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Ein heißer Tag im Frühherbst. Auf den regungslosen Spiegeln der Teiche liegt blendender Glanz, und ein leiser Tanggeruch steigt von ihnen auf. Das tote Schloß, dessen Spiegelbild kopfüber im Wasser steht, ist ganz in Träumereien von längst vergangenen Zeiten verloren. Die Schwäne streichen träge auf dem Teich herum und ziehen in der grünen Decke der Wasserlinsen lange Spuren. Hie und da quaken schläfrig die Frösche . . .
Im Hofe des Gymnasiums verschmachten die Kastanienbäume in der brütenden Hitze. Der Hof steht leer. Das weiße Gebäude schweigt streng und verschlossen. Der Unterricht ist in vollem Gange.
Ich hatte gebeten, austreten zu dürfen, und stehe im Korridor. Hier herrscht völlige Stille. An den beiden entlegenen Enden des langen Korridors sieht man Fenster; eines davon ist vom dichten Laub der Kastanienbäume beschattet, so daß drinnen Halbdunkel herrscht. In dieses Halbdunkel getaucht, schlummert friedlich der alte Saweli. Die Arme auf der Brust gekreuzt, den Rücken an den Garderobeständer gelehnt, wartet er, dem Inspektorbureau direkt gegenüber, auf das Zeichen zum Läuten. Hinter den geschlossenen Türen der verschiedenen Klassenzimmer rieselt gleichmäßig ein gedämpftes Gemurmel, als lese jemand die Totenmesse. Hin und wieder dringen die winselnden Schreie des dicken Jegorow hervor oder die singende Falsettstimme des Geographen Samarewitsch oder das plötzliche Gebell Radomirezkis. Dann herrscht wieder Stille. Die Tür des Inspektorbureaus geht auf, ein weißer Lichtstreif fällt auf den schlummernden Saweli. Er fährt verstört auf, nickt aber sogleich wieder ein. In dem Lichtstreif taucht die bizarre Gestalt des »Didonus« auf. Wie ein Boot bei stürmischem Seegang, humpelt er im Zwielicht des Korridors an den dunklen Garderobeständern entlang und verschwindet plötzlich im Türrahmen einer Klasse. Nur ein Zipfel des Uniformrocks mit drollig vorstehenden Fältchen ist von ihm zu sehen. Er selbst hat sein Auge ins Schlüsselloch gebohrt und spioniert still und mit Genuß, dabei jedoch Acht gebend, daß sein magerer Haarbüschel über der Stirn nicht etwa im Türglas von innen sichtbar wird, denn dann würde in der Klasse sofort ein allgemeines Hallo und Gelächter losgehen. Doch man hat ihn drinnen nicht bemerkt . . .
Die Stille des Korridors wirkt durch das gleichmäßig rieselnde Gemurmel und die es von Zeit zu Zeit unterbrechenden Aufschreie nur noch tödlicher. Sie legt sich dermaßen lähmend um Hirn und Herz, daß einem förmlich bange, fast ängstlich zu Mute wird. Man hat das Gefühl, als müsse man sich mit Gewalt zusammenreißen und aus einem schweren Albdrücken erwachen, als müßte man laut aufschreien, heftig klopfen, irgendeinen Gegenstand umwerfen, überhaupt irgend etwas tun, was durch die Korridore klirrend bis an die Klassentüren prallen und dieses ganze tote Gebäude auf einmal mit Gepolter, Krachen und Leben erfüllen würde . . .
Von der »Politik in der Schule« hatte man dazumal noch nichts gehört; die »böswilligen Aufwiegler« der Schuljugend waren noch nicht erfunden. Über dem ganzen Städtchen lag derselbe schläfrige Stumpfsinn wie über dem Gymnasium. Zwei bis drei Zeitungen brachten nach Rowno regelmäßig Nachrichten von der Außenwelt, sie blieben jedoch dem Schildbürgertum und seinen Interessen, die sich um das alte Schloß und das weiße Gymnasialgebäude drehten, innerlich fremd.
Das Schloß war von Legenden umwoben, aber auch das Gymnasium hatte die seinigen. Von Geschlecht zu Geschlecht wurden die Sagen von jenem Heroenzeitalter überliefert, als in der zweiten Klasse Jünglinge mit ansehnlichem Bartwuchs auf den Bänken saßen, aus der dritten Klasse aber mitunter direkt geheiratet wurde. Jene freimütige und sorglose Generation pflegte das schläfrige Einerlei des Schullebens von Zeit zu Zeit durch originelle Streiche zu unterbrechen. Bald lieferten sie in langen Trupps den Nachtwächtern große Schlachten, bald zertrümmerten sie Straßenlaternen – die übrigens ohnehin niemals brannten – und warfen sie von der Brücke ins Flüßchen, bald lauerten sie an einem dunklen Abend dem Pedell auf, wenn er durch die Fenster des Schülerquartiers spionierte; man überrumpelte ihn plötzlich von hinten, verband ihm die Augen, lud ihn auf einen Handkarren und verfrachtete ihn zum Teich. Hier wurde das Opfer mehrmals von der Brücke bis an den Hals ins Wasser getaucht, alsdann unter Gesang und Gejohle auf dem Karren durch die öden Straßen des bereits im Schlaf versunkenen Städtchens gefahren und endlich gegenüber dem Klub abgeladen. Jenes Heldengeschlecht, das solche Taten vollbrachte, war nicht mehr. Wir alle waren kleiner und wohl auch kultivierter. Aber die Legenden aus jenem Zeitalter erschienen uns interessant und sogar von einem gewissen poetischen Schimmer umglänzt. Berichteten sie doch von Taten, die einst, wiewohl auf eine rohe und alberne Weise, immerhin die starre tödliche Eintönigkeit der Schulroutine unterbrachen.
Zuweilen schäumten übrigens auch wir Schuljungen ebenso elementar und in unserer Art albern über . . .
Die Glocke hat geläutet. Die halbstündige Mittagspause ist zu Ende. Die Korridore haben sich rasch geleert, in allen Klassen ist der Unterricht bereits im Gange. In meiner Klasse steht die Stunde Jegorows bevor, doch dieser erscheint nicht. Kommt er nun oder kommt er nicht? Die Zeit verstreicht, in uns keimt die Hoffnung auf: Jegorow wird nicht kommen. Leichtsinnige Schüler, die ihre Lehrbücher gewohnheitsmäßig nur noch in der Klasse, in Zwischenpausen, überfliegen (auch meine Wenigkeit gehört längst zu dieser Kategorie), büffeln eilig die altslawische Konjugation des Zeitwortes »sein«. Dann aber schmeißen sie das Buch mit wuchtiger Gebärde hin: wenn Jegorow heute doch nicht kommt, dann hol der Teufel die ganze altslawische Konjugation! . . . Der Pedell Ditjatkiewitsch blickt alle Augenblicke zu der offenen Klassentür hinein. Auch die monumentale Gestalt des Inspektors zeigt sich von Zeit zu Zeit im Türrahmen. Die Obrigkeit weiß nämlich, daß eine derartige Situation in der Klasse nicht ohne Gefahren für die Disziplin ist, und sucht uns in halber Hypnose zu erhalten: zwar ist es kein Unterricht, aber doch auch keine Freiheit. Dieses Warten wird uns Schülern schließlich zur ermüdenden, nervenspannenden Folter.
Mein Nachbar Kroll, der gleichfalls die altslawische Grammatik eben hingeschmissen hat, kaut erst lange mit konzentriertem Stumpfsinn an einem Papierknäuel. Schließlich kriegt er es satt. Er nimmt den zerkauten Knäuel aus dem Munde, betrachtet ihn einigermaßen verwundert und schmeißt ihn in einer plötzlichen Eingebung an die gegenüberliegende Wand. Das Geschoß bleibt direkt über dem Katheder flach an der Wand kleben. Die Klasse lacht. In der Tür taucht der Pedell auf. Er hat uns lachen hören und blickt unruhig herein, doch der heiterkeiterregende Papierstern an der Wand entzieht sich seinen Blicken. Das erregt wiederum unser Interesse. Kaum ist der Pedell fort, als mehrere zerkaute Papierknäuel dem ersten nachfliegen, und bald ziert ein ganzes Sternbild grauer Wurfgeschosse die Wand über dem Lehrersessel.
»Meine Herren, meine Herren! Was fällt euch denn ein!« ruft der Primus, die erste verantwortliche Person der Klasse. Doch man hört nicht auf ihn. Ein ganzer Hagel nasser Papierknäuel prallt an die Wand und bleibt an ihr kleben. Einer der Schützen verfällt darauf, seinen Knäuel erst in die Tinte zu tauchen. Zwischen grauen Sternen prangen nunmehr schwarzblaue, sie kleben an den Wänden, an der Decke, am Heiligenbild . . .
Irgendein Knirps, der aus einer benachbarten Klasse ausgetreten ist, läuft an unserer Tür vorbei, blickt hinein und seine Augen leuchten vor Entzücken auf. Er eilt, die Neuigkeit seinen Kameraden mitzuteilen. Bald taucht in der Tür ein anderer Dreikäsehoch auf. Nach wenigen Minuten weiß das ganze Gymnasium um unsere Heldentat . . .
Plötzlich werden im Korridor die eiligen schweren Schritte Jegorows hörbar. »Jegorow kommt! Jegorow kommt!« geht es wie ein Lauffeuer durch die Reihen. In der Klasse herrscht jäh Totenstille, und wir blicken einander fassungslos an. Was wird nun werden? Die dicke Gestalt mit dem Journal unter dem Arm erscheint auf der Schwelle und prallt entsetzt zurück. Im nächsten Augenblick taucht in der Tür der aufgeregte »Didonus« auf, wirft einen Blick auf die Wände und stürzt davon. Endlich schiebt sich das gigantische Massiv des Inspektors ins Klassenzimmer. Die Epidemie des Knäuelwerfens greift unterdes in der Pause auf die jüngeren Klassen über . . .
Im eintönigen Leben des weißen Gebäudes ist das Geschehene ein ganzes Ereignis. Die Obrigkeit ist fassungslos. Eine Untersuchung wird eingeleitet, und man fahndet natürlich vor allem auf die »Anstifter« des Unfugs. Damit taucht aber in dem öden Einerlei des Schullebens ein neues spannendes, ja ernstes Problem auf. »Anstifter« gibt es erstens in Wirklichkeit nicht: die ganze Klasse war von einer Massenpsychose ergriffen worden, und es ist völlig gleichgültig, wer ihr zuerst zum Opfer gefallen war. Zweitens aber: hätte es auch Anstifter gegeben, niemals würde die Klasse sie der strafenden Justiz ausliefern. Der Obrigkeit gegenüber ist die Schülermasse einig, geschlossen und solidarisch. Auch diejenigen unter uns, die sich selbst an dem Unfug nicht beteiligt hatten, vielmehr die anderen zur Vernunft zu bringen suchten, stehen jetzt fest zu ihren schuldigen Kameraden. Der Primus wird zum Inspektor vorgerufen und kommt nicht mehr zurück. Das will sagen: er ist in den Karzer, wo nicht gar heimgeschickt worden. Ein Beweis, daß die Angelegenheit als ein schwerer Fall behandelt wird und den Schuldigen womöglich Ausschluß aus dem Gymnasium bevorsteht . . . Das erste Opfer wäre somit gefallen. Wir alle empfinden für den betroffenen Kameraden zärtliche Anhänglichkeit, wir sind stolz auf ihn, sind bereit, seinem Beispiel zu folgen.
Nun werden die besten Schüler vorgerufen, dann die schlechtesten. Der Inspektor erscheint in der Klasse und hält eine lange und langweilige Strafpredigt. Das Vergehen könne selbstverständlich nicht ohne Sühne bleiben. Womöglich sind schon Schuldlose bestraft, und es werden ihrer noch mehr für andere büßen müssen. Das sei schmachvoll. Die Anstifter sollten sich ehrlicherweise selbst bezichtigen, oder die Klasse wäre verpflichtet, sie der Obrigkeit namhaft zu machen. Allein wir Schüler haben unsere eigenen Begriffe von Ehrlichkeit. Ehrlichkeit heißt für uns: treue Kameradschaft, nichts mehr. Diese allein erweckt in uns Empfindungen, die uns weder die Arithmetik, noch die Geographie, noch die altslawischen Konjugationen einflößen oder in uns wach machen: Selbstaufopferung, Bereitwilligkeit um der Allgemeinheit willen zu leiden, Tapferkeit, Treue. Wir sind uns wohl bewußt, daß es eine Albernheit ist, Papierknäuel zu kauen und damit weiße Wände zu beklexen. Als der Lehrer Tyß ins Zimmer trat und ohne ein Wort zu sagen, die Klasse mit seinem ernsten und gleichsam gelangweilten Blick umfaßte, fühlten wir etwas wie Beschämung. Doch bei der Verantwortung für diesen Exzeß zu den Kameraden treu zu stehen – das schien uns durchaus nicht albern, vielmehr durchaus richtig und lobenswert. So erwartete denn jeder von uns ungeduldig, bis an ihn die Reihe kam, sich den Bestraften zuzugesellen und darin eine innere Rechtfertigung vor ihnen zu finden. Überdies lag in der Luft viel Spannung, also etwas Neues, Ungewöhnliches. Schon die Erwartung des über uns sich zusammenziehenden Unwetters trug eine neue Stimmung in unser Leben hinein, die erfrischend und aufrüttelnd wirkte.
Der letzte Glockenschlag an jenem Tage hatte für unser Ohr einen besonderen Klang. Er unterbrach die nicht beendete Untersuchung und schien uns zuzurufen: Fortsetzung morgen! Inzwischen liefen wir nur für einen Augenblick nach Hause, um eine Kleinigkeit zu uns zu nehmen, und schlichen dann zum Karzer auf Rekognoszierung. Das Fenster des Karzers lag sehr hoch, im zweistöckigen Vorbau, im Erker des Hintergebäudes. Einer von uns warf vorsichtig als Zeichen ein kleines Steinchen an die Scheibe. Die Eingesperrten zeigten sich nun, einer auf den Schultern des anderen, im Viereck des kleinen Fensters. Sie erschienen uns in diesem Augenblick so lieb und teuer! Besonders der Primus: mußten wir uns doch alle für unser eigen Tun verantworten, er allein opferte sich rein für andere auf. Jeder von uns hätte ihm gern etwas Liebes tun, hätte an seiner Stelle sein mögen. Hier keimte in unseren jungen Herzen jene Gesinnung auf, um derentwillen Strelnikow in den 70er Jahren den jungen Rasowski auf den Galgen geschickt hat, weil dieser seine Genossen nicht hatte verraten wollen . . .
Manchmal erinnerten jedoch unsere Explosionen geradezu an Massenwahnsinn. Es war im Herbst, an einem wüsten, regnerischen Tage. Wir hatten eben Mittagspause. Durch die Fenster sah man die Kastanienbäume ihr noch nicht abgefallenes, aber vergilbtes Laub im Sturm bewegen. Ein schräger Regen peitschte die Scheiben. Es war unmöglich, draußen im Hof Ball zu spielen, viele Schüler waren gar nicht erst nach Hause gegangen, die Korridore waren deshalb gesteckt voll von Knaben in blauer Uniform, die sich in der Enge drängten und hin und her wogten.
Da erscheint in der Tür unser Geograph Samarewitsch. Er tritt gerade von draußen herein, ganz durchnäßt, in seiner schwarzen Astrachanmütze und im weiten Pelzmantel von Marderfellchen. Sein gelbes Gesicht wirkt unter der schwarzen konischen Mütze, umrahmt vom dunklen Pelzkragen, im Zwielicht des Korridors, besonders befremdend. Er bahnt sich mit sichtlichem Widerwillen den Weg durch das wogende Gedränge, als schreite er durch Straßenschmutz, und seine Augen tasten sich ärgerlich und mißtrauisch vorwärts. Er späht nach dem Pedell, damit dieser ihm freien Durchgang schaffe, doch Ditjatkiewitsch ist gerade nicht da. Die Schüler weichen von selbst scheu zurück, sobald sie den Professor bemerken, aber sie bemerken ihn nicht gleich. Die Menge drängt sich ganz unwillkürlich hinüber.
Etwa in der Mitte des Korridors stürzt plötzlich aus dem Klassenzimmer ein Bengel, der einem andern zu entfliehen sucht. Er taucht direkt in die Menge, wirft beinahe Samarewitsch um, hebt den Kopf und erblickt erst da über sich die langstielige Gestalt, den hageren Kopf und die galligen Augen des Professors. Eine Sekunde lang starrt er erschrocken die unvermutete Erscheinung an, dann fliegt von seinen Lippen, offenbar völlig bewußtlos, der bekannte Beiname des Geographen:
»Der Marder!«
Das so keck dem strengen Professor ins Gesicht geschleuderte Wort schallt laut im ganzen Korridor und verschlingt plötzlich jeden anderen Ton. Eine Sekunde lang bleibt's still, dann geht ein ungeheures Johlen, Lachen, Stampfen los. Die Bubenbande wird von einer Art Tobsucht erfaßt. Sie drängen sich an den Professor, stellen sich vor ihn hin, schreien: »Der Marder! Der Marder!« und tauchen wieder in die Menge. Der arme Monomane steht, erstaunt und entsetzt, mitten in dem lebendigen Strudel, dreht den Hals hin und her, und seine trockenen, entzündeten Augen schleudern Blitze.
Der ungewöhnliche Lärm lockt endlich die Pedelle aus dem Bureau, dann stürzt der Inspektor heraus, aber auch sie sind außerstande, des Massenwahnsinns Herr zu werden. Die behenden Knirpse entwischen dem Ditjatkiewitsch aus den Händen, stürzen dem anderen Pedell, dem gutmütigen, rotbärtigen Butowitsch zwischen den Beinen durch, springen direkt an dem Inspektor vorbei, zerren den unglücklichen Samarewitsch an den Ärmeln und der Ruf: »Der Marder! Der Marder!« erschallt unaufhörlich inmitten von Lachen, Stampfen und Johlen. Die Autoritäten haben jede Macht verloren. Der Inspektor und die Pedelle sind fassungslos. Erst die Einmischung der übrigen Professoren, namentlich aber die endlich ertönende Glocke, die der Pförtner in einer plötzlichen Eingebung um ein paar Minuten früher angeschlagen hat, ermöglichen es, den belagerten Geographen zu befreien und in den rettenden Hafen des Bureaus zu bugsieren.
Eine außerordentliche Sitzung des pädagogischen Rats wird einberufen, doch die Obrigkeit ist derart ratlos, daß sie diesmal nicht erst den Versuch macht, die »Anstifter« zu ermitteln. Hier lag es schon auf der Hand, daß es keine Anstifter gab, daß es sich einfach um eine elementare Explosion handelte, in der sich sozusagen der ständige Untergrund unserer Stimmung Luft gemacht hatte. Es war klar, daß man diese Stimmung wohl gewaltsam unterdrücken könne, ihrer aber Herr zu werden einfach unmöglich wäre.
Eine ebenso elementare Demonstration wurde ein anderes Mal dem Professor der deutschen Sprache Kranz zuteil. Dieser Folterknecht der deutschen Deklination erlebte einmal seinen schwarzen Tag. Er wohnte bei einer Witwe in reiferen Jahren, und es wurde in der Stadt gemunkelt, daß unser hagerer und sehniger Lemur für die wohlbeleibte Wittib in zarter Neigung entflammt wäre. Das Städtchen war überhaupt von derlei Klatschgeschichten voll, und das Gerücht über dieses Verhältnis erhielt sich unter anderen mehr oder minder pikanten »Geheimnissen«, bis die Sache plötzlich mit einem großen Schimpf an den Tag kam. Kranz hatte nämlich seiner Wirtin den Entschluß mitgeteilt, in eine andere Wohnung ziehen zu wollen. Das resolute Frauenzimmer erschien darauf mitten in der Sitzung des pädagogischen Rats mit ihrem unschuldigen Säugling auf den Armen, den sie der gütigen Fürsorge eines hohen Professorenkollegiums ehrerbietigst empfahl.
Einige Tage darauf kam vom Kuratorium der telegraphische Bescheid: Kranz sei auf der Stelle zu entlassen, und in der Mittagspause verließ er in der Tat den Korridor des Gymnasiums, um ihn nicht wieder zu betreten. Grün vor Wut schritt er eilig die Straße hinunter, ohne sich nach rechts oder nach links umzusehen, ganz in seinen Ärger verbissen. Hinter ihm drein lief aber ein Haufen Schüler, gleichsam ein Rudel Hunde hinter einem umstellten, aber immer noch gefährlichen Wolf.
So hatte er das Kolubowskische Haus erreicht. Das war eine Familie mit zahlreichen Sprößlingen, deren vier oder fünf das Gymnasium besuchten. Die Knaben waren alle kleine untersetzte Kerlchen, einander zum Verwechseln ähnlich. Der Jüngste, den der Lehrer Kranz besonders aufs Korn genommen hatte, war der Abgott der ganzen Familie. An diesem Tage war er gerade krank und bettlägerig. Als ihm aber seine Brüder die Freudenbotschaft von der schimpflichen Entlassung seines Quälgeistes überbrachten, sprang der Knirps vom Bette auf und lief, als er seines just vorübergehenden Peinigers ansichtig ward, auf die Straße. Die Brüder folgten dem Kleinen, und der gehetzte Wolf fand sich plötzlich in kurioser Weise umstellt. Der jüngste Kolubowski vertrat ihm, mit noch fiebrig funkelnden Augen, den Weg und schrie:
»Aha, verfluchter Deutscher! Hat man dich verjagt? Wirst du mich noch peinigen? Du verfluchter!« . . .
Die anderen Brüder liefen dem fassungslosen Deutschen gleichfalls mit Schmähungen nach. Ihnen gesellten sich noch mehrere Schüler zu, und der rasende Kranz, der schon mehr lief als ging, erreichte seine Wohnung unter Pfeifen, Johlen, Hurraschreien und Beschimpfungen der jugendlichen Meute. Zu seinem Glück war das Haus nicht fern, sonst hätte die sich steigernde Stimmung leicht in Tätlichkeiten umschlagen können. An der Eingangstür sah sich Kranz um und drohte seinen Verfolgern mit geballter Faust; indes blickte zum Fenster mit schadenfrohem Ausdruck das Opfer seiner Treulosigkeit heraus . . .
Am Schluß dieses Auftrittes gingen gerade einige Professoren mit finsteren Mienen die Straße hinunter. Uns Schülern war es peinlich, unseren Erziehern ins Gesicht zu blicken, doch auch die Professoren hatten, wie ich glaube, bei unserem Anblick dasselbe peinliche Gefühl.
* * *
Nur einmal gab es bei uns einen Zwischenfall, der sich beinahe zu einem »Aufruhr« mit politischer Färbung hätte gestalten können.
Dies wird wohl um das Jahr 1867 oder 68 gewesen sein. Unsere Stadt erwartete einen Besuch des Generalgouverneurs Bösack und war dabei natürlich von dem üblichen Lampenfieber geschüttelt. Der Generalgouverneur sollte beim Polizeihauptmann in der Gymnasialstraße absteigen, welches Haus selbstredend zum Mittelpunkt des allgemeinen Interesses wurde. Ringsherum blickten hinter Zäunen, aus Seitengäßchen, unter allerlei Bedeckungen mit scheuer Neugier die biederen Spießer hervor. Dicht gegenüber dem Hause des Polizeihauptmanns befand sich das Pensionat der Witwe Sawitzkaja, und da der Unterricht zu Ende war, so hatte sich ein Häuflein Schüler im Vorgärtchen versammelt, um das feierliche Schauspiel mit zu genießen. Die Straße hatte das angemessene feierlich-ängstliche Aussehen. Neben dem Hauseingang standen, zu Bildsäulen erstarrt, Polizeiwachtmeister. Alles war sauber gefegt, aufgeräumt und blankgeputzt worden. Alles war Erwartung. So gegen 5 Uhr sprengte vom Gefängnis ein Feuerwehrmann auf schaumbedecktem Pferd daher und gleich hinter ihm eine mit russischer Trojka bespannte Kutsche. Der JamschtschikRussischer Kutscher im dicken, von der Taille ab faltigen Mantel und kleiner schirmloser Mütze. D. Ü. riß elegant seine Pferde zum Stehen, die Schellen erklangen noch einmal hell durcheinander, der Polizeileutnant und der Wachtmeister stürzten zur Kutsche, um den Schlag zu öffnen, doch . . .
Da geschah etwas Unerwartetes und über die Maßen Schreckliches. Der Schlag ging auf der anderen Seite von selbst auf. Aus der Karosse rollte eine mittelgroße Gestalt von ansehnlichem Leibesumfang in militärischer Tracht, und seine Exzellenz der Oberkommandierende des Kijewer Armeekorps, Generalgouverneur des südwestlichen Bezirks, setzte sich zum allgemeinen Erstaunen auf seinen kurzen Beinen in eiligen Trab, quer über die Straße nach der gegenüberliegenden Seite hin . . .
Nach einigen Sekunden klärte sich der rätselhafte Vorfall auf: das wachsame Auge des Oberkommandierenden hatte nämlich aus der geschlossenen Kutsche hervor wahrgenommen, daß die im Vorgarten des Sawitzkischen Pensionats stehenden Schüler ihre Mützen nicht gezogen hatten. Die Schuldigen holten das Versäumte selbstverständlich sogleich nach, und nur einer, der Bruder der Pensionswirtin, wenn ich mich recht entsinne, ein Knirps aus der zweiten Klasse, glotzte mit aufgerissenem Mund und Augen die korpulente Exzellenz an, die unbegreiflicherweise in eigener Person über die Straße dahergetrippelt kam. Bösack stürzte in den Vorgarten, packte den Knaben beim Ohr und übergab ihn den herbeieilenden Polizisten mit dem kurzen Befehl:
»Verhaften!«
Das Polizeiamt befand sich dicht in der Nähe, und der erschrockene Knabe wurde sogleich ins Loch gesteckt, wo für gewöhnlich aufgegriffene Trunkenbolde bis zu ihrer Ernüchterung festgehalten zu werden pflegten. Erst nachdem diese Haupt- und Staatsaktion vollbracht war, begab sich seine Gestrengen nach der Wohnung des Polizeihauptmanns.
Die Kunde von diesem Vorfall verbreitete sich wie ein Blitz in der ganzen Stadt. An jenem Tage hatte ich wegen irgendeines Verschuldens im Karzer nachzubrummen und ging später als sonst heim, einen Haufen auseinanderstrebender Bücher in den Händen. Die Straße war leer; nur von weitem waren einige blaue Schüleruniformen sichtbar, die ein Schutzmann sachte vom Hause des Polizeihauptmanns abdrängte. Hie und da schoß eine einzelne Gestalt quer über die Straße und verschwand wieder in einem der Häuser. Erst als ich vor dem städtischen Rentamt angelangt war und um die Ecke bog, begegnete mir ein Trupp Kollegen, etwa zehn an der Zahl. Darunter bemerkte ich die Peretjatkiewitschs und die Damarazkis, Angehörige zweier verwandter polnischer Familien. Das waren meist hochgewachsene, vermögende Burschen, die der Gymnasialzucht gegenüber eine ziemliche Unbekümmertheit zur Schau trugen. Einer von ihnen war erst kürzlich gezwungen gewesen, das Gymnasium zu verlassen. Als sie meiner ansichtig wurden, vertraten sie mir den Weg und bewarfen mich mit Fragen:
»Hat man Sie durchgelassen? Nun, wie steht's? Ist es wahr, daß Sawitzki einen Anfall hat? Haben Sie seine Schwester gesehen?«
»Was ist los?« fragte ich erstaunt, abwechselnd in ihre erregten Gesichter blickend.
»Sie sind mir ein netter Kollege!« sagte spöttisch der ältere Peretjatkiewitsch. »Wo steckten Sie denn inzwischen?«
»Im Karzer.«
»Ach so! nun, das ist was anderes. Dann wissen Sie also nicht, daß Bösack den kleinen Sawitzki am Ohr gefaßt und auf der Polizeiwache hat einsperren lassen. Gehen Sie rasch nach Hause und rufen Sie die Kameraden auf die Straße.«
Die Kunde traf mich wie ein elektrischer Schlag. Ich sah vor mir leibhaftig den gutmütigen kleinen Sawitzki mit seinen naiven Augen und seiner Mütze mit dem großen Schirm. Dieses Bild ließ in mir ein schmerzliches Mitleid und eine noch unklare bösartige Empfindung aufsteigen. Mein Kamerad steckt also nicht im Karzer, sondern auf der Polizeiwache, krank, einsam, hilflos . . . Und nicht vom Inspektor eingesperrt . . . Eine andere, drohende, gewaltige, elementare Macht rüttelte jetzt das Gefühl der Kameradschaftlichkeit wach, und mein Herz krampfte sich zusammen ob dieser Beschimpfung. Was tun?
Ich lief nach Hause, warf die Bücher hin, und da ich keinen von meinen Brüdern daheim fand, stürzte ich wieder hinaus auf die Straße. Die Damarazkis mit den anderen waren nicht mehr dort. Sie waren wohl irgendwohin gegangen, Rat zu halten. Auf dem Platze aber wandelten Schüler, die durch das Geschehene ganz verstört waren, in Gruppen ruhelos hin und her. Es gelang den Schutzleuten nicht, sie auch nur von der Gymnasialstraße wegzudrängen. Man unterhielt sich über den Fall, fragte einander aus, teilte einander verschiedene Einzelheiten mit, steckte die Köpfe zusammen und ging wieder auseinander, ohne Rat zu finden. Einige besonders unternehmende Schüler waren vom Hof des Hortynskischen Hauses bis zur Polizeiwache vorgedrungen und berichteten, Sawitzki liege auf der Bank, und ein Schutzmann habe sein Gesicht mit einem dunklen Tuch zugedeckt . . .
Ich weiß nicht, was aus alledem geworden wäre, wenn die Peretjatkiewitschs Zeit gehabt hätten, irgendeinen bestimmten Plan auszuarbeiten: etwa, zuhauf zum Generalgouverneur zu gehen, ihm die Fenster einzuwerfen, oder etwas ähnliches zu unternehmen. Möglicherweise wäre auch gar nichts dergleichen geschehen, wir wären vielmehr schließlich jeder nach Hause gegangen, mit dem bittern Gefühl der eigenen Ohnmacht und des unterdrückten Hasses in den jugendlichen Herzen. Vielleicht hätten nur mitten in der Nacht die Fensterscheiben in der Wohnung des Generalgouverneurs in Scherben geklirrt, womit ein billiger Vorwand für Repressalien gegen das »aufrührerische Gymnasium« geliefert worden wäre . . .
Doch ehe dies alles entschieden war, geschah etwas anderes. Aus einem Hause derselben Gymnasialstraße trat in voller Uniform, den Dreimaster auf dem Kopfe, den Degen an der Seite, aufrechten Ganges, in tiefem Ernst, unser Direktor Dolgonogow. Er war erst vor kurzem bei uns angestellt, und wir Schüler kannten ihn noch wenig. Die Wahrheit zu sagen, hatten wir auch in der Folgezeit wenig Gelegenheit, den Mann richtig kennen zu lernen. Er war Großrusse, gehörte also nicht zur Sorte der Russifikatoren, war gerecht, erkannte sogar manchmal bei Zusammenstößen mit den Schülern die Obrigkeit als den schuldigen Teil an und war bei alledem streng. Für uns Schüler war er immerhin ein Vertreter der Schulobrigkeit, ein pünktlicher Formalist, der an sich selbst, wie auch an Professoren und Schüler hohe Anforderungen stellte. Er hatte überdies, wie sich zeigen sollte, Sinn für persönliche Würde und für die Würde der Sache, der er diente. So sehe ich wenigstens jetzt das Bild des Mannes, wenn ich an jenen aufregenden Tag zurückdenke.
In dem Augenblick, als er auf die Straße trat, atmete seine ganze Gestalt Festigkeit und ruhige Strenge. Man sah es ihm an, daß er wohl wußte, was er zu tun hatte, und er bahnte sich zwischen den herumstehenden Häuflein aufgeregter Schüler den Weg, wie ein großes Schiff zwischen schwanken Booten. Indem er die Grüße beantwortete, wiederholte er nur:
»Geht heim, Kinder, geht heim.«
Und es war etwas in seiner Erscheinung, was den Schülern das Gefühl beibrachte, daß sie tatsächlich Kinder seien und auf diesen ernsten, ruhigen Mann vertrauen könnten.
So trat er in das Haus, in dem der Generalgouverneur wohnte. Nach drei Minuten trat er wieder heraus in Begleitung des Polizeileutnants, der ihm ehrerbietig, die Mütze in der Hand, zur Seite lief, und beide begaben sich auf die Polizeiwache. Der Polizeileutnant öffnete die Tür, und der Direktor trat hinein zum eingesperrten Schüler. Gleich darauf kam eiligst der Schularzt mit dem Ditjatkiewitsch, während der andere Pedell die verweinte und erschrockene Schwester Sawitzkis dahergeleitete.
Es lag für uns etwas Erstaunliches und Feierliches in dieser Okkupation der Polizeiwache durch Beamte des Unterrichtsministeriums, und selbst der klumpfüßige Didonus, der geschäftig hinein- und heraushumpelte, schien uns in jenem Augenblick unser lieber Angehöriger zu sein. Als aber der andere Pedell, der gutmütige, rotbärtige, stets ein wenig »angeheiterte« Butowitsch, an das Tor heraustrat und verkündete: »Der Herr Direktor lassen alle Schüler bitten, sich nach Hause zu begeben,« – war eine Minute später um die Polizeiwache und das Quartier des Generalgouverneurs auch nicht eine blaue Uniform mehr zu sehen.
In Beamtenkreisen erzählte man sich alle Einzelheiten des Auftritts zwischen dem Generalgouverneur und dem Direktor, Als Dolgonogow ins Zimmer trat, fiel Bösack, rot wie ein Puter, über ihn her und schrie:
»Was ist denn das hier bei Ihnen? Aufruhr, was? Respektlosigkeit, was? Die Polenbrut zieht vor der Obrigkeit nicht die Mütze, was?«
»Exzellenz,« antwortete Dolgonogow kühl und fest, »zu jeder anderen Zeit bin ich bereit, alles anzuhören, was Eurer Exzellenz zu sagen beliebt. Jetzt fordere ich vor allem die unverzügliche Freilassung meines Schülers, der widerrechtlich von polizeiwegen verhaftet worden ist. Über das Vorgefallene habe ich meinen Vorgesetzten bereits telegraphischen Rapport erstattet.«
Bösack blickte den Direktor eine Weile fassungslos an und . . . gab Befehl, den kleinen Sawitzki sofort freizulassen.
An einem der Kartenabende bei meinem Vater kam das Gespräch der anwesenden Beamten auf jenen Vorfall. Alle ergriffen für Dolgonogow Partei, zollten seinem Mannesmut Bewunderung. Einige meinten, der Fall würde für ihn am Ende doch noch schlimme Folgen haben, während andere die Vermutung aussprachen, der Direktor müsse wohl in Petersburg starke Protektion haben. Mein Vater sagte darauf in seiner ruhigen, kategorischen Weise:
»Ach was! Der Mann hielt sich einfach an den Buchstaben des Gesetzes, das ist alles.«
»Aber ich bitte Sie,« rief man, »gegen einen Bösack aufmucken, der ja vom Zaren selbst ernannt ist!«
»Alle sind wir vom Zaren ernannt,« erwiderte mein Vater.
Der Vorfall hatte auch, soviel ich weiß, für den Direktor Dolgonogow keine üblen Folgen. Es waren finstere Zeiten, doch die »Gesetzmäßigkeit« hatte damals noch viel mehr Geltung als nachmals, hatte doch das Ministerium des Innern, d. h. Polizei und Gendarmerie dazumal noch nicht alle übrigen Regierungssphären mitsamt ihren Rechten, ihrer Ehre und Würde verschlungen . . .
Heutigentags ist Direktor Dolgonogow ein ausgestorbener Typus, dem der Boden naturgemäß in einer Zeit entzogen ist, in der schon der Appell selbst an die »Gesetzmäßigkeit« beinahe als gefährlicher Aufruhr gilt. So ist zum Beispiel vor einigen Jahren auf das Verlangen der Polizei hin ein Gymnasialprofessor entlassen worden. Er begab sich nach Petersburg, wußte sich vor seinen Vorgesetzten von jeder Schuld zu reinigen und bekam eine neue Anstellung. Kaum war er aber an seinem neuen Wirkungsort angekommen, als er einen Besuch des Polizeichefs bekam, der ihm eröffnete, daß ihm der Aufenthalt gerade in dieser Stadt verboten sei. In der Zeit meiner Kindheit waren gerade solche pfiffigen Manöver undenkbar, und selbst der Minister Tolstoj, der doch dem Lande »so viel Böses zugefügt hat«, wie man am Kartentisch meines Vaters zu sagen pflegte, war immerhin ein Beamter alten Schlags. Er hätte sich für entehrt betrachtet, wenn er etwa einen seiner Untergebenen der gesetzwidrigen Rache eines anderen Ressorts preisgegeben hätte.
Dostojewski erzählt gelegentlich im »Tagebuch eines Schriftstellers«, welch tiefen Eindruck es auf ihn einmal in der Jugend gemacht hätte, als er zum erstenmal auf der Postroute einen Feldjäger sah: dieser stand aufrecht im Wagen und hieb unausgesetzt mit der Faust auf den Rücken des Kutschers ein, der Kutscher peitschte wie ein Rasender die Pferde, und die Trojka sprengte mit tödlichem Entsetzen in den Augen in voller Karriere den Weg dahin. Jenes Bild ward dem Jüngling für sein Leben lang zu einem Symbol des absolutistischen Rußlands, und das Erlebnis mag vielleicht in der Folge mit dazu beigetragen haben, daß Dostojewski später einmal in der Erwartung der über ihn verhängten Todesstrafe am Galgen stehen mußte.
In meinem Gedächtnis blieb als ein solches symbolisches Bild aus meiner frohen Jugend die Gestalt des Generalgouverneurs Bösack haften. In meiner bis dahin geschlossenen Vorstellung von der »elementaren Macht« der Obrigkeit klaffte auf einmal ein großer Riß. Auf der einen Seite erschien vor mir der machtbekleidete Satrape, der eigenhändig ein winziges Bübchen am Ohr zerrt, auf der anderen – das von der Macht entblößte Recht, das einen bescheidenen Gymnasialdirektor zum Kampf und Sieg über den Satrapen wappnete.
Ich frage: Hat die russische Schule viel solcher Fälle im Laufe der letzten Jahrzehnte aufzuweisen, in denen doch die Übergriffe des »polizeilichen« Regimes und die Revolten der Schuljugend auf der Tagesordnung stehen? Oder wer anders hat etwa sonst im Kampfe für Menschlichkeit und Recht in Rußland Bürgermut gezeigt? . . .