Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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15.

Die Verlobung in den Wolken.

Neuseeland zerfällt in zwei Teile, in die Nordinsel und in die Südinsel, welche beide durch die Cookstraße, an der schmalen Stelle nur zehn Seemeilen breit, voneinander getrennt werden.

Die Nordinsel, von den Eingeborenen Te-Ika-a-Maui, das heißt, Schiff des Maui, genannt, ist ein mehr ebenes Land, hat aber viele Vulkane, darunter noch feuerspeiende, so zum Beispiel den Tongariro, welcher dem lieben Leser schon vorgeführt worden ist. Außerdem besitzt diese Insel viele kochende Quellen.

Die Südinsel, von den Eingeborenen mit Te-Wahi-Punamu bezeichnet, das heißt Ort des Grünsteins, ist dagegen durchweg gebirgig, viel mehr als die Nordinsel. Ein Gebirgszug ist von den Geographen Southern-Alps genannt worden, und er verdient diesen Namen, denn er wetteifert mit den Alpen Deutschlands an Schönheit und Mächtigkeit. Sein höchster Berg ist der Mount Cook, der Ahonrangio der Polynesier, 3760 Meter hoch.

In diesem Gebirge wird viel Erz gegraben, Gold findet sich häufig vor, besonders in dem Westabhange des Southern-Alps, wo sie steil nach einem Plateau abfallen, welches sich bis dicht ans Meer erstreckt. Hier liegt auch Hokitika, eine Stadt, in deren Umgebung das meiste Gold gefunden wird. Außerdem hat die Insel noch zahlreiche Fundgruben von Edelsteinen aufzuweisen, ferner den Neuseeland eigentümlichen Grünstein, welcher, wenn er geschliffen ist, ein sehr schönes Aussehen hat und zur Fabrikation von Schmucksachen, Schalen, Tellern und so weiter verwendet wird, in der die Eingeborenen großes Geschick besitzen. Nach ihm haben die Maoris diesen Teil des Landes benannt.

Von eingeborenen Führern geleitet, bewegte sich ein langer Zug von Damen und Herren auf schmalen Paßgängen dem Gipfel des Mount Cook zu. Sie hatten am frühen Morgen Hokitika mit der Eisenbahn verlassen, waren in der Nähe des Gebirges ausgestiegen und hatten nach Überschreitung des Plateaus den Aufstieg auf den Berg ungesäumt begonnen.

Ein wunderschönes Bild bot sich ihnen dar.

Zur Linken stiegen die Felswände himmelhoch an, zur Rechten, dem Westen zu, fielen sie jäh ab und gestatteten den Wanderern einen Blick in die Tiefe, die sich vor ihnen auftat.

Alles unter ihnen war grün, bedeckt mit Farren und Kaurifichten, und wendete sich der Blick nach oben, so sah er nichts als Schnee, der wie mit einem Leichentuche die ganze Landschaft bedeckte. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo sich andere Berge erhoben, konnten sie genau erkennen, wie die Vegetation nach und nach abnahm, bis sie in einer Höhe von zweitausend Metern, der sogenannten Schneegrenze, völlig aufhörte.

Die Gesellschaft befand sich zwar noch unterhalb der Region des ewigen Schneees, aber man hätte dies nicht gemerkt, wenn nicht die mitgenommenen Barometer die Höhe über dem Wasserspiegel verraten hätten. Denn die Luft war an dem frühen Morgen sehr kühl, die Finger erstarrten, und der schmale Weg, auf dem sie sich bewegten, bot nichts Grünes. Höchstens, daß sich hier und da einmal ein winziges Farnkraut durch eine Spalte drängte und die wärmende Sonne zitternd erwartete, dem dummen Vogel oder dem unvernünftigen Winde zürnend, der den Samen in diese unfruchtbare Gegend getragen und somit die Existenz der Pflanze hervorgerufen hatte.

In der Mitte des Zuges gingen drei Männer und zwei Damen zusammen, so gut es die Enge des Felspfades gestattete, und suchten sich teils durch Betrachtung der Aussicht, teils durch Gespräche über die Beschwerlichkeit des steilen Weges hinwegzusetzen.

Einer der Männer gehörte nicht zu unseren Freunden. Er verdiente den Namen eines Mannes eigentlich noch nicht, wenn diese Bezeichnung nur an ein älteres Aussehen oder gar etwa an das Vorhandensein eines Bartes gebunden wäre, aber diesem bartlosen Gesichte, das einem Jüngling gehörte, sah man an dem festen Blicke, den energischen Zügen und den wettergebräunten Wangen an, daß sein Eigentümer doch ein Mann war, der gar manchen in den Schatten stellte, der älter aussah und war.

Es war Freiherr Johannes von Schwarzburg, der zwar noch nicht älteste, aber am weitesten gereiste Kadett Seiner Majestät Kreuzerkorvette »Victoria« – und bei Seeleuten wird das Alter nach der Seefahrtszeit gerechnet.

Er befand sich mit unter den Offizieren, welche der Aufforderung der Damen, an dem Ausflüge teilzunehmen, nachgekommen waren. Der junge Kadett hatte sofort jene Dame, die kleine Miß, wie er sie seitdem seinen Kameraden gegenüber immer nannte, wieder herausgefunden, welche ihm einst im Garten von Batavia den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte, als sie ihm eine Lektion über Seemannskunst erteilte. Obgleich er nicht gerade sagen konnte, daß er damals besonders bezaubert von ihr ging, so war doch etwas, was ihn sofort wieder in die Nähe des jungen Mädchens zog.

Aber ach, der Kadett wäre am liebsten wieder umgekehrt.

Da stand auch schon ihr Kompagnon, jenen Matrose, der ihr im Erklären der Takelage noch über war. Und richtig, gerade, als er Miß Staunton begrüßen wollte, setzte ihr der Matrose ganz genau auseinander, wie man am besten die Seestiefel mit Lebertran einschmieren muß, um sie vor dem Steifwerden zu schützen und sie doch auch nicht zu geschmeidig zu machen.

»Guten Morgen, Miß Staunton,« hatte der Kadett gesagt, »darf ich mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen?«

»Danke sehr, fünf Unzen Lebertran, und zwei Unzen Talg sagst du, Hannes?«

Das war schon ein guter Anfang; dem Kadetten blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis Hannes das Rezept und seine Anwendung ganz genau beschrieben hatte.

Dann aber, Gott sei Dank, wurde nicht mehr so viel über solche seemännisch-wissenschaftliche Gegenstände debattiert, bald fand der Kadett, daß Hope, wie auch Hannes, ganz ausgezeichnete Gesellschafter waren, und wie sich gleiche Naturen immer anziehen, so dauerte es nicht lange, und Charles, sowie Miß Thomson, hatten sich zu ihnen gesellt.

Das Gespräch kam auf das jüngste Abenteuer in dem Gange des Vulkans, bei welchem Hannes eine Hauptrolle gespielt hatte.

»Merkwürdig, was Sie für eine Natur haben,« meinte der Kadett zu Hannes, diesen wirklich bewundernd, »mit einer Pfeilwunde im Halse nach acht Tagen schon wieder fähig einen Bergriesen zu besteigen.«

»Das kommt davon, wenn man statt blauen Blutes, rotes in den Adern hat, das hat mehr Widerstandsfähigkeit und heilt besser,« antwortete Hope für ihren, Hannes, mit einem Anfluge von Stolz.

Hannes selbst verstand nicht den Sinn dieser Worte, wohl aber die übrigen, und am besten der Kadett, dessen Gesicht mit einer Purpurröte übergossen wurde. Hope spielte darauf an, daß die Adligen, einer Redensart zufolge, behaupten, blaues Blut in den Adern fließen zu haben, welches viel empfindlicher sei, als das der Bürgerlichen, eigentlich weniger empfindsam für Schäden des Körpers, als vielmehr für die der Ehre.

Während Hannes verwundert aufschaute, konnten die anderen kaum ein merkliches Lachen unterdrücken.

»Oho,« entgegnete der Kadett, »Sie unterschätzen uns doch, wenn Sie glauben, unser blaues Blut, wie Sie es bezeichnen, hindere uns am Aushalten von Schmerzen. Ihnen, als Amerikanerin, kann ich so etwas nicht übelnehmen, ich kenne den Haß oder die Verachtung, welche Sie und Ihre Landsleute gegen uns Adlige alten Geschlechtes hegen, aber ich glaube, unsere Väter haben gezeigt, daß das blaue Blut nicht zu verachten ist. Kennen Sie die deutsche Geschichte, Miß Staunton?«

»Ich kenne sie,« sagte Hope. Und da es in ihrem lebhaften Charakter lag, von einem Gegenstande schnell auf einen anderen überzuspringen, fuhr sie fort: »Haben Sie auch Vorfahren, von denen Sie rühmen können, daß sie ihrem Vaterlande mit Gut und Blut gedient haben? Ich muß gestehen, mein Vaterland hat wenige solche Helden aufzuweisen, wie man ihnen beim Lesen von Deutschlands Geschichte auf Schritt und Tritt begegnet.«

»Ob ich solche Ahnen habe?« rief der junge Kadett, und seine Wangen glühten, seine Augen strahlten plötzlich vor Begeisterung; er war stehen geblieben, die Arme nach dem Osten ausbreitend, wo die Sonne sich eben purpurrot über die Berge erhob. »Fast alle meine Ahnen sind den Tod fürs Vaterland gestorben, bis ins vierte Glied hinauf läßt sich das nachweisen, mein Urgroßvater fiel im Freiheitskampfe, und mein Großvater war der erste, welcher an seinem Herde verschied, aber reich bedeckt mit Ruhm. Das Geschlecht der Freiherren von Schwarzburg ist eins der ältesten und edelsten, sein Blut hat sich rein erhalten, mein Urgroßvater hat dafür gesorgt, daß der Sprößling, welcher unseren Stammbaum schänden wollte, abgeschnitten wurde, und so stehen wir jetzt noch so da, daß kein König sich zu schämen braucht, an unserem Tische zu essen.«

Des jungen Kadetten Begeisterung bekam aber sofort eine kalte Dusche von Hope.

»Ach, gehen Sie nur mit Ahnen und Stammbaum!« sagte sie schnippisch. »Solcher Krimskrams gilt bei uns keinen Pfifferling. Sehen Sie, mein Vater hat in seiner Jugend Mist geladen, und als er starb, da wurden die Sternenbanner aller amerikanischen Kriegsschiffe halbstark gehißt, und mein Bruder, erst dreißig Jahre alt, ist Kommandant einer Korvette.«

Die Kriegsschiffe zeigen ihre Trauer nicht durch eine schwarze Flagge an, sondern sie hissen die Nationalitätsflagge ›halbstock‹, das heißt, sie wird nicht völlig emporgezogen, sondern nur bis zur Hälfte.

»Was sagten Sie vorhin von Ihrem Urgroßvater, Mister Schwarzburg?« fuhr Hope fort. »Der hat den Stammbaum beschnitten? Wie hat er denn das gemacht?«

Der Kadett lächelte.

»Es ist dies nur ein Ausdruck,« entgegnete er. »Mein Urgroßvater mußte seinen erstgeborenen Sohn, den eigentlichen Majoratsherrn von Schwarzburg, verstoßen, weil dieser ein nicht ebenbürtiges Mädchen heiratete. So kam das Erbe an den zweiten Sohn, von welchem ich abstamme.«

Hope war stehen geblieben.

»Das ist ja aber nichtswürdig!« rief sie empört. »Wie kann man seinen Sohn verstoßen, weil er ein armes Mädchen geheiratet hat? Herrgott, was herrschen in Ihrem Vaterlande für barbarische Sitten!«

»Sie dürfen nicht so vorschnell urteilen,« bat der Kadett. »Einmal müssen Sie bedenken, daß dies vor fast hundert Jahren geschah, und dann meine ich, wenn ich von unebenbürtig spreche, kein armes Mädchen damit, sondern eins, durch welches der Stammbaum geschändet wird.«

»Das ist Dummheit!« rief Hope rücksichtslos. »Warum sollen die Kinder für die Sünden ihrer Eltern büßen?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären, aber die Natur zeigt uns schon, daß die Kinder allerdings für die Sünden ihrer Eltern büßen müssen, durch Krankheit und so weiter. Doch bei uns war das ein anderer Fall, der Majoratsherr heiratete ein wirklich verkommenes Subjekt, welches damals in nicht geschiedener Ehe lebte, sie ließ sich erst nach der Heirat von ihrem ersten Manne, einem bekannten Schurken, scheiden. Selbst wenn mein Urgroßvater den Sohn so geliebt hätte, daß er ihm diesen Schritt verzeihen wollte, er durfte es nicht, eine Klausel in einem uralten Testament verbot es ihm. Aber dieser Sohn war es nicht wert, er war ein leichtsinniger, ungerechter Mensch, ganz aus der Art der Schwarzburgs geschlagen, der von Jugend an seinem Vater nur Kummer, Schmerz und Schande bereitete. So fiel denn das Majorat dem zweiten Sohne zu, dessen Enkel ich bin. Und wie gut daran getan war, das zeigte sich auch bald. Trotzdem es meine Verwandten sind, muß ich bekennen, daß von diesem Paare, welches die menschlichen Gesetze schändet, auch unwürdige Kinder entsprossen sind, krank an Geist und Körper.«

Der Kadett brach plötzlich ab und sah sinnend mit gerunzelter Stirn vor sich hin.

»Worüber denken Sie nach?« konnte die freimütige Hope nicht unterlassen zu fragen.

»Vor einigen Tagen hatte ich in Wellington eine seltsame Begegnung,« antwortete nach längerer Pause der Kadett. »Ich ging des Abends mit einigen Kameraden durch die Vorstadt, in welcher hauptsächlich Chinesen wohnen. Da sah ich an einem schwach erleuchteten Fenster einen Mann, einen Europäer stehen, der mit einem Chinesen eifrig sprach. Ich blieb bei seinem Anblicke erstaunt stehen, ich glaubte, meinen Onkel, den ich aber nicht mehr so nennen darf, das Kind des verstoßenen Freiherrn, vor mir zu sehen. Ich würde mir eingeredet haben, ich hätte mich getäuscht, wenn der Mann nicht, als er mich sah, erschrocken zusammengefahren und dann eiligst davongelaufen wäre.«

»Kennen Sie den Onkel? Haben Sie ihn früher schon öfters gesehen?«

»Nur ein einziges Mal wurde er mir von meinem Vater gezeigt. ›Das ist der, an den das Majorat fällt, wenn auch Du mir vom Schicksal geraubt würdest, wie alle deine Geschwister‹ sagte er damals, und er hatte recht,« der Kadett seufzte tief auf, »ich bin der letzte meines Stammes, daher kommt es auch, daß mein Vater mich so schwer die Seeoffizierskarriere einschlagen ließ. Ich entsinne mich noch sehr gut dieses Menschen, sein Gesicht kann man nie vergessen, dieses leichenblasse Antlitz, in dem es fortwährend zerrt und zuckt, als wäre der Mann von bösen Dämonen geplagt.«

»Hei, was sagen Sie da?« rief plötzlich Hannes dazwischen. »Ein käseweißes Gesicht, in dem es immer zuckt? Williams, das könnte unser schwarzer Passagier sein, der in Wellington so ohne Sang und Klang von Bord gelaufen ist, ohne seinen Namen zu nennen und ohne ein Wort des Dankes für unsere Hilfe auszusprechen.«

»Stimmt, mein Junge,« sagte Charles, »das könnte er sein. Der Kerl hatte überhaupt ein sonderbares Benehmen, und Sie, Hannes, schienen einen ganz besonderen Einfluß auf ihn auszuüben, als wären Sie magnetisch. Kamen Sie in seine Nähe, so hörte das nervöse Zucken plötzlich auf; er starrte Sie wie hypnotisiert an, und gingen Sie weg, so befiel es ihn mit doppelter Heftigkeit. Ich habe Euch beide während der ganzen Reise förmlich studiert; noch nie ist mir etwas Aehnliches begegnet.«

Sir Williams erzählte dem Kadetten von dem schwarzen Passagier, wie sie ihn sofort getauft hatten, als sie ihn aus den Wellen des Meeres als Schiffbrüchigen auffischten. Er konnte gar keinen anderen Namen erhalten, denn seinen richtigen nannte er nicht, wie er sich überhaupt völlig schweigsam verhielt, ja, auf die an ihn gerichteten Fragen nicht einmal Antwort gab. Erst glaubte man, daß er durch die überstandene Todesangst etwas irrsinnig geworden sei, und hatte daher ein scharfes Auge auf ihn, bald aber zeigte sich, daß er nur äußerst menschenscheu war. Man konnte nicht einmal von ihm erfahren, wie das Schiff hieß, welches durch den Taifun zu Grunde gegangen war. Nun, er befand sich unter gebildeten Menschen und nicht unter gewöhnlichen Matrosen, und so wurde er in Ruhe gelassen.

Kaum war der ›Amor‹ in Wellington angekommen, so verschwand der Fremde spurlos, ohne vorher seine Retter davon in Kenntnis zu setzen, ohne ihnen auch nur ein Wort des Dankes zu sagen. Niemand hatte ihn seitdem wieder gesehen.

Der Mann, den der Kadett jetzt eben beschrieb, war es unbedingt. So hielt er sich also noch in Wellington auf.

»Mit einem Chinesen hat er gesprochen?« fragte Hope. »Haben Sie etwas davon verstanden?«

»Nein, mir fiel nur auf, wie schnell die beiden auseinanderstoben,« entgegnete der Kadett, »gerade, als wären sie bei einem unsauberen Geschäfte gestört worden.«

»Du, Hannes,« sagte Hope und blickte ihrem Begleiter fragend in die Augen, »das wird doch nicht etwa der gewesen sein, der den Maori beauftragt hat, dir einen Pfeil in den Hals zu schießen?«

»Ach wo,« rief der Matrose, »was sollte er für einen Grund dazu haben? Ich habe dem Manne ja nichts getan, kenne ihn überhaupt nicht.«

»Aber, daß er so geheimnisvoll mit dem Chinesen sprach,« sagte Hope zweifelnd. »Der Maori sagte doch [???] von einem Chinesen dazu gezwungen worden zu sein, [???] aus der Welt zu schaffen.« »Wellington wimmelt von Chinesen, warum soll das gerade der Betreffende sein?«

»Ich weiß nicht« meinte Charles nachdenklich, »so unrecht hat Miß Staunton nicht. Erst jetzt fällt mir ein, daß der schwarze Passagier Ihnen gegenüber, Hannes, eigentlich doch ein recht seltsames Benehmen zur Schau getragen hat. Möglich, daß dieser Mann, auf alle Fälle krank und mit einem zerrütteten Nervensystem, gegen Sie aus irgend einem Grunde eine Abneigung gefaßt hat und nun in seinem krankhaften Zustande der Entschluß in ihm gereift ist, Sie aus der Welt zu schaffen. Wenn auch Davids das Gegenteil behauptete, für ganz geistesnormal hielt ich ihn niemals, und jetzt befestigt sich diese Ansicht noch mehr in mir.«

»Haben Sie den Chinesen, welchen der Maori als den bezeichnete, der ihn gedungen habe, auch gefunden?« fragte Schwarzburg.

»Nein, der Vogel war ausgeflogen,« entgegnetes Charles, »er hatte einen Trödlerladen und stand in dem Rufe, sich in allerlei dunkle Geschäfte einzulassen. Er ist jedenfalls gewarnt worden, denn als wir ihn aufsuchten, um uns seiner zu bemächtigen und ihn zu verhören, hatte er sich mit Hinterlassung seiner wertlosen Habseligkeiten aus dem Staube gemacht. Wir zeigten die Geschichte der Polizei an, haben aber bis jetzt nichts weiter von ihm gehört. Der Maori scheint doch nicht gelogen zu haben, als er den Chinesen als den bezeichnete, der ihn durch Geld zum Morde bestochen hatte.«

»Und der Maori?«

»Der ist in Händen der Polizei.«

Verlassen wir nun diese kleine Gesellschaft, und begeben wir uns nach der Spitze des Zuges, welche dicht hinter den Führern marschierte!

Sie setzte sich zusammen aus Lord Harrlington, Lord Hastings, Ellen, Miß Morgan, Miß Murray und anderen. Lord Hastings ging schweigend hinter Miß Murray und Ellen, während Lord Harrlington vom Zufall neben Miß Sarah Morgan placiert worden war. Der hier sehr schmale Weg gestattete, daß nur zwei Personen nebeneinander gingen.

Da wurde Ellen plötzlich von einer der Damen zurückgerufen; der hinteren Gesellschaft war eine Pflanze aufgefallen, über deren Vorkommen, hier, wo die Schneeregion schon begann, man sich wunderte, und Ellen interessierte sich für so etwas.

Sie eilte an Lord Hastings vorüber und blieb, ebenso wie die anderen, zurück. Dadurch kam Hastings neben Miß Murray. Beide folgten den weitergehenden Führern, ein Verlaufen war nun auf diesem Wege nicht mehr möglich.

»Warum so schweigsam, edler Lord?« begann Miß Murray, einen scherzhaften Ton anschlagend.

»Die Oede, welche sich hier überall unseren Blicken darbietet, ist daran schuld. Aber sie stimmt mich nicht schweigsam, wie Sie sagen, eher traurig. Ich möchte recht viel Lärm machen, singen, laut sprechen, um dieses Gefühl der Einsamkeit zu bemeistern.«

»Sie sind ein prosaischer Mensch, Lord,« scherzte das Mädchen weiter. »Gerade in dieser Einsamkeit liegt Poesie. Sehen Sie dort die Gipfel der Berge, wie sie ihr Haupt in den Wolken verbergen, so daß sie wie abgeplattet aussehen, die dampfenden Nebel, wie sie sich langsam aus den Schluchten erheben, und die Bergriesen immer mehr einhüllen! Ist das nicht schön?«

»Nein, es ist traurig.«

»Sie sind nüchtern, Sie haben keine Phantasie!«

»Und doch besitze ich solche!« entgegnete der Lord. »Jene Berge dort, die ihre Häupter zum Himmel emporstrecken, sind große Menschen. Aus den Schluchten steigen die Nebel, welche Neid, Mißgunst, Bosheit, Lug und Schmähungen repräsentieren, und umhüllen die Riesen, welche es wagen, sich über die anderen zu erheben.«

Erstaunt sah Jessy den Lord von der Seite an.

»Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut,« rief sie, »es ist das erste Mal, daß ich an Ihnen eine poetische Ader entdecke.«

»Das erste Mal?« sagte Lord Hastings.

»Ja, das erste Mal. Offen gestanden, ich habe Sie bis jetzt immer für einen nüchternen und prosaischen Menschen gehalten, der für Poesie nicht den geringsten Sinn besitzt.«

»Dann haben Sie sich immer geirrt, Miß,« entgegnete Hastings. »Es gibt wohl keinen Menschen, der so für romantische Poesie schwärmt, wie ich.«

»Wirklich?« rief Jessy überrascht, »Nun ja, ich weiß, daß Sie Abenteuer lieben, wie alle die Herren des ›Amor‹ und wie wir Vestalinnen ja auch, aber Lust zu Abenteuern ist noch keine poetische Schwärmerei.«

»Und doch bin ich ein solcher poetischer, romantischer, schwärmerischer Mensch, wie Sie sagen,« behauptete Hastings. »Mein ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, diese Neigungen zu befriedigen. Aber in dieser Welt ist es nicht mehr möglich. Sie ist prosaisch, nicht ich.«

»Wieso? Noch immer gibt es Menschen, welche sich als Helden zeigen. Denken Sie an die Kriege, kommen da nicht Beispiele vor, daß Männer Taten vollführen, welche denen der alten Helden nicht nachstehen?««

»Diese sind vom Glücke begünstigt worden. Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, meinen sehnlichsten Wunsch befriedigen zu können. Ich bin als Offizier mit einer Expedition nach Brasilien geschickt worden, ich hoffte auf Kampf, träumte von Sieg und Ehre, aber kaum setzte ich meinen Fuß aufs Land, so wurde der Friede proklamiert. Ein Jahr war ich dort. Ich trank viel Kaffee, rauchte viel Zigaretten, spielte Karten, schlief des Mittags regelmäßig drei Stunden, und als ich nach der Heimat zurückkehrte, wurde ich von meinen Bekannten wie ein Held empfangen. In der Tat, ich hatte in Brasilien viele Moskitos und Fliegen totgeschlagen.«

Miß Murray mußte über die Ironie des Lords lachen.

»Was für ein Leben wünschen Sie sich denn? Am Kampfe zwischen zwei Nationen beteiligt zu sein oder gegen aufrührerische Eingeborene zu kämpfen?« fragte sie dann.

»Das ist alles nichts mehr,« war die Antwort. »Im Kriege wird jetzt mehr mit der Feder gekämpft, als mit dem Schwerte, und was ist das für eine barbarische Grausamkeit, gegen nackte, mit Lanzen und Pfeilen bewaffnete Eingeborenen Maximgeschütze speien zu lassen? Nein, die Erde hat keinen Raum mehr für ein romantisches Gemüt, es wird nicht mehr befriedigt.«

»In welchen Verhältnissen wünschen Sie denn zu leben?« wiederholte Jessy ihre vorige Frage in anderer Form.

»Ich?« rief Hastings, und sein Auge strahlte plötzlich vor Begeisterung. »O, ich möchte, ich lebte in jener Zeit, da man, in stählerne Rüstungen gehüllt, das schwere Schwert in beiden Händen, Brust gegen Brust mit dem Gegner kämpfte. Da gab es noch keine Kugel, welche hinterlistig in den Rücken des Streitenden drang, Schwert klirrte gegen Schwert, die Streitaxt sauste auf das helmbedeckte Haupt, die eiserne Keule zertrümmerte des Feindes Schild, und lag er von wuchtigem Schlage zu Boden gestreckt, so hing man seine Rüstung an die Wände des Prunksaales und erzählte in alten Tagen seinen Kindern von den bestandenen Taten und lehrte sie, wie sie die Waffen zu schwingen hatten, um es einst ihren Vätern gleichzutun, und neue Trophäen zu erkämpfen.«

Immer erstaunter hatte Miß Murray dem begeisterten Lord zugehört, sie hatte ihn noch nie so gesehen.

»Wirklich, Lord,« rief sie dann, »ich habe Sie verkannt, als ich Sie für eine prosaische Natur hielt! Aber Sie haben recht, ein romantischer Hauch wehte durch das Mittelalter, in dem stolze Sitten herrschten. Jeder, der nur einigermaßen Sinn für Romantik hat, wird davon angeheimelt. Kam auch oftmals Roheit vor, im großen und ganzen waren die Männer doch von einem ritterlichen Geiste beseelt. Mit viel Vergnügen habe ich das französische Ritterleben studiert, aber auch Ihr England ist ja so reich an Gestalten, zu denen man Sympathie faßt. Was sind die Männer von heute gegen jene von damals, wenn sie die Dame ihres Herzens gefunden hatten und derselben ihre Liebe gestehen wollten! Jetzt zwängen sie sich in einen Frack, ziehen weiße Glacéhandschuhe an, setzen den Zylinder auf, fragen erst die Eltern, ob sie vielleicht gestatten, mit der Tochter in Verbindung zu treten, schicken dann ein Bouquet mit parfümduftendem Billet und so weiter. Aber damals! Da fragten sie ihre Angebetete, was sie zum Beweise ihrer Liebe verlangte, auf ihr Geheiß kämpften sie gegen Riesen, Zwerge und Drachen, der Schwache scheute nicht den Stärkeren, wenn es galt, ihn als Nebenbuhler zum Zweikampf herauszufordern, und lag er sterbend am Boden, so galt der letzte Blick seiner Geliebten; ging er aber durch seine Fechtkunst, durch die Geschicklichkeit, mit welcher er das gepanzerte Roß gezügelt hatte, als Sieger aus dem Strauße hervor, so kniete er vor seiner Dame nieder und ließ sich von ihrer zarten Hand den Ehrenkranz auf die Locken legen, und der leise Druck der Finger sagte ihm mehr als tausend Worte. Da wachte der Mann noch Tag und Nacht über seine Geliebte, er stand vor ihrem Fenster und brachte ihr seine Lieder, er trat für ihre Ehre mit seinem Leben ein und ebnete ihr den Weg, daß ihr Fuß an keinen Stein stieß.«

Ein mächtiger Felsblock versperrte den Weg, zu groß, als daß die Führer hätten darüber hinwegspringen können, sie waren langsam über ihn gestiegen, und dasselbe hätten jetzt die beiden Europäer auch tun müssen.

Da bückte sich Hastings plötzlich, faßte den wohl zwei Zentner schweren Block mit beiden Händen, hob ihn hoch empor und schleuderte ihn, wie einen Spielball durch die Lüfte in den Abgrund hinunter.

Donnernd schlug der Block an die Felswände, immer schneller prallte er von Wand zu Wand, bis er auf den Grund der Schlucht anlangte, aber noch lange hallte das Echo des Donners zwischen den Bergen nach.

Hochaufgerichtet stand Lord Hastings vor der Dame und schaute ihr fest in die Augen.

Jessy konnte den Blick nicht ertragen, eine plötzliche Purpurröte übergoß ihr Gesicht; sie senkte die Augen, von einer namenlosen Verwirrung beherrscht.

»Mein Gott,« brachte sie endlich stammelnd hervor, um wenigstens das drückende Stillschweigen zu brechen, »woher haben Sie diese übermenschliche Kraft?«

»Sie ist mir angeboren,« entgegnete der Lord stolz, seine mächtige, herkulische Gestalt noch höher emporreckend, »in meinen Adern fließt das Blut der Plantagenets.«

»Plantagenets?« wiederholte Jessy sinnend, ihre Verlegenheit bemeisternd und den Weg wieder aufnehmend. »Jenes französischen Geschlechts, welches einst auf dem Throne Englands saß?«

»Es ist so,« entgegnete Lord Hastings; »stammte ich väterlicherseits von ihm, so hätte ich Anspruch auf den Königsthron – aber die direkte männliche Nachkommenschaft ist ausgestorben. Sie kennen den berühmtesten der Plantagenets, jenen Helden, der in Vers und Lied von uns besungen wird, den König Richard Löwenherz. Er ist mein Ahne.«

»Wie?« rief Jessy, abermals stehen bleibend und den Lord mit der markigen Gestalt, den offenen Zügen, den treuen, blauen Augen und den langen, blonden Locken erstaunt betrachtend. »So sind Sie ein Nachkomme jenes Helden, der uns Schulmädchen wie ein Halbgott im Wachen und Träumen vorschwebte, als uns seine Geschichte erzählt wurde? Ja, nun verstehe ich Sie, nun begreife ich Ihre Sehnsucht nach romantischen Abenteuern. Ein Enkel dieses gewaltigen Helden kann keine anderen Gefühle besitzen. Wissen Sie auch, Lord, daß Sie von Miß Staunton immer Richard Löwenherz genannt werden, aber, meint das mutwillige Mädchen, Sie dürfen mir die Bemerkung nicht übelnehmen, Lord,« fügte Jessy lächelnd hinzu, »Sie wären nur ein zahmer. Doch ich bemerke es jetzt, daß Sie wirklich dem Richard Löwenherz vollkommen gleichen, wie ich ihn mir ausgemalt habe.

»Ich heiße auch Richard,« sagte Hastings einfach, durch die aufrichtige Bewunderung des Mädchens erfreut.

»Herrlich,« rief Jessy entzückt. »So ist Richard Löwenherz aus dem Grabe erstanden. Gott, was waren das für schöne Zeiten, als wir uns mit diesen Helden Englands beschäftigten. Wir träumten Tag und Nacht von ihnen, alle Bücher, Geschichten und Romane, die von ihm handelten, wurden mit wahrem Heißhunger verschlungen, und den ganzen Tag erklang das schöne Lied:

»Du stolzes England, freue dich,
Dein König geht und kämpft für dich.«

Mit heller Stimme ließ Jessy das alte, bekannte Lied durch die Berge hallen.

»Ich kann es noch gar nicht fassen,« sagte sie dann und blickte den jungen Hünen an. »So sind Sie wirklich ein Nachkomme von Richard Löwenherz?«

»Wirklich, er ist mein Urahn gewesen.«

»Und Sie könnten Ansprüche auf den Thron von England machen? Ich glaubte immer, die Plantagenets wären ganz ausgestorben.«

»Sie sind es auch,« entgegnete der Lord lächelnd. »Wie ich schon sagte, stamme ich mütterlicherseits von diesem Geschlechte ab. Aber könnte ich auch Ansprüche erheben, ich würde es nicht tun, es machte mir keine Freude, auf dem Throne von England zu sitzen.«

»Warum nicht?«

»Weil, weil –«

Der Lord schwieg verlegen. Jessy schaute ihn groß an.

»Warum nicht?« wiederholte sie.

»Weil ich mich nicht zum Herrscher eigne,« sagte Hastings kurz. »Doch der Führer dort wartet auf uns,« fuhr er schnell fort, »er scheint uns etwas sagen zu wollen.«

Jessy hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken, was Lord Hastings erst hatte sagen wollen, eine Ahnung war plötzlich in ihr aufgestiegen und hatte ihr das Blut in die Wangen gejagt.

»Wie lange haben wir noch bis zum Gipfel des Mount Cook zu marschieren?« fragte Hastings den Maori, welcher hinter den übrigen Führern zurückgeblieben war und auf sie gewartet hatte.

Der Felsenweg wand sich hier in unzähligen Krümmungen hin und her, so daß man die Nachkommenden, welche aufgehalten worden waren, nicht sehen konnte.

»Noch drei Stunden,« antwortete der Maori und setzte dann mit schlauem Lächeln hinzu: »Aber ich, nur ich, weiß einen näheren Weg, er geht gleich hier ab.«

Hastings verstand, der Eingeborene wollte außer seinem Führergeld noch einen besonderen Lohn haben, wenn er diesen Weg zeigte.

Der Lord überlegte, ob er dem Burschen trauen sollte. Aber sie hatten ja nichts von ihm zu fürchten, und da nahm Miß Murray das Wort.

»Führt der Pfad auch nach derselben Spitze, wohin wir wollen?« fragte sie erst.

»Nach derselben, wohin auch dieser Weg führt. Aber er ist bedeutend kürzer, nur nicht so bequem.«

»Das ist uns gleich. So führe uns denn, aber nur uns! Lord Hastings,« wandte sie sich an diesen, »wir nehmen diesen Weg, der uns schneller hinbringt, und bereiten in dem Häuschen, das sich oben befinden soll, schon alles für die Nachkommenden vor. Wie sollen die staunen, wenn sie schon Feuer, heißes Wasser und so weiter vorfinden!«

Der Eingeborene belud sich auf Geheiß des Mädchens mit einigen Bündeln Holz, einem Kessel und Wasserschlauch – ein großes Silberstück machte ihn zu allem willig, wartete noch, bis seine Kameraden um die Ecke verschwunden waren, und bog dann schnell zur linken Hand in eine schmale Spalte ein. Die beiden folgten ihm.

»Wir haben nichts zu fürchten,« meinte Jessy, »wenn wir auch allein dem Führer folgen. Was sollte er uns beiden anhaben können? Auch macht er auf mich den Eindruck eines ehrlichen Menschen. Außerdem, was sollte mir denn zustoßen, wenn ein Richard Löwenherz bei mir ist, der mit Felsblöcken, wie mit Fangbällen wirft?«

Lord Hastings lächelte leicht zu dieser Bemerkung, er fühlte sich doch etwas geschmeichelt durch die Bewunderung, welche ihm die junge Dame entgegenbrachte.

Die Spalte erweiterte sich sofort wieder und führte dann auf einen Weg auf der anderen Seite der Felswand, der weniger Krümmungen beschrieb, aber viel steiler emporstieg und so also schneller zum Ziele, dem Gipfel des Berges, führen mußte.

Jetzt befanden sie sich schon in der Region des ewigen Schnees, die hochstehende Sonne hatte nicht mehr die Kraft, denselben zu schmelzen. Aber, obgleich das Thermometer unter dem Gefrierpunkt stand, empfanden die beiden die Kälte nicht. Das Ersteigen des steilen Weges brachte das Blut in schnelleren Umlauf, ja, es trieb ihnen sogar Schweißtropfen auf die Stirn.

Sie bereuten nicht, den beschwerlicheren Weg gewählt zu haben, der nach Aussage des führenden Eingeborenen nur sehr wenigen bekannt war. Hatte man vom vorigen die Aussicht auf eine Gebirgslandschaft genießen können, so gestattete dieser hier einen Blick auf das Meer, und der war bei weitem schöner.

Man mußte schon hoch, sehr hoch gestiegen sein. Die Häuser unten auf dem Plateau waren kaum noch zu erkennen, die auf dem Meere fahrenden großen Schiffe glichen Kinderspielzeugen, und die Fischerboote hoben sich nur wie dunkle Punkte von der glänzenden, spiegelglatten Wasserfläche ab.

Schon über eine Stunde waren sie schweigend nebeneinander den Weg emporgeklommen, ganz in den Anblick der wunderbaren Naturbilder versenkt. Endlich unterbrach Lord Hastings durch eine Frage an den Eingeborenen das Schweigen.

»Wie lange haben wir noch zu gehen?«

»Keine Stunde mehr,« war die Antwort.

Durch diese Unterbrechung der sonst willkommenen Stille wurde auch Jessy wieder zum Sprechen veranlaßt. Sie mußte sich inzwischen fort und fort mit dem beschäftigt haben, über das sie sich schon vorhin unterhalten hatten, denn sie fing wieder von den alten Rittern an, besonders von Richard Löwenherz und dessen Taten.

Lord Hastings war mit dem Leben seines Vorfahren wohl vertraut. Er wußte nicht nur alle jene Geschichten, welche über den Helden erzählt werden, er konnte dem lautlos lauschenden Mädchen noch eine Unmenge von interessanten Tatsachen aus den Fahrten und Abenteuern dieses ritterlichen Königs mit dem löwenkühnen Herzen berichten.

Er schilderte, wie Blondel, sein Sänger und Liebling, Richards unfreiwilligen Aufenthaltsort entdeckt hatte, er sang dem Mädchen mit tiefer, schöner Baßstimme jenes altfränkische Lied vor, mit welchem der Troubadour dem im Turmzimmer gefangenen Löwen seine baldige Befreiung verkündete, plötzlich aber brach er ab und schaute seine Begleiterin an.

Jessy war in Tränen ausgebrochen.

»Was fehlt Ihnen, Miß?« fragte er bestürzt.

»Nichts, nichts,« stieß Jessy hervor und wischte, unwillig über die Tränen, mit dem Taschentuch die Augen, »fahren Sie fort, bitte.«

Hastings sang das Lied zu Ende.

Da nahm Jessy plötzlich seine Hand und drückte sie leise.

»Verzeihen Sie, Lord,« flüsterte sie, noch immer unter Tränen, »o, wir alle haben Ihnen unrecht getan. Ich habe nie eine Ahnung davon gehabt, wie es in Ihrem Innern aussieht, jetzt aber weiß ich es. Wer hätte auch gedacht, daß in Ihrem Herzen ein so großer Reichtum von Phantasie und Gemüt verborgen liegt!«

»Aber Miß,« unterbrach sie Hastings scherzhaft, »Sie übertreiben! Ich weiß recht wohl, daß ich für einen griesgrämigen Menschen gehalten werde, nun, ich bin es auch, aber das kommt nur daher, weil ich nicht in diese Welt passe. Wäre ich ein paar Jahrhunderte eher geboren, ich glaube, ich wäre ein ganz tüchtiger Ritter geworden.«

»Sie machen sich selber schlecht,« sagte aber Jessy, »Ihnen fehlt nur ein Feld, wo Sie Ihre Tatkraft zeigen können. Wären Sie Offizier, da, wo der Kampf noch einen Mann erfordert, so würden Sie Gelegenheit haben, sich als ein Nachkomme des Richard Löwenherz zu beweisen.«

Hastings schüttelte den Kopf.

»Nein, ich passe nicht für den Krieg,« sagte er, »wenigstens nicht für den, wie er jetzt auf der Erde geführt wird; ich bezeichne einen solchen als Schlächterei. Einen Gegenstand aber möchte ich haben, für den ich wirken und schaffen könnte, wie sich ihn die Troubadours und Ritter früherer Zeiten erwählten, ohne den ihr Leben keinen Zweck hatte.«

»Ja, so wie Richard Löwenherz,« entgegnete Jessy, »an der Spitze einer Nation stehen und durch seine eigene Person dem ganzen Volke ein Vorbild geben. Ich möchte, Sie hätten Ansprüche auf den Thron. Sie würden dieselben gewiß geltend machen.«

»Ich würde es nicht tun.«

»Warum nicht? Sie sagten vorhin, Sie möchten nicht König sein, weil Sie nicht zum Regenten paßten. O, das ist kein Grund, es haben schon Könige ihr Volk beglückt, welche nicht mit Ihnen zu vergleichen waren.«

»Sie schmeicheln. Ich habe Ihnen aber vorhin nicht den wahren Grund gesagt, warum ich gerade kein König von England sein möchte. Er ist ein anderer.«

»Welcher?« fragte Jessy gespannt

»Weil es mir dann nicht möglich gewesen wäre, auf dem ›Amor‹ die ›Vesta‹ zu begleiten, und ich somit nicht Gelegenheit gehabt hätte, Sie kennen zu lernen, Miß Murray.«

Es war das dritte Mal, daß das junge Mädchen, seit sie mit dem Lord allein war, bis an die Haarwurzeln errötete.

Sie wandte sich von ihm ab, dem Meere zu, und spielte verlegen mit dem Taschentuche.

Da faßte er ihre Hand.

»Miß Murray,« flüsterte er mit tiefer, weicher Stimme in ihr Ohr, »zürnen Sie mir, daß ich dies gesagt habe?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Zürnen Sie mir?«

»Nein,« flüsterte Jessy.

Der vorausgehende Maori merkte nicht, daß die beiden zurückblieben, daß der Mann den Arm um des Mädchens Taille schlang und seinen Mund dicht an ihr Ohr legte, so daß seine Lippen es berührten.

»Jessy,« flüsterte er zärtlich, »sei du die Dame, ich will dein Ritter, dein Richard Löwenherz sein. Ich will auf dein Geheiß gegen Riesen und Drachen kämpfen, ich will für deine Ehre ins Turnier gehen, ich will dir die Steine aus dem Wege schleudern, daß sich dein Fuß nicht daran stößt. Sag', Jessy, was willst du, das ich für dich tun soll?«

Sie antwortete nicht. Die Hand auf das Herz gepreßt stand sie wie eine Marmorsäule da, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Nur das stürmische Wogen des Busens verriet, daß noch Leben in ihr war.

»Sag', Jessy, was heißt du mich tun?« wiederholte Hastings zum zweiten Male.

Da plötzlich kehrte die Röte in die Wangen zurück, und mit ihr das Leben. Sie schlang beide Arme um den Nacken des Lords und legte das Köpfchen an seine breite Brust.

»Nichts weiter sollst du tun, als mich lieben!« flüsterte sie.

Es war das erste Mal, daß man den sonst so stillen Lord aufjauchzen hörte. Wie ein Kind nahm er das Mädchen in die Arme, preßte es an seine Brust und küßte wieder und wieder die rosigen Lippen.

»Du böser Mann!« sagte Jessy endlich, als er sie vorsichtig wieder aus den Boden gesetzt hatte und ihr der unter der heftigen Umarmung schon ausgegangene Atem zurückgekehrt war. »Du böser Mann, wie lange hast du mich denn nun schon lieb und deine Liebe mit dir im stillen herumgetragen?«

Sie schlang wieder den Arm um seinen Hals und blickte mit feuchten Augen in die seinen.

»Wie? So wußtest du schon, daß ich dich liebe?« fragte Hastings verdutzt, »Gegen niemanden habe ich mich ausgesprochen und mir nie etwas davon merken lassen!«

»Das Auge des Weibes ist in derartigen Dingen sehr scharfsichtig,« entgegnete Jessy schelmisch. »Nicht nur ich wußte es, auch andere machten allerlei Anspielungen.«

»Wer denn?«

»So zum Beispiel Miß Thomson, Miß Staunton.«

»Wie, sie wagten es, dir von meiner Liebe zu sprechen? Ist es unter euch Mädchen denn Brauch, mit solchen ernsten Sachen Scherz zu treiben?«

»Sie wußten ja, daß auch ich dich schon lange liebe, und sie sind doch meine Freundinnen.«

»Du liebst mich schon lange?« rief Hastings erfreut und zog das Mädchen wieder an seine Brust. »Ich habe aber doch niemals etwas davon gemerkt.«

»Weil ihr Männer eben blind seid.«

»Liebtest du mich da schon, als du mir von Balkuriri, dem Häuptlinge der Australneger, einen Speer durch den Hut jagen ließt?«

»Auch da schon,« lachte Jessy.

»Das war aber eine recht seltsame Art von Liebesgeständnis. Sie hätte mir unter Umständen das Leben kosten können.«

»O, pfui, Richard! Ich wußte ja, wie sicher der Häuptling, mein damaliger Vater, mit dem Speere umzugehen verstand. Ich hatte oft genug seine Geschicklichkeit im Werfen beobachtet.«

Plötzlich machte sich Jessy aus den Armen des Lords hastig frei.

»Der Maori sieht uns zu!« flüsterte sie.

Der Eingeborene stand in einiger Entfernung, sich gemütlich auf seine Lanze stützend, und betrachtete mit pfiffigem Schmunzeln die Szene. Mit dem Packen auf dem Rücken nahm er sich wie ein buckliger Berggeist aus.

»Was schadet der?« sagte Hastings. »Für ein Geldstück schweigt er. Gib mir deinen Arm, Jessy! So willst du also, daß unsere Liebe geheim bleibe?«

»Gewiß, gewiß!« beeilte sich Jessy zu sagen, »Niemand darf davon erfahren. Um Gottes willen, wenn Ellen es wüßte! Ich schämte mich vor meinen Freundinnen und den Herren zu Tode.«

»Darin ähnelt ihr Mädchen euch alle,« lachte Hastings.

»Komm' jetzt,« drängte Jessy, »wir müssen eilen! Es war ja unsere Absicht, die Nachkommenden mit Feuer und heißem Wasser zu überraschen, so daß sie sofort den Tee bereiten können. Richard, das wird eine herrliche Nacht hier oben! Wir haben Zelte mit, wollene Tücher und Decken in Unmasse, so daß uns nicht frieren wird. Hoch oben in den Wolken, erhaben über alle da unten liegenden Kleinlichkeiten, und mit dem Gedanken an dich, meine endlich gefundene Liebe, schlafen – Richard, das wird die schönste Nacht meines Lebens werden.«

Sie eilten dem Führer nach, und nicht lange dauerte es, so hatten sie den Gipfel des Mount-Cook erreicht.

Derselbe bildete ein Plateau, auf dem bequem die dreifache Anzahl der zu erwartenden Personen Platz gefunden hätten. Zwischen zwei Felsblöcken befand sich eine roh aus Brettern zusammengezimmerte Hütte. Gott wußte, welche Reisenden sich diesen Luxus erlaubt hatten, auf den Rücken von Eingeborenen diese vielen Bretter hierheraufschleppen zu lassen, um in Bequemlichkeit eine Nacht zu verbringen.

Später erfuhr man durch einen der deutschen Seeoffiziere, daß hier einst eine zeitlang ein deutscher Gelehrter gehaust hatte, um über die Witterungs- und Temperaturverhältnisse Neuseelands genaue Forschungen anzustellen.

In der Hütte war nichts weiter vorhanden als eine Bank und ein aus Steinen zusammengesetzter Herd, aber mehr wollten die beiden auch gar nicht haben. Der Eingeborene wurde angewiesen, das Holz kleinzuspalten. Hastings und Jessy genossen erst den wundervollen Anblick, der sich ihnen von hier aus bot: auf zwei Seite die imposantesten Gebirgsgruppen, im Osten grüne, blühende Landschaften und im Westen das gewaltige Meer.

Dann begaben sie sich in die Hütte, um das Holz aufzuschichten und ein tüchtiges Feuer anzumachen, während der Maori Vorbereitungen traf, daß seine nachkommenden Genossen sogleich die Zelte aufschlagen konnten.

Der arme Kerl, nur dürftig gekleidet, fror furchtbar, als er mit einem Stück Brett das Plateau von Schnee säuberte. Oft warf er einen sehnsüchtigen Blick nach dem Dache der Hütte, hoffend, daß aus dem den Schornstein vertretenden Loche bald eine dicke Rauchwolke herausdringen möchte, aber seine Hoffnung war vergeblich – das Plateau war schon rein gefegt, und noch zeigte sich kein Rauch.

Die Sache kam dem Maori bedenklich vor. Er ging nach der Hütte, öffnete die Tür und blickte hinein.

Da lag das Holz noch ebenso da, wie er es vorher hineingeworfen hatte, und die beiden Fremden saßen umschlungen auf der Bank.

»Soll ich das Feuer anmachen?« fragte der Eingeborene.

»Nein, nein, ich wollte eben daran gehen,« erklang aus Jessys Munde die so sehr beliebte Entschuldigung.

»Frierst du?« fragte sie dann den Lord.

»Wie soll ich frieren, wenn ich dich in meinen Armen halte,« entgegnete der Lord.

Da zuckte plötzlich Jessy zusammen und wollte sich freimachen. Eine Stimme war an ihr Ohr gedrungen. Aber Hastings hielt sie fest.

»Es ist Williams,« flüsterte er. »Wie in aller Welt kann er schon hier oben sein? Bleibe nur hier, von ihm haben wir nichts zu fürchten.«

»Prachtvoll,« hörten sie Williams Stimme rufen. »Kerl, das war ein großartiger Gedanke, daß du uns auf dem näheren Wege hierhergeführt hast, so kann man doch wenigstens die Umgegend genießen, ohne von den anderen verdrängt zu werden.«

Also er war ebenfalls von einem Maori den nahen Weg geführt worden.

»Hier, Betty,« fuhr Charles fort, »12350 Fuß über dem Meeresspiegel gebe ich dir einen Kuß, in solcher Höhe hast du noch niemals einen bekommen.«

Draußen wurde ein lautes Schmatzen hörbar.

»Nun höre aber endlich auf, Charles,« hörte man Miß Thomsons lachende Stimme. »Du hast mich keine Minute unterwegs zu Atem kommen lassen.«

»Ja, natürlich, jeder Fuß höher hinauf mußte doch durch einen Kuß markiert werden. Nun nimm das Holz, Betty, und mache dort in der Hütte ein Feuer an. Ich werde mich dann überzeugen, ob du es richtig gemacht hast, denn, wenn du kein Feuer anmachen kannst, muß ich dich erst in die Pension schicken, so heirate ich dich nicht. Alle Wetter,« unterbrach sie Williams, »hier ist ja schon der ganze Schnee weggeschaufelt – da steckt wohl jemand in der Hütte?« Die Tür öffnete sich, und Williams erschien im Rahmen derselben, fuhr aber gleich wieder zurück.

»Entschuldigen Sie, meine Herrschaften,« sagte er, »ich habe nichts gesehen.«

»Betty,« rief er dann draußen, »gehe einmal mit einem recht feierlichen Gesicht in die Hütte und gratuliere. Und dann kannst du gleich fragen, ob die Bank bald frei wird.«


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