Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen Zweiter Band
Wladimir Korolenko

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Die letzte Prüfung. Freiheit.

An einem himmlischen Sommermorgen gegen Ende Juni des Jahres 1870 ging ich, den Katechismus des Pater Philaretus und die Kirchengeschichte unter dem Arm, um fünf Uhr früh vor die Stadt hinaus in den Weißbuchenhain. An jenem Tage stand mir die Prüfung in der Religion bevor, und das sollte endlich die letzte sein.

Ich war mißmutig und gedrückt. Die Prüfungen hatte ich schon herzlich satt. Am Tage zuvor war ich erst spät zu Bett gegangen und morgens in aller Frühe noch vor Sonnenaufgang aufgestanden. Die Augen fielen mir zu, das Hirn war noch wie eingerostet, und ich ging in den Hain in der Hoffnung, daß der frische Morgenwind, der hier über den Hügel strich, meine Schlaftrunkenheit verscheuchen würde. Auf der Anhöhe angelangt, gab ich mich dem Entzücken über die offene Aussicht hin. Die Stadt lag unten wie auf flacher Hand. In der Frühe brauten über ihr häufig Nebel, die aus den Teichen aufstiegen. Jetzt zerriß gerade der Nebelschleier an mehreren Stellen und gab hier ein Dach, dort ein wenig Grau, anderswo eine weiße Wand dem Blick frei. Die Statue der Jungfrau schien frei in der Luft zu schweben. Weit hinaus hinter der Stadt schimmerten undeutlich Felder, Dörfer, Waldstreifen . . . Mehrere Minuten stand ich wie gebannt da, ohne mich von dieser Szenerie, der die hin- und herwogenden Nebelschwaden besondere Lebendigkeit verliehen, losreißen zu können. Mir war, als sähe ich zum erstenmal so recht die Natur, als fange ich zum erstenmal an, ihren inneren Ausdruck zu erfassen, allein . . . es blieb mir keine Zeit zu Naturbetrachtungen übrig. Ich mußte die trockene Aufzählung von Kirchendogmen, Konzilen und Ketzereien auswendig lernen, die auch nicht im entferntesten Zusammenhang mit der Schönheit dieser erstaunlichen Welt standen . . . Das machte mich tief unglücklich. In jenem Augenblick schwebte mir das Glück nicht anders denn als die Möglichkeit vor, eben hier, auf demselben Hügel, einfach stehen und sorglos die himmlische Schönheit der Erde mit den Blicken trinken zu dürfen, jenen merkwürdigen Ausdruck zu erhaschen suchen, der mich wie ein neckisches Naturrätsel in dem lautlosen Spiel von Licht und Schatten zu narren schien.

Ich gab mir das Wort, sobald die Prüfung überstanden sei, unverzüglich wieder hierherzukommen, mich genau auf denselben Platz hinzustellen und mich in diese Landschaft zu vertiefen, um endlich ihren Gesamtausdruck zu packen. Und dann . . . wollte ich mich unter den Baum hinlegen, der daneben mit seinem dunklen Laub rauschte, und schlafen, schlafen . . .

Ich memorierte noch die »Religion«, als der schrillende Klang der Schulglocke mein Ohr erreichte, um mich ein letztes Mal in das Gymnasialgebäude zu rufen. Nun, komme was da wolle! Ich klappte das Buch zusammen und trat eine Viertelstunde später in den Schulhof.

Eine Stunde später lief ich wieder hinaus, von einem neuen Gefühl der Erlösung, der Freiheit, der Glückseligkeit berauscht. Wie es geschah, daß ich die Prüfung bestanden, ja »ausgezeichnet« bestanden habe, und das in einem Gegenstand, von dem ich im Grunde genommen keine Ahnung hatte, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Ich weiß nur, daß ich nach dem glücklichen Schluß der Prüfung wie ein Verrückter ins Haus stürmte, die Mutter freudig umarmte, die Bücher hinschleuderte und vor die Stadt hinauslief.

Die erste Morgenfrühe lag eben in den letzten Zügen, ihre köstliche Frische war verschwunden, die Nebel zerronnen, nur über den Teichen zogen sich noch kaum sichtbare bläuliche Schwaden hin. Turgenjew sagt, daß er erst im Auslande, irgendwo bei Berlin, zum erstenmal bewußt die Natur und den Lerchengesang genossen habe. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß er nicht früher die Naturschönheit empfunden hätte. Es kommt aber im Leben eines jeden Menschen ein Augenblick, in dem er sich dieser Naturempfindung erst als eines besonderen inneren Erlebnisses selber bewußt wird. Manche Leute erleben dies freilich erst spät, manche wohl überhaupt nie. Es mag sein, daß auch ich in jenem Augenblick zum erstenmal in dieser Weise die Natur betrachtete und mir so volle Rechenschaft über diese Empfindung gab. Zum erstenmal erschien mir jedenfalls dieses Finale der Morgensymphonie so geschlossen, vergeistigt und voller Harmonie. Es war, als nähme irgend etwas leise Abschied, um sich sanft zu entfernen, ganz so wie die Abendmesse beim Chorlied »stilles Licht« Abschied nimmt . . . Es war eben Hochamt, voller Harmonie und Weihe, was ich in jener Morgenstunde in der Natur empfand.

Zum Schlafen unter dem Baum war mir die Lust völlig vergangen. Ich rannte wieder wie ein Verrückter vom Hügel herunter und nochmals aufs Gymnasium, wo die Kameraden einer nach dem andern von der Prüfung kamen. Es war nicht Sitte, bei der »Religion«, zumal bei der Schlußprüfung, »durchfallen« zu lassen. Alle hatten wir bestanden, und das ganze Städtchen schien bald von unserem Freudenrausch erfüllt: Freiheit, Freiheit!

Dieses Gefühl war dermaßen stark und ungewohnt, daß wir einfach nicht wußten, was wir mit ihm anfangen, noch wo wir es anbringen fällten. Wir beschlossen es alle miteinander zu den »Böhmen«, in das neue Bierlokal, hinzutragen . . . Das starke Pilsener Bier schmeckte abscheulich bitter, aber . . . noch gestern war es uns untersagt, in das Lokal einzutreten, und deshalb begaben wir uns heute hin. Wir saßen an den Tischen, schlürften mit tiefsinnigen Mienen aus den Bierseideln und bemühten uns, die unwillkürlichen Grimassen zu unterdrücken.

Einige Tage darauf, nachdem wir die Abgangszeugnisse in der Tasche hatten, beschlossen wir unsere frisch gewonnene Freiheit gemeinsam zu feiern. Die Feier geriet wieder dem bitteren Bier sehr ähnlich, wir versammelten uns im großen Saal der Weinstuben von Weintraub, wo der Eintritt den Schülern bei Strafe des Ausschlusses vom Gymnasium untersagt war, und luden auch unsere Professoren ein. Die Professoren tranken mit uns »kameradschaftlich«, brauten Punsch, beschwipsten sich, umarmten sich mit uns. Der Punsch schmeckte abscheulich stark, aber . . . wir tranken ihn zusammen mit den Professoren, klopften ihnen dabei freundschaftlich auf die Schulter, und das war neu und ungewohnt, erschien uns deshalb auch notwendig und angenehm. Spät in der Nacht verlangte es irgend jemanden nach Musik. Das betriebsame jüdische Faktotum holte irgendwo Musikanten aus den Betten heraus, und vor Sonnenaufgang marschierten wir durch das noch in der Dämmerung schlummernde Städtchen, in Begleitung einer Klarinette, einer Flöte, zweier oder dreier Violinen und einer türkischen Pauke. Die Musik lärmte barbarisch in den Frieden der schlafenden Straßen. Wir riefen Hurra!, hoben die Professoren auf unseren Armen hoch, schaukelten sie in der Luft und . . . fühlten, daß all das nicht das Richtige, daß es geschmacklos und falsch sei.

Und doch, was sollten wir mit jener neuen Empfindung der Freiheit anfangen, die uns keine Ruhe ließ?

Am andern Morgen begab ich mich, mit schwerem Kopf und nicht minder schwerem Katzenjammer im Herzen, zum Baden, wollte aber unterwegs einen Kollegen abholen, der im Beamtenhaus, neben dem Schulgebäude, wohnte. Als ich die Treppe hinaufstieg, wurde eine der Türen geöffnet, und ein noch junger Mann mit klugem Gesicht und kleinem glattgekämmten Bart stieg mir entgegen hinab. Mir fiel seine gewölbte Stirn und der ernste durchdringende Blick der Augen auf. Die Erscheinung war mir unbekannt, offenbar »nicht von hier«. Als er hinunterstieg, ging oben die Tür wieder auf, und auf dem Flur erschien unser Geschichtsprofessor Petrussow. Er beugte sich über das Geländer und rief:

»Dragomanow! Warten sie mal, noch ein Wort!«

Der unbekannte Herr stieg wieder hinauf, und als ich an ihm vorbeiging, begleitete er mich mit einem aufmerksamen Nick seiner schönen Augen.

Meinen Kollegen traf ich nicht zu Hause, als ich aber wieder hinabstieg, war der Fremde schon fort.

Dragomanow, Dragomanow! Ich erinnerte mich dieses Namens aus den Aufsätzen Dobroljubows. Ein Dragomanow war es, der sich damals in die Polemik aus Anlaß des Falles Pirogoff eingemischt hatte, wobei er in seinen gegen Dobroljubow gerichteten Artikeln ziemlich ungeniert das Pseudonym dieses letzteren enthüllte, sollte der Herr mit der gewölbten Stirn und dem klugen Blick am Ende mit jenem »Studenten Dragomanow« identisch sein?

Auf dem Feldwege, der zum Fluß hinunterführte, holte mich Petrussow ein. Von diesem Professor habe ich schon gesprochen: sein Unterricht war ziemlich trocken und langweilig, er selbst aber erfreute sich einer allgemeinen Achtung als ein kluger, charakterfester und gerechter Mann. Am vergangenen Abend ließ er sich nur zu Beginn unserer Feier blicken, trank gar nicht und verschwand alsbald. Jetzt kam er mit einem Handtuch über der Schulter daher, in frischem Anzug und selber frisch und munter.

Ich trat zur Seite und zog nach Schülerart vor dem Professor die Mütze, er aber trat auf mich zu und gab mir die Hand. Mir kam wieder eine neue Note meiner neuen Lage zum Bewußtsein.

»Sie gehen baden?« fragte er.

»Jawohl.«

»Gehen wir zusammen.«

Wir gingen an dieselbe Stelle, wo der Ditjatkiewitsch aus dem Hinterhalt seine Jagden auf die Schüler zu veranstalten pflegte. Auch in diesem Umstand lag ein besonderer Reiz.

»Mit wem sprachen Sie auf der Treppe?« entschloß ich mich zu fragen.

»Mit Dragomanow.«

»Ist das . . . derselbe?«

»Ja, das ist der Schriftsteller und Universitätsprofessor. Wir sind Kollegen von der Universität her.«

Er wußte nicht, daß für mich »derselbe« soviel hieß wie Dobroljubows Gegner. Diesen hatte ich mir allerdings anders vorgestellt. Der Fremde machte einen klugen und gewinnenden Eindruck. Die Tatsache aber, daß jemand, dessen Dobroljubow selber, wenn auch in wenig schmeichelhafter Weise, Erwähnung getan, auf unserem Horizont auftauchte, erschien mir wie ein kleines Wunder aus jener neuen Welt, in die ich mich einzutreten anschickte.

Nach dem Baden hielt Petrussow, an seiner Tür angelangt, meine Hand fest und sagte:

»Bei mir steht der Samowar bereit, und ich habe eine Zeitung mit einem Bericht über einen interessanten Prozeß, wollen Sie eintreten?«

Ich trat gern in die Junggesellenwohnung ein. Auf dem Tisch stand der Samowar, Petrussow brühte Tee auf, bedeckte die Teekanne mit einer sauberen Serviette und hielt mir eine Nummer des »Golos« hin.

»Vielleicht lesen Sie's laut vor. Hier . . .«

Das war der Bericht über den Prozeß gegen Netschajew.

Ich hatte damals noch gar nichts von dem Prozeß gehört und begann ziemlich indifferent zu lesen. Nach und nach ergriff mich jedoch eine unerklärliche Begeisterung. In dem Zeitungsbericht war von der Geheimdruckerei Tkatschews und der Dementjewa die Rede und ein Flugblatt Netschajews an die Studentenschaft war im Wortlaut angeführt . . . »Wir saßen alsdann in den Winkeln, mit traurig gesenkten Köpfen, mit bösem Ausdruck auf den haßerfüllten Gesichtern . . .« »Wir, die wir unser Hirn auf Kosten des Volkes entwickelt haben, die wir mit dem Brot großgepäppelt worden sind, das von seinem Felde genommen wurde, wollen wir uns denn auf die Seite der Bedrücker dieses selben Volkes schlagen? . . .« Das Flugblatt legte dar, daß die Interessen der studierenden Jugend und des arbeitenden Volkes identisch seien, »wir haben unter uns Kollegen, die rechtlos sind, deren Lage die traurigste in ganz Europa, deren Erbitterung um so tiefer, als sie ausweglos ist . . .«

Als ich die Lektüre beendet hatte, blickten mich Petrussows kluge Augen über den Tisch an. Als er die beinahe berauschende Wirkung sah, die das Gelesene auf mich geübt hatte, setzte er mir einfach und sehr objektiv den Kernpunkt der Sache, Netschajews Ideen, das Attentat auf den Iwanow im Petrowschen Park auseinander. Dann sagte er, ich würde in dem Studentenmilieu, in das ich mich bald stürzen wolle, dieselbe Gärung vorfinden, und es sei deshalb notwendig, daß ich mich in allem gut orientiere.

All dies wirkte wieder auf mein in der Politik noch ganz jungfräuliches Gemüt, wie wenn kalte Schneeflocken auf den nackten Körper fallen . . . Die Ermordung Iwanows erschien mir als ein schriller Mißton, »wie, wenn das alles verkehrt ist?« Über alles beherrschte mich jedoch der Gedanke: also auch wir haben es schon . . . was nämlich? Eine aufgeweckte und ernste Studentenschaft, die sich mit »haßerfüllten Gesichtern« schweren Gedanken über die Rechtlosigkeit des ganzen Volkes hingibt . . . Bei der Erwähnung aber der Generale Timaschew und Trepow tauchte vor mir das Bild Bösacks auf . . .


Auf einem der letzten Abende, als ich auf der Chaussee spazieren ging, die ganze Zeit immer noch von der neuen Empfindung der Freiheit erfüllt, tauchten vor mir aus dem dämmrigen staubigen Nebel, worin die promenierenden Schildbürger sich ergingen, zwei Gestalten auf: mein Kollege Leontowitsch Arm in Arm mit einem hochgewachsenen jungen Mann mit blauer Brille und einem weichen breitkrämpigen Hut auf langem Haar. Der Fremde war augenscheinlich eine nicht Rownoer Erscheinung.

»Student der Kijewer Universität Piotrowski,« stellte ihn mein Kollege vor. »Und das ist auch ein angehender Student soundso.«

Piotrowski drückte mir kräftig die Hand und lud uns beide zu sich ins Hotelzimmer ein. Hier standen in der Ecke zwei Pakete mit Drucksachen, die in Zeitungspapier gewickelt und mit Bindfaden verschnürt waren. Leontowitsch blickte die Bünde respektvoll an und frug halblaut:

»Sind's . . . die«?

»Ja,« nickte der Student wichtig.

»Weißt, das in der Ecke waren verbotene Bücher,« sagte mir Leontowitsch, als wir auf der Straße waren, »Piotrowski ist gesandt worden . . . verstehst du . . . eine sehr gefährliche Mission.«

Das war der erste »Agitator«, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Er hielt sich in unserer Stadt einige Tage auf, ging abends auf der Chaussee spazieren, wo er durch sein studentisches Äußere, seine Brille, den Panamahut, das lange Haar und das Plaid auffiel. Ich ging mehrmals mit ihm in der Erwartung von Offenbarungen, er aber hüllte sich in Schweigen oder gab tiefsinnige Belanglosigkeiten von sich.

Sein Aufenthalt ließ in der Stadt einige geheimnisvoll verbreitete, übrigens harmlose ukrainische Broschüren und in meiner Seele eine zwiespältige Empfindung zurück. Mir war ein wenig, als sei Piotrowski im Grunde genommen ein Windbeutel und Wichtigtuer. Doch das steckte bei mir irgendwo im Unterbewußtsein, während mich zugleich dennoch für den wichtigen Mann mit der Brille und mit einer so gefährlichen Mission naive Ehrfurcht erfüllte . . .

Endlich kam der glückliche Augenblick, wo ich das stille Städtchen verließ. Es lag bald hinter mir in seiner Talmulde, vor mir aber schlängelte sich das breite Band der Landstraße, und am Horizont schimmerten in undeutlichen Umrissen Wälder, neue Landstraßen, ferne Städte, ein neues unbekanntes Leben . . .

 


 


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