, so nehmen Sie also um zehn Uhr den neuen Kurs auf. Es fehlen nur noch zehn Minuten bis dahin.«

Die Damen zerstreuten sich, um sich vorzubereiten, das heißt, die Wache löste nur unter sich ab, nämlich der Ausguck, auf der Back stehend und etwaige Schiffe meldend, und der Posten am Steuerrad.

Die Wache, zu welcher Johanna gehörte, kam erst um zwölf Uhr an Deck.

Miß Morgan ging nach dem Hinterteil des Schiffes und legte sich, ohne erst Vorbereitungen zu treffen, einfach auf Deck nieder.

»Wollen Sie nicht lieber zur Koje gehen?« fragte Ellen, als sie bei einem Rundgang an Miß Morgan vorüberkam.

»Nein, ich muß an der frischen Luft bleiben, in der Kabine ist es mir zu schwül. Der Schwindelanfall wird schnell vorübergehen,« antwortete das Mädchen und drehte sich auf die Seite.

Ellen ging; auf der ›Vesta‹ hatte jedes Mädchen freien Willen, genötigt wurde nicht.

Kaum war Ellen fort, so kroch jedoch Miß Morgan leise vorwärts, legte sich dann glatt hin und drückte das Auge fest auf eine bestimmte Stelle des Decks. Gerade darunter befand sich die Kabine von Johanna.

Diese Kabine lag nicht, wie die anderen, an der Seite des Schiffes, sondern am Heck, ebenso wie noch eine zweite nebenan. Die Auswechslung der Posten war vor sich gegangen, die an Deck Befindlichen unterließen jedes unnötige Geräusch, hauptsächlich alles Stampfen, um die in ihren Kabinen Schlafenden nicht zu stören.

Ellen stand allein auf der Kommandobrücke und beobachtete den ›Amor‹, dessen drei Hauptlichter man immer noch deutlich erkennen konnte, ebenso wie die erleuchteten Bullaugen, also die Fensterchen am Rumpf, bald aber mußte man durch die neue Richtung so weit entfernt sein, daß die Lichter nicht mehr zu sehen waren.

Da huschte plötzlich von hinten eine weiße Gestalt nach der Kommandobrücke, war mit einem Satze die Treppe hinauf und stand vor Ellen. Es war Miß Morgan, mit fieberhaft gerötetem Gesicht und funkelnden Augen.

»Sie wollten bewiesen haben, daß Miß Lind eine Detektivin ist und im Bunde mit den Engländern steht,« flüsterte sie hastig, ehe Ellen noch den Mund auftun konnte, »Kommen Sie, ich werde den Beweis liefern!«

Mit einem Sprunge war sie im Kartenhaus, riß den großen Spiegel von der Wand, war wieder bei Ellen, faßte sie am Arm und riß sie mit sich fort, die Treppe hinunter, dann nach dem Heck eilend.

Ellen wußte nicht, wie ihr geschah. Willig ließ sie sich mit fortziehen, dabei ebenso leise auftretend, wie ihre Führerin, obgleich die leichten Segeltuchschuhe sowieso auf dem Holz das Geräusch der Schritte dämpften.

Miß Morgan eilte ans Heck, ließ dort Ellen los, nahm den Spiegel unter dem Arm hervor, lehnte sich so weit als möglich heraus und hielt den Spiegel etwas schräg in den ausgestreckten Händen.

In dem Spiegel konnte man das Bullauge von Johannas Kabine erblicken und sehen, wie an dieses bald ein Tuch angehalten, bald wieder weggezogen wurde, so daß sich das Fenster bald verdunkelte, bald erhellte.

»Was sehen Sie?« flüsterte Miß Morgan.

»Es wird signalisiert,« gab Ellen erstaunt zurück. »Ja, es ist erst der Anfang. Nun beobachten Sie den ›Amor‹.«

In diesem Augenblick wurde die Toplaterne auf dem ›Amor‹ heruntergelassen, blieb eine halbe Minute unten und wurde dann wieder gehißt, als wäre sie an Deck nachgesehen worden.

»Es war das Verstandenzeichen,« flüsterte Miß Morgan wieder, »nun passen Sie auf, was Miß Lind signalisiert.«

Das Tuch wurde nicht mehr wie vorhin gleichzeitig angehalten und abgenommen, sondern so, daß das Bullauge einmal nur einen Augenblick, dann wieder für längere Zeit erleuchtet blieb, und da dies in verschiedener Reihenfolge stattfand, so entstand dadurch eine Zeichenschrift, auf der See viel angewandt, deren Zeichen mit den Punkten und Strichen der Telegraphie verglichen werden können. Dadurch ist eine vollkommene Verständigung möglich.

Ellen blickte mit starrem Auge in den Spiegel und begann abzulesen:

»G–u–a–n–o–s–a–c–a, Guanosaca,« flüsterte sie mit bebender Lippe, »b–e–i, bei A–r–a–u ..«

Sie las nicht weiter, sie hatte genug verstanden. Sie fühlte, wie ihr plötzlich das Blut in den Kopf stieg, ein Zittern überlief ihre Glieder, dann jagte sie zurück nach dem zum Zwischendeck führenden Eingang, sprang mit einem Satz die Treppen hinunter und lief, nein, stürzte nach der hintersten Tür, welche zu Johannas Kabine gehörte.

Sie brauchte nicht erst die Türe zu öffnen – sie wäre doch verschlossen gewesen – so heftig war der Lauf Ellens gewesen, daß sie, als sie mit der Schulter an die Tür anprallte, das Schloß aufsprengte, die Tür flog zurück – und vor Ellen stand Johanna, die wie vom Blitz getroffen, auf ihrem Sofa zusammensank.

Hochaufgerichtet stand Ellen in der Tür, das bleiche Gesicht mit den rollenden Augen auf die Dasitzende gerichtet, die sie wie entgeistert ansah.

»Sie haben nach dem ›Amor‹ signalisiert?« fragte« Ellen mit vor Aufregung zitternder Stimme.

Die Antwort blieb aus.

»Sprechen Sie,« fuhr Ellen das Mädchen an und trat auf sie zu, »Sie haben dem ›Amor‹ den Namen des ausgemachten Hafens zusignalisiert. Gestehen Sie, Ihr Leugnen würde Ihnen jetzt nichts mehr helfen.«

Da sprang Johanna plötzlich auf und schaute der Kapitänin voll in die Augen.

»Ja, ich habe es getan,« rief sie, »meine Rolle ist hier ausgespielt. Gott sei gedankt, daß ich Ihretwegen nicht mehr zu lügen brauche!«


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