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Ich war etwa in der vorletzten Klasse, als in unserer Schule irgendein Streich ausgeführt wurde und zwar ein ziemlich häßlicher, wenn ich mich recht entsinne. Niemand von uns hatte für die verübte Schandtat etwas übrig, die Schuldigen wurden jedoch von den Kollegen wie üblich der Obrigkeit gegenüber gedeckt. Gerade rückte die Zeit der österlichen Fasten und der Beichte heran, als uns plötzlich eröffnet wurde, daß die Schüler der oberen Klassen nur bei dem Schulgeistlichen zur Beichte gehen dürften. Die Neuerung ward mit Befremden und Bedauern aufgenommen. Gewöhnlich wurde nämlich um diese Zeit, zur Entlastung des Schulpopen, der Stadtgeistliche Baranowitsch herangezogen, ein aufrichtig religiöser Mann von reinem und gütigem Herzen. Die Schüler gingen auch meist zu ihm, und während es vor dem Beichtstuhl des Schulpopen fast leer war, drängte sich alles um Baranowitsch und wartete auf die Reihe.
Jetzt war keine Wahl übrig, die älteren Pennäler mußten nolens volens zum Religionslehrer zur Beichte gehen . . . Da geschah es, daß gleich nach dem ersten Tag der Beichte die Schuldigen jenes erwähnten Streichs der Obrigkeit bekannt waren. Der Geistliche hatte ihnen seinerseits das Abendmahl verweigert und eine Kirchenbuße auferlegt. Ehe aber die drei Sünder noch Zeit hatten, die Buße anzutreten, wurden sie in den Karzer gesteckt und mit Ausschluß aus dem Gymnasium bedroht . . .
Der Vorfall machte in den Kreisen der Schüler großes Aufsehen. Der Verdacht tauchte auf, daß es der Beichtvater war, der das Schweigegebot gebrochen hatte.
Am nächsten Tage sollten die beiden obersten Klassen zur Beichte gehen. Unterwegs in die Kirche holte ich in der Gymnasiumstraße meinen rothaarigen Freund Gluschkoff ein.
»Hast du schon gehört?« frug er mich gleich. Er war erregt, und ich wußte sofort, was ihn so lebhaft beschäftigte.
»Ja,« antwortete ich, »kann man aber mit Gewißheit sagen, daß es eben der Schulpope war?«
»Zugegeben. Kann man aber mit Gewißheit sagen, daß er es nicht war?«
Ich suchte mir das häßliche und kluge Gesicht des geistlichen Russifikators vorzustellen . . . »Der Streich war nichtswürdig . . . Der Pope ist mehr Beamter, mehr Pädagoge und Politiker als Seelsorger, dem die Heiligkeit des Beichtgeheimnisses über allen anderen Rücksichten stehen würde . . . Ja, er war wohl fähig, es zu tun.«
»Ich . . . bin nicht sicher,« gab ich auf die Frage Gluschkoffs zurück.
»Ich auch nicht. Kann man aber sein Herz öffnen, wenn man nicht einmal diese Gewißheit hat? Ich vermag es nicht.«
»Ich auch nicht . . . was aber dann?«
Eine schwierige Frage tauchte vor uns auf. Der Geistliche war für uns kein Heiligtum mehr; daß wir die erzwungene Beichte zur einfachen Formalität machen sollten, wie man eine Schulaufgabe hersagt, mochte nicht hingehen. Wie aber mit dem Abendmahl? Diesem Ritus gegenüber standen wir zwar nicht ohne Zweifel, doch mit Achtung gegenüber, und es tat uns weh, ihn durch eine Lüge zu entweihen. Traten wir aber nicht mit den anderen zum Empfang des Abendmahls vor, dann dürfte dies der Aufmerksamkeit des Inspektors und der Pedelle sicher nicht entgehen. Wir entschlossen uns jedoch, auf die Gefahr hin, bemerkt zu werden, uns vom Abendmahl zu drücken. Dies war eine eigenartige letzte Reverenz vor dem überwundenen Heiligtum . . .
Nie im Leben bin ich wohl so aufgeregt zur Beichte gegangen wie damals. Es war kurz vor der Abendmesse. In der Kirche kämpften die gelben Kerzenflammen mit der Dämmerung, die in dem dünnen Nebel des Weihrauchs zerfloß. Rechts vom Beichtstuhl saß Pope Krjukowski. Er war leberkrank, und sein Gallenleiden war in den kleinen Augen, mit denen er die Herantretenden musterte, deutlich zu erkennen. Etwas weiter abseits saß der große bleiche Baranowitsch mit seinem gütigen Antlitz, auf dem innige Ergriffenheit leuchtete, und empfing die Kleinen, denen er das Schultertuch über den Kopf breitete, um sich sofort mit feierlicher und gütiger Aufmerksamkeit über sie zu beugen.
Wie beneidete ich in jenem Augenblick die Knirpse, und wie zog es mich zu diesem guten Riesen hin, um vor ihm meinen ganzen Seelenzustand, mitsamt der Absicht, mich bei der Beichte einer Lüge schuldig zu machen, auszubreiten! Doch der Schulpope wartete schon auf mich. Er hatte eben einen Beichtenden entlassen und blickte auf die Schar älterer Schüler, die sich unter seinem Blick zu ducken schienen. Keiner rührte sich. Die Augen des Geistlichen blieben auf mir ruhen, und ich trat vor . . .
Mein Gesicht glühte, die Stimme zitterte, und Tränen traten mir in die Augen. Der Pope, durch diesen Zustand frappiert, mochte sich auf ungewöhnliche Geständnisse gefaßt machen . . . Als er meinen vorgeneigten Kopf bedeckte, packte mich für einen Augenblick die gewohnte Ergriffenheit der Beichte. »Soll ich sagen, soll ich's bekennen?« Doch das war nur ein Moment. Ich begegnete seinem Blick. Nichts lag darin außer der spähenden Wachsamkeit des geistlichen »Vorgesetzten«. Ich beantwortete seine Fragen förmlich, um so mehr verblüffte ihn meine Erregung bei diesen kurzen Antworten. Er nahm sorgfältig das ganze Register der Sünden durch, ich antwortete zumeist mit einem Nein: an »Sünden« erwies sich mein Konto ganz gering, und er beschloß wohl, daß meine Aufregung von der seelischen Ergriffenheit durch den geheimnisvollen Ritus herrühre . . .
Den »Ablaß« sprach er mit weicher Stimme. »Ich lege dir keine Buße auf. Bete eifrig . . . auch für mich, Sünder«, fügte er plötzlich hinzu. Dieser Schlußsatz trieb mir wieder das Blut in die Wangen und Tränen in die Augen vor bitterem Bewußtsein meiner Heuchelei wider Willen.
Als am nächsten Tage alle unter wachsam musternden Blicken des Inspektors und der Pedelle zum Empfang des Abendmahls herantraten, mischten wir uns beide, Gluschkoff und ich, in die Menge, bogen um die vor dem Altar stehenden Kollegen und verließen, nicht ohne Gefahr, bemerkt zu werden, die Kirche . . .
Das war wie ein Abschiednehmen . . . Seitdem ließen mich religiöse Ekstasen im Innern unberührt, und Glaubensprobleme machten in meinem Denken nach und nach anderen Platz. Nicht als ob ich die Grundfragen von Gottes Dasein und der Unsterblichkeit für mich gelöst hätte. Die endgültige Formel hatte ich doch nicht gefunden, allein das Problem an sich verlor für mich seine Schärfe, und ich gab es auf zu suchen. Mein geistiger Horizont wurde von neuen Erscheinungen, neuen Begriffen, von Fragen des realen Lebens eingenommen. Und dies Neue erschien mir so farbig und mannigfaltig, so verlockend und unerschöpflich, es lag in alldem soviel Leben und Tiefe, soviel Unbekanntes und Geheimnisvolles, daß für Religionsprobleme kein Raum mehr übrig blieb. Diese wurden von Tatsachen des Lebens verstellt, wie die Himmelsbläue von rasch dahinziehenden, leuchtenden, sich übereinander türmenden Wolken, die sich zu immer neuen Gebilden und Formen gestalten . . . Und wie die Wolken schienen mir auch meine neuen Visionen in unermeßlicher Höhe zu schweben . . .
Gegen den Schluß des Gymnasialkursus stand ich abermals in eine Betrachtung über mich selbst und die Welt um mich versunken. Wieder war es mir, als messe ich meine ganze derzeitige Welt mit dem geistigen Auge, und als sei darin für die »Frömmigkeit« kein Raum mehr da. Ich gelobte mir stolz, daß mich von nun an weder Heuchelei noch Kleinmut je dazu bringen sollten, der »nüchternen Wahrheit« untreu zu werden, zu eitlem Trost Zuflucht zu nehmen und im Nebel gespenstischer unlösbarer Probleme herum zu irren.
Dabei blieb es viele Jahre . . . bis die Dekoration der Weltbühne wieder einmal völlig wechselte, die leuchtenden Wolken entschwanden und hinter ihnen wieder die unendliche Bläue hervorblitzte, verschlossen, glatt, verlockend und mit alten Sphinxrätseln im neuen Gewande neckend . . . Dann wurde ich inne, daß die ewigen Fragen nicht gelöst, nur hinweggeschoben waren . . .