Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen Zweiter Band
Wladimir Korolenko

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mein ältester Bruder wird Schriftsteller.

Mein ältester Bruder war etwa um zwei Jahre älter als ich. Er schien einige Charakterzüge meines Vaters geerbt zu haben, wie dieser war er jähzornig und rasch wieder besänftigt, gleich dem Vater hatte auch er immer irgendeine Liebhaberei, der er mit Feuereifer nachhing, um sie nach einiger Zeit zugunsten eines neuen Einfalls aufzugeben. So verfertigte er eine Zeitlang Häuschen aus Papier, dann Schiffe, in welcher nutzlosen Bauerei er sogar eine ziemliche Fertigkeit erlangt hatte. Seine Miniaturfregatten waren nach allen Kunstregeln ausgerüstet: mit Masten, Raaen, sogar mit winzigen Geschützen, die zu ebenso winzigen Luken herausguckten. Dann war es plötzlich mit der Baukunst aus und ein neues Steckenpferd kam an die Reihe.

Besonders leidenschaftlich ergab er sich dem Bücherlesen. Häufig konnte man ihn auf einem Sofa oder Bett in der unbekümmertsten Stellung: auf allen Vieren, auf beide Ellbogen gestützt, die Augen in ein Buch gebohrt, liegen sehen, daneben einen Stuhl mit einem Glas Wasser darauf, nebst einem dick mit Salz bestreuten Stück Brot. So verbrachte er ganze Tage, in völliger Vergessenheit der Mittags- und Abendmahlzeiten, von den Schularbeiten ganz zu schweigen.

Erst war dies ein ganz planloses Herumschmökern. Der ewige Jude, Die drei Musketiere, Nach fünfundzwanzig Jahren, Die Königin Margot, Der Graf von Montechristo, Die Geheimnisse des Hofes von Madrid, Rocambole und dergleichen: das war seine geistige Nahrung. Er bezog sie von kleinen jüdischen Buchhändlern, zu denen er mich manchmal schickte, um die Bücher umzutauschen. Unterwegs pflegte ich das Buch aufzuschlagen und gierig Seite um Seite zu verschlingen. Mein Bruder ließ mich aber nie ein Buch zu Ende lesen, da ich »für Romane noch zu klein« wäre. So ist mir vieles aus jener Literatur bis auf den heutigen Tag in Gestalt greller zusammenhangloser Fetzen im Gedächtnis haften geblieben.

Einmal – mein Bruder war damals in der fünften Klasse des Gymnasiums von Rowno – stellte der alte Kauz Lumpi die Frage, wer von den Schülern wohl Lust hätte, ein französisches Gedicht im Versmaß ins Russische zu übertragen:

De ta tige détachée,
Pauvre feuille dessechée,
Où vas-tu? je ne sais rien
. . .
        usw.

Die ganze Klasse lehnte ab. Nur zwei Liebhaber fanden sich: ein gewisser Sudelewski und mein Bruder. Dieser stürzte sich auf das Gedicht ebenso leidenschaftlich wie kurz vorher auf die Verfertigung von Papierfregatten, und es gelang ihm schließlich, die schwermütige Betrachtung über die Schicksale eines vom Bach hinweggetragenen Blättchens in ganz anständigen russischen Reimen wiederzugeben. Das Gedicht machte sowohl unter den Kameraden wie unter den Professoren einiges Aufsehen. Mein Bruder kam plötzlich in den Ruf eines »Dichters« und verbrachte seitdem ganze Tage damit, Verse zu schmieden. Wir andern Geschwister lachten gewöhnlich, wenn er mit der linken Hand auf dem Tisch das Versmaß fingerte, während er mit der rechten auf dem Papier eifrig kritzelte, durchstrich und wieder kritzelte. Wurde er unsere Heiterkeit gewahr, dann riß er sich wohl für einen Augenblick von seiner Muse los, um uns mit geballter Faust zu drohen, worauf er sich gleich wieder in seine Beschäftigung vertiefte.

Da auch der Schüler Sudelewski die Übersetzung des französischen Gedichts fertig gebracht hatte, so wollte man zuerst in der Klasse zwei Dichter auf einmal entdeckt haben. Sudelewski, der Sohn einer mittellosen Witwe, die ein Schülerpensionat hielt, war ein Jüngling in achtbarem Alter, mit Finnen im Gesicht, breitknochig und von bärenartiger Plumpheit. Seine Übersetzung war herzlich schlecht, wurde aber dennoch mit ermunterndem Wohlwollen aufgenommen. Daraufhin legte sich Sudelewski einen ganz anderen Gang bei, trug auf neue Art seinen Kopf, indem er ihn zwischen den hochgezogenen Schultern zurückbog, und fing an, beim Reden sehr vornehm seine Worte zwischen den Zähnen zu kauen.

Der Erfolg meines Bruders ließ ihn nicht schlafen. Er beschloß, den Nebenbuhler in den Schatten zu stellen, zu welchem Behufe er auf einmal mit einem »Originalpoem« und mit einer »Satire« hervortrat. Die Satire führte den Titel: »Ein Sendschreiben an den Bruder in Apoll« und spritzte, unter der Form einer erheuchelten Huldigung an die Vorzüge des Nebenbuhlers, Gift und Galle. Das Poem hinwiederum schilderte die Leiden einer jungen Griechin, die sich anschickt, sich von wegen einer hoffnungslosen Liebe zu einem jungen Italiener vom Felsen ins Meer zu stürzen. Der Dichter ruft vergeblich die Vernunft der Unglücklichen an und redet ihr zu, ihr junges Leben zu sparen. Sie führt ihr unseliges Vorhaben aus und stürzt sich in die Fluten. Aber auch der hartherzige italienische Jüngling entgeht seinem Verhängnis nicht: »Die Wogen spülten den griechischen Leib ans felsige Ufer« – just an der Stelle wo der junge Italiener wohnte. Das Poem schloß mit dem ergreifenden Vers:

Dies Gespenst vermochte er nicht zu vertreiben
Und war gezwungen, sich selbst zu entleiben.

Darauf ließ mein Bruder eine Fabel in Versen: »Der Volkspoet Sudeler« vom Stapel. Der Spitzname blieb denn auch an Sudelewski hängen.

Dieses kleine Zwischenspiel rüttelte immerhin die literarischen Interessen in den Schülerkreisen auf und hätte in weiterer Folge unter Umständen auch in eine ernstere Strömung ausmünden können, etwa in der Art, wie sie einst auf dem Lyzeum von Zarskoje Sselo oder auf dem Gymnasium von Njeschin zu Gogols Zeiten herrschte. Unser damaliger Literaturprofessor Andrijewski hatte jedoch für dergleichen nicht den geringsten Sinn, sodann aber erschienen alsbald Zirkulare des Ministeriums, die jegliche Zusammenkünfte und Vorträge der Schuljugend außerhalb der Schule untersagten. Minister Tolstoj trug Sorge, daß die geistigen Interessen der Zöglinge der russischen Mittelschule nicht etwa wie ein frischer Quell kräftig hervorsprudelten: sie sollten zahm und gleichgültig im Bett des offiziellen Schulprogramms dahinsickern.

Sudelewski nahm indes die Pose des verkannten Genies an. Mit dem Siegel des Märtyrers auf der Stirn fuhr er fort, lange und langweilige Erzeugnisse zu produzieren. Als ihn Andrijewski einmal in der Stunde etwas aus der Theorie der Literatur fragte, erhob er sich und erklärte halb spöttisch halb majestätisch:

»Für einen Menschen mit der kastalischen Quelle im Busen sind tote Theorien unnütz.«

Andrijewski machte darauf nur sein übliches verwundertes »O – oh! . . .« und stellte dem Dichter eine Eins.

Gegen Jahresschluß sagte Sudelewski dem Gymnasium ein Lebewohl und trat bei der Telegraphie ein. Mein Bruder fuhr indes fort, einsam und führerlos, auf dunklen und verschlungenen Pfaden den Parnassus zu erklimmen. Stundenlang trommelte er mit den Fingern Versmaße auf dem Tisch, machte Übersetzungen, verfaßte Originalgedichte, suchte nach Reimen, legte sich sogar eine Art Reimwörterbuch an . . . Die Schulaufgaben litten darunter mehr und mehr. Auch hatte er es sich zum großen Kummer der Mutter zur Gewohnheit gemacht, den Unterricht zu schwänzen.

Einmal kam ihm die Anzeige einer kurzlebigen kleinen Revue zu Gesicht, und er sandte ihr eines seiner Gedichte ein. Das Gedicht wurde angenommen, wenn ich nicht irre, sogar gedruckt, allein die Revue tauchte wieder unter, ohne dem Dichter sein Honorar oder auch nur ein Belegexemplar zu schicken. Durch diesen fragwürdigen Erfolg immerhin ermuntert, wählte mein Bruder einige seiner poetischen Erzeugnisse aus, ließ mich sie sauber abschreiben und sandte sie . . . an die Redaktion der berühmten »Vaterländischen Denkwürdigkeiten«, zu Händen Nekrassows selber.

Nach zwei – drei Wochen traf in unserem weltentlegenen Provinznest die Antwort von »Nekrassow selber« ein, – freilich keine besonders tröstliche. Der große Dichter schrieb, die Gedichte meines Bruders seien gewiß glatt, anständig, nicht ohne literarischen Schliff, man würde sie wahrscheinlich hin und wieder zum Druck annehmen, aber . . . dies sei doch bloß Reimschmiedekunst, keine Dichtkunst. Dem Verfasser müsse dringend geraten werden, fleißig zu lernen, viel zu lesen und später einmal etwa auf anderen Gebieten der Literatur seine Feder zu versuchen.

Mein Bruder nahm sich die Belehrung anfangs sehr zu Herzen. Er gab es auf, Versmaße auf dem Tisch zu trommeln, und wandte sich ernsten Büchern zu. Jetzt verschlang er Ssjetschenow, Moleschott, Schlosser, Dobroljubow, Buckle und Darwin, immer mit dem ihm eigenen leidenschaftlichen Ungestüm. Er machte ausführliche Auszüge aus den Büchern und warf mir mitunter – ganz wie einst Vater – im Vorbeigehen irgendeinen Gedanken, der ihm aufgefallen war, einen charakteristischen Spruch, einen schönen Vers, noch ganz warm, frisch aus dem Buche, hin. Seinen Lesestoff bezog er jetzt aus der Bibliothek des Bataillons, die alle modernen Werke enthielt.

»Oho! Merkt euch, was ich sage: dieser Bursche wird mal ein Gelehrter oder ein Schriftsteller,« prophezeite tiefsinnig Onkel Hauptmann.

Der Ruf des angehenden »Schriftstellers« verbreitete sich übrigens auch in der Stadt, sozusagen auf Vorschuß. Nekrassows Brief wurde auf irgendeine Weise ruchbar und gab meinem Bruder ein besonderes Ansehen.

Das Gymnasium mußte er indes verlassen. Es war geplant, daß er nach genügender Vorbereitung zu Hause später doch das Abiturium machen solle, er aber fuhr fort, statt sich für die Prüfung vorzubereiten, ein Buch nach dem andern zu verschlingen, Auszüge zu machen und Pläne für irgendwelche literarische Arbeiten zu schmieden. Manchmal las er mir, mangels eines würdigeren Hörerkreises, Bruchstücke aus seinen Machwerken vor, und ich war jedesmal von der Klarheit und Eleganz seines Stils entzückt. Da kam über ihn eine neue Schrulle.

Diesmal war der damals in Rußland wohlbekannte Verleger Trubnikow der Schuldige. Eben erst hatte dieser betriebsame Geschäftsmann die »Börsennachrichten« gegründet, die er zum Sprachrohr der Provinz zu gestalten versprach, und seine grellen anreißerischen Anzeigen machten auf die Provinzler nicht geringen Eindruck. »Wissen Sie, ich habe auf das Trubnikowsche Blatt abonniert«: so konnte man jetzt häufig die Schildbürger reden hören. Die »Börsennachrichten« tauchten auch in unserem Städtchen auf, wo sie bald den althergebrachten »Sohn des Vaterlandes« verdrängten und auch dem »Golos« erfolgreiche Konkurrenz bereiteten.

Einmal brachte man meinem Bruder einen Brief mit der Firma der »Börsennachrichten« auf dem Umschlag. Er öffnete ihn, und auf seinem Gesicht malte sich freudiges Erstaunen. Der Brief war von Trubnikow selber. Freilich war es nur ein gedrucktes Formular, die Anrede jedoch war ausdrücklich an meinen Bruder gerichtet. Wie die Kunde von seiner Existenz und seinen schriftstellerischen Neigungen zu dem betriebsamen Verleger gedrungen, ist schwer zu sagen. Der Brief betonte die wichtigen Aufgaben der Presse »in unserer Zeit«, und forderte meinen Bruder auf, durch Einsendung von Berichten, Notizen und Artikeln über verschiedene Fragen von örtlicher Bedeutung an der geistigen Aufrüttelung der Provinz tätig mitzuwirken.

Mein Bruder ließ für eine Zeitlang sogar das Bücherlesen im Stich. Er verschaffte sich einige Nummern des Trubnikowschen Blattes, las sie von Anfang bis zu Ende durch, bewaffnete sich sodann mit Briefpapier, vertiefte sich in Gedanken, kritzelte, strich wieder durch, zählte Zeilen und Buchstaben, um das Niedergeschriebene in den Rahmen eines Zeitungsberichtes zu pressen, und nach einigen Tagen so angestrengter Arbeit durfte ich das neue Erzeugnis meines Bruders ins Reine schreiben. Es begann mit den Worten:

Aus Rowno (Eig. Ber.).

Darauf folgte eine keck hingeworfene Charakteristik des kleinen Provinznestes mit seiner geistigen Öde, dem Klatsch und den kleinlichen Interessen. In allgemeinen flüchtigen Umrissen waren die Provinztypen geschildert, hie und da hoben sich vorteilhaft stilistische Wendungen und Zitate hervor, sprechende Zeugnisse für die Belesenheit des Verfassers. Mir schien bloß, daß bei alledem von irgendeinem abstrakten Städtchen im allgemeinen, nicht von unserem Rowno, die Rede war, und die Typen eher aus Büchern, denn aus unseren Kreisen stammten. Meine Bemerkung in diesem Sinne machte jedoch den Verfasser keineswegs irre. Gerade so gehöre sich das, meinte er. Das sei eben »Literatur«. Darin gehe es stets ein wenig anders zu als im Leben.

Der Bericht wurde abgesandt. Etwa zehn Tage später brachte unser alter Briefträger, wie immer von bellenden Hunden begleitet, deren er sich mit seinem kurzen Säbelchen zu erwehren suchte, eine Zeitungsnummer und einen neuen Redaktionsbrief für meinen Bruder. Der ergriff sofort das Blatt und strahlte; auf der dritten Seite stand in deutlichem Halbfett zu lesen:

Aus Rowno (Eig. Ber.).

Mir erschien das fast wie ein Wunder. Eben hatte ich doch erst diese selben Worte mit meiner gleichgültigen Handschrift auf gleichgültiges Briefpapier hingemalt, und nun kehren sie, von einer unbekannten geheimnisvollen »Redaktion« auf ein Zeitungsblatt gedruckt, zurück, haben auf einmal in mehrere Häuser Eingang gefunden, wo man sie in dieser selben Stunde immer wieder liest, bespricht, einander aus der Hand reißt . . . Ich las den Bericht durch, und es kam mir vor, als steche er von dem riesigen grauen Papierbogen beinahe mit feurigen Lettern ab. Vor dem gedruckten Worte verstummten meine Zweifel ehrerbietig. Das war also in der Tat »Literatur«, d. h. etwas unendlich Anziehenderes als unser trübseliges Städtchen mit seinen schlammüberzogenen Teichen und schläfrigen Katen. Das Blatt mit der Spalte kecker Zeilen aus der Feder meines Bruders platzte wie ein Stein in stehendes Gewässer hinein, als hätte sich plötzlich über der verschlafenen Stadt eine geheimnisvolle und majestätische Gestalt geneigt: Herr Trubnikow selber blickte aus seiner erhabenen Ferne mit klugem und spöttischem Auge hinein.

Das Städtchen kam in der Tat in Bewegung, wie ein aufgestörter Ameisenhaufen. Die Zeitungsnummer wanderte von Hand zu Hand, über die Person des ungenannten Berichterstatters wurden Mutmaßungen geäußert, in den allgemeinen Charakteristiken suchte man bestimmte Personen zu erraten, machte einander auf die Anspielungen aufmerksam. Und da der Berichterstatter zum Schluß versprach, auf dem geschilderten allgemeinen Hintergrund späterhin über »verschiedene einzelne Vorfälle aus dem gesegneten Dämmerleben der Schildbürger« zu melden, so konnte Trubnikow bald in unserer Stadt einige neue Abonnenten zählen.

Dieses Ereignis schwächte leider beträchtlich die heilsame Wirkung des Nekrassowschen Briefes auf meinen Bruder ab. Er kam sich plötzlich wie eine Art Atlas vor, auf dessen Schultern der Himmel der Stadt Rowno ruhte. Während man in der Stadt den Verfasser zu erraten suchte, saß dieser am Tisch, schaukelte, unter ständiger Gefahr, hintenüber zu kippen, auf dem Stuhl und suchte, den Blick auf die Zimmerdecke geheftet, nach neuen Stoffen für seine Berichte. Er ging wieder völlig in diesem Treiben auf. Eine Korrespondenz nach der anderen flog nach Petersburg, und wurden auch nicht alle gedruckt, so doch manche, mit dem Ergebnis, daß der Briefträger einmal eine Postanweisung auf 18 Rubel und 70 Kopeken ins Haus brachte. Diese Summe schien zur damaligen Zeit, wo festangestellte Gerichtsbeamte Gehälter von 3 und 5 Rubel monatlich bezogen, ein ganzes Vermögen. Das schläfrige Nest lieferte freilich wenig Stoff, doch mein Bruder war in dieser Hinsicht erfinderisch. Die größte Aufregung hatte sein Bericht über eine Abendunterhaltung im örtlichen Klub verursacht, zu der auch Schüler des Gymnasiums geladen gewesen waren. Die Erfolge dieser waren nämlich in dem Bericht etwas dick aufgetragen. So hieß es da, die Jünger der Minerva (d. h. die Gymnasiasten), hätten die Marssöhne (d. h. die Offiziere der Garnison und des Schützenbataillons) entschieden in den Schatten gestellt, und die reizende Liebesgöttin, die bis dahin ihre Huld an die Achselstücke und den schneidigen Schnurrbart allein verschwendet habe, sei nunmehr gesonnen, ihr Händchen mit verschämtem Ermunterungslächeln den bartlosen Jünglingen im blauen Uniformrock hinzustrecken. Die Offiziere der Stadt Rowno fühlten sich durch diese Darstellung tief gekränkt und erblickten in dem Bericht eine »Beleidigung des Heeres und seiner Standesehre«. Der Hauptmann wurde beim Direktor des Gymnasiums vorstellig, lange konnte sich das Städtchen nicht beruhigen. Das praktische Ergebnis der Geschichte war, daß den Schülern der Besuch von Tanzvergnügungen im Klub untersagt wurde.

Mein Bruder gab indes jede Mühe um seine Vorbereitung zu der geplanten Prüfung auf. Er ließ sich ein Schnurrbärtchen und ein Zwickelbärtchen wachsen, verzierte sein Antlitz mit einem Zwicker und entwickelte plötzlich die Neigungen eines Stutzers. Der frühere Bärenhäuter, der ganze Tage lang über den Büchern gehockt hatte, verwandelte sich in eine Art Weltmann in steifen Manschetten und Lackschuhen. »Ich muß in der Welt verkehren,« meinte er, »das ist für meine Arbeit notwendig.« Er wurde regelmäßiger Klubbesucher, vortrefflicher Tänzer und hatte Erfolg »in der Welt« . . . Es war auch mittlerweile allgemein bekannt, daß er »der Mitarbeiter Trubnikows« und »Schriftsteller« sei.

Einmal unterlief es ihm, einen »ernsteren« Stoff anzuschneiden. In der Stadt war nämlich gerade ein braver Bürger bestohlen worden, und mein Bruder schilderte sehr eindrucksvoll die hilflose Lage der Einwohner des Städtchens bei dunklen Herbstnächten, ohne Straßenbeleuchtung, mit Nachtwächtern, die sich an ihren Straßenecken einem gesegneten Schlummer ergaben. Der Gehilfe des Polizeihauptmanns, der angesichts der vollendeten Greisenhaftigkeit seines derzeitigen Chefs Gotz tatsächlich die oberste Polizeigewalt der Stadt Rowno verkörperte, ließ daraufhin meinen Bruder »behufs einer gewissen vertraulichen Unterredung« zu sich bitten. Er bot seinem Gast zunächst höflich eine Zigarette an und begann sodann die diplomatische Eröffnung. Einleitend erzählte er meinem Bruder, er habe unseren verstorbenen Vater sehr gut gekannt und aufrichtig verehrt, außerdem nähre er eine große Hochachtung für die Literatur. Er wolle zugeben, daß die Schilderung des bewußten Tanzabends im Klub sehr witzig und liebenswürdig gewesen sei. In der letzten Zeit jedoch habe das Trubnikowsche Blatt angefangen, seine Angriffe gewissermaßen gegen »die Tätigkeit der Regierung« zu richten.

Mein Bruder gab seiner Verwunderung Ausdruck: von der Regierung hätte er ja seines Wissens kein Sterbenswort geschrieben. Ja, hieß es darauf, unmittelbar freilich nicht. Aber es sei doch von den schlummernden Nachtwächtern und so gewissermaßen von der Untätigkeit der Obrigkeit die Rede gewesen. Der Korrespondent hätte ja behauptet, daß die Raubüberfälle häufiger geworden wären, »wer aber, gestatten Sie die Frage, wer hat die Pflicht darauf acht zu geben? Die Polizei! Da haben wir's.« Die Polizei sei aber ein Regierungsorgan. Sollten demnach die Zeitungsberichte auch künftighin die Tätigkeit der Regierung in den Bereich ihrer Erörterungen einbeziehen, so würde er, der Gehilfe des Polizeihauptmanns, bei aller Hochachtung für den seligen Herrn Papa und für die Literatur, sich veranlaßt sehen, vertrauliche Ermittelungen über die staatsgefährliche Tätigkeit des Herrn Berichterstatters anzuordnen und sogar . . . – es sei ihm wirklich höchst peinlich, dies sagen zu müssen – sogar beim Generalgouverneur die Entfernung des Herrn Literators aus der Stadt Rowno anzuregen . . .

Darauf verabschiedete er liebenswürdig seinen Gast, versicherte nochmals, daß er für die Presse eine große Hochachtung hege, von der spitzen Feder des ihm eigentlich unbekannten Berichterstatters sehr entzückt sei und gegen die öffentliche Brandmarkung gesellschaftlicher Unsitten nicht das geringste einzuwenden habe. Nur dürfe dabei an der Autorität der Staatsgewalt nicht gerüttelt werden . . .

Mein Bruder kam von der Unterredung ein wenig besorgt und zugleich nicht wenig geschmeichelt nach Hause. Er wäre also bereits eine Macht, mit der »die Regierung« rechnen mußte! Am gleichen Abend, als wir uns beide in unserem Gärtlein bei Mondlicht ergingen, gab er mir das Gespräch in allen Einzelheiten wieder und fügte hinzu:

»Ja, da haben wir die Kehrseite der Berühmtheit . . . Aber sag einmal, hast du je gedacht, daß dein Bruder so schnell zum Führer der öffentlichen Meinung würde?«

»Nu – hn,« gab ich gedehnt zurück, »das ist doch wohl den Mund etwas zu voll genommen.«

Er blieb in der von Mondlicht durchwirkten Allee stehen und sagte mit einiger Gereiztheit, da mein Zweifel in seine gehobene Stimmung einen Mißklang brachte:

»Du bist noch dumm. Ich will dir nach allen Regeln der Logik beweisen, daß das stimmt. Voraussetzung: die Presse führt die öffentliche Meinung, sprich: ja oder nein?«

»Nun, sagen wir: ja.«

»Bin ich jetzt ein Schriftsteller?«

»Nna – ja,« gab ich etwas zögernd zu.

»Zweifellos bin ich einer, denn ein Mensch, dessen Artikel gedruckt werden, ist ein Schriftsteller. Daraus der Schluß: auch ich bin Führer der öffentlichen Meinung. Ich rate dir, die »Logik« von John Stuart Mill zu lesen, dann wirst du keine albernen Einwände machen.«

Ich widersprach nicht mehr, worauf er sich besänftigte und weiter im Auf- und Abwandeln in der Allee seine Pläne entwickelte.

Die Leser werden die kleinen Übertreibungen meines Bruders mit Nachsicht beurteilen, wenn sie in Betracht ziehen, daß er damals im siebzehnten oder achtzehnten Jahre stand, daß er eben erst die langweilige Zuchtrute der Schule losgeworden war, und daß er im Grunde genommen alle Merkmale des sogenannten literarischen Ruhmes aufweisen konnte.

Was ist in der Tat literarischer Ruhm? Zola erzählt in seinen Erinnerungen ein ergötzliches kleines Erlebnis. Als er bereits »Schriftsteller von Weltruf« war, wurde er einmal von einem seiner Verehrer ersucht, bei der Vermählung seiner Tochter als Trauzeuge aufzutreten. Die Sache spielte sich in einer kleinen Dorfgemeinde bei Paris ab. Während der Eintragung der Zeugen hob der Bürgermeister, ein Kaufmann des Ortes, bei Zolas Namen den Kopf vom Buch und fragte mit lebhaftem Interesse:

»Monsieur Zola? Hutmagazin in der Straße soundso?«

»Nein, Schriftsteller.«

»So!« sagte der Bürgermeister gleichgültig und schrieb den Namen ein.

Dem Schriftsteller folgte ein Monsieur Michel. Der Bürgermeister hob wieder den Kopf:

»Monsieur Michel . . . Wäschemagazin Straße soundso?«

»Jawohl.«

Das Gemeindeoberhaupt kam in Bewegung. »Pst, einen Stuhl her für Monsieur Michel . . . bitte sehr, gefälligst Platz zu nehmen . . . Freut mich außerordentlich, Monsieur Michel.«

Diese kleine Episode, die ich aus dem Gedächtnis wiedergebe, zeigt ziemlich richtig die Grenzen auch der größten »Weltberühmtheit« auf. Berühmtheit bedeutet, daß der Name eines Menschen sich in der weiten Welt auf bestimmten Pfaden verbreitet. Man kennt ihn – dies im besten Falle – wo das gedruckte Wort gelesen wird. Gelesen wird aber auf dieser Welt insgemein furchtbar wenig. Die lesende Menschheit, das ist ungefähr die Oberfläche der Flüsse im Vergleich zu der gesamten Bodenfläche der Festländer. Ein Schiffskapitän, der auf einem gewissen Teil des Flusses seinen regelmäßigen Kurs hält, ist auf dieser Strecke sehr bekannt. Er braucht sich aber nur einige Meilen vom Ufer ins Land hinein zu entfernen, und er steht vor einer anderen Welt, hier gibt es breite Täler, Wälder, zerstreute Dörfer. Darüber ziehen Luftströme und Gewitter dahin, ein eigenes Leben geht hier seinen Weg, und in die gewohnte Musik dieses Lebens hat sich noch nie der Klang des Namens unseres Kapitäns oder »weltberühmten« Schriftstellers gemischt. Das ändert freilich nicht, daß er in seinem bestimmten Kreise, auf seinem vertrauten Pfade auch wirklich allgemein bekannt ist.

Mit meinem Bruder rechnete die »Regierung«, ihn kannte »die gebildete Gesellschaft« der Stadt Rowno, Beamte, jüdische Händler, alle die Kreise, die vor jeder geistigen Betätigung großen Respekt haben.

Bei schönem Wetter pflegte »die ganze Stadt« ins Freie hinauszuströmen und in bunten Wellen auf der Strecke zwischen dem Gefängnisgebäude und dem Postgebäude hin- und herzuwogen. Die Schildbürger lustwandelten mit ihren Familien ehrbar, wirbelten mit Füßen Staubwolken auf, begrüßten einander, tauschten Neuigkeiten aus, die spärlich in die Stadt gelangten, hin und wieder tauchte in dem alltäglichen Bilde ein benachbarter Magnat, ein Graf Platter, ein Fürst Wischnewecki oder ein Beamter aus der Residenz auf, der zufällig als geheimer »Revisor« auf der Dienstreise in unserem Städtchen Rast machte. Solchen ungewohnten Gästen folgten alle Blicke, die Menge drängte sich um sie. Zuweilen erschien auf der Promenade der Direktor des Gymnasiums, der Kreisrichter, der Polizeigehilfe, der Kreisrentmeister . . . Das war schon eine Art Aristokratie. Es gab aber auch nichtamtliche Notabilitäten. So ein Beamter Michalowski, der kürzlich aus Petersburg eingetroffen war. Der Mann hatte eine besondere Vorliebe für grelle Jacken und Schlipse und außerordentlich enge Beinkleider. Man erzählte, daß er des Morgens, wie der Prinz d'Artoi nach Carlyles Bericht, in seine Unaussprechlichen vom Tisch hineinspringe, des Abends aber von einem kräftigen Diener daraus direkt ins Bett herausgeschüttelt werde. All das war komisch, aber . . . der Name und Vorname des Mannes entsprachen genau denjenigen des in Rußland allgemein bekannten Dichters und Übersetzers Michalowski. Wenn daher in dem goldigen Staub, den das spazierende Publikum aufwirbelte, das Quecksilbermännlein in der bunten Aufmachung auftauchte, blickten sich alle nach ihm um und flüsterten:

»Herr Michalowski . . . der Dichter . . . wissen sie? schreibt im »Djelo« . . .

»Freilich, freilich . . . ich habe gelesen«! . . .

Und erst als die Verwechselung aufgeklärt war, schwand der Glanz des neuen Ankömmlings, nur die engen Beinkleider und die komischen Anekdoten blieben übrig.

Einmal erschien auf der Promenade ein stutzerhafter Jüngling, der sich in der Menge sehr ungezwungen und lebhaft bewegte, rechts und links Händedrücke und Scherze tauschte, hinter ihm drein lief das Gemurmel:

»Arepa, Arepa . . . Mitarbeiter der »Iskra« . . . hat den Gouverneur Bässe gestürzt . . .«

Arepa hatte unser Gymnasium absolviert und war nun, wenn ich nicht irre, Bureauvorsteher bei einem Rechtsanwalt in Shitomir. Einmal war in der »Iskra« ein Feuilleton unter dem Titel »Eine Unterhaltung zwischen Koffer Iwanowitsch und Samowar Nikiforowitsch« erschienen. In dem Koffer Iwanowitsch wollte man den Chef des Gouvernements, in dem Samowar Nikiforowitsch einen Shitomirer Kaufmann Schurawlew erkennen. Die Unterhaltung der beiden drehte sich um ein ansehnliches Schmiergeld, das dem Gouverneur für die Verpachtung des Postbetriebes an den Kaufmann in Aussicht gestellt war. Die Sache wurde zum Stadtgespräch und die Position des Gouverneurs war ernstlich erschüttert. Eines Tages bemerkte der also bloßgestellte Würdenträger im Billardsaal des Klubs den Arepa und ging, wohl in der Hoffnung, durch Überrumpelung einen reumütigen Widerruf des Geschriebenen zu erzielen, kurz entschlossen auf ihn zu:

»Sie, junger Mann . . . wie ich höre, haben Sie . . . äh . . . eine schmutzige Verleumdung in die Welt gesetzt . . .«

Arepa stellte sich erschrocken, blickte zu dem Chef des Gouvernements zitternd hinauf und stotterte:

»Gestatte mir gehorsamst die Frage . . . was nämlich, Exzellenz?«

Der General bekam Mut. Bei dem Gespräch waren mehrere Klubbesucher und Beamte zugegen, sogar eine blaue Gendarmenuniform tauchte in der Nähe auf.

»Nun, äh, was weiß ich« . . . fuhr er mit majestätischer Nachlässigkeit fort, »über angebliche fünf Tausend . . . äh . . . von dem Schurawlew . . .«

»Verleumdung, Exzellenz«! stotterte Arepa, dessen Gestalt die kläglichste Unterwürfigkeit ausdrückte, »mich wollen wohl Feinde in Ihren Augen zugrunde richten, Exzellenz!«

Und plötzlich rief er, stramm aufgerichtet:

»Zehntausend, Exzellenz . . . ich habe gesagt: zehntausend!« . . .

Der Gouverneur hat beinahe den Schlag gekriegt und reichte kurz darauf »aus Familienrücksichten« seinen Abschied ein.

So wurde die Geschichte in den Kreisen der Spießbürger erzählt. Tatsache war jedenfalls, daß der Gouverneur nach der Veröffentlichung des bewußten Feuilletons gegangen war, während der Entlarver am Leben blieb und jetzt, zu Besuch bei seinen Eltern, in der Vaterstadt seinen jungen Ruhm genoß.

Er tauchte an unserem Horizont auf und verschwand wieder wie ein Meteor, ließ aber einen großen Respekt vor dem Beruf des Zeitungskorrespondenten zurück. Einen Gouverneur stürzen war keine Kleinigkeit. Mein Bruder war auch Zeitungskorrespondent. Und hatte er auch noch keinen Gouverneur gestürzt, so wußten doch alle, daß seine Feder es war, die in unser Nest von Zeit zu Zeit Bewegung brachte, indem sie bald das Beamtentum, bald das Offizierkorps, bald die Nachtwächter in Aufregung brachte. Er wurde beachtet, zu Abendunterhaltungen eingeladen, der und jener solide Bürger faßte ihn unter den Arm, führte ihn beiseite und erging sich in Komplimenten für sein »Talent«, worauf zum Schluß die Bitte folgte, den oder jenen von den lieben Mitbürgern ein bißchen aufs Korn zu nehmen . . . Ist es da ein Wunder, daß mein Bruder eine Zeitlang in seinem »Ruhm« schwelgte, ohne zu merken, daß er sich in leerer Luft drehte, und daß seine erschütternden Zeitungsberichte im Grunde genommen nichts und niemand vorwärts bewegten.

Auf mich übten diese »literarischen Erfolge« meines Bruders eine eigene Wirkung aus. Sie waren es, die für mich zum ersten Mal zwischen der Literatur und dem alltäglichen Leben eine Brücke geschlagen hatten: kehrten doch Worte, die vor meinen Augen aufs Papier geworfen waren, aus der Hauptstadt als eine Äußerung der Presse zurück.

Früher schon hatte ich die Gepflogenheit, wenn ich ein Buch las, das Gelesene mit den Eindrücken des wirklichen Lebens zu vergleichen und über die Frage nachzudenken: wie es denn komme, daß im Buch meist alles »anders« aussehe, als im Leben. Bei meinem Bruder sah gleichfalls alles anders aus. Sobald meine anfängliche Ehrfurcht vor dem gedruckten Worte gewichen war, empfand ich diesen Zwiespalt wieder als einen Mangel und ich begann für alle möglichen Dinge nach Ausdrücken zu suchen, die der Wirklichkeit möglichst nahe kämen. Alles, was mir auffiel, bemühte ich mich in Worte zu kleiden, die den Kern der Erscheinung träfen. In unserer Hauptstraße stand eine kleine Baracke, deren Grundbalken angefault und verschoben, die Wände vor Alter unter Mannshöhe hinabgerückt waren. Ging ich an ihr vorüber, dann sagte ich mir: sie sieht verstimmt, zusammengekauert, verkniffen, gekränkt, traurig aus . . . Und wenn aus diesem hinfälligen Gebäude der Gerichtsbeamte Krassuski in angeheitertem Zustand herauswankte, so suchte ich nach passenden Ausdrücken für den Beamten.

Das wurde bei mir zur Gewohnheit. Als ich aber nach Turgenjew und anderen russischen Schriftstellern zum erstenmal Dickens und die Saltykowsche »Geschichte einer Stadt« kennen gelernt hatte, fand ich, daß es Aufgabe der satirischen Literatur sei, sowohl die sinnenfällige Oberfläche der Lebenserscheinungen wie ihr inneres Wesen zu packen. Ich fing nun an, mir die Beamten, die Professoren, Stepan Jakowlewitsch, den Didonus bald als Dickenssche, bald als Saltykowsche Helden zu denken.

Es kam dabei nichts Rechtes heraus. Doch merkwürdig genug! Manchmal, wenn ich keine absichtlichen Anstrengungen machte, tauchten in meinem Hirn Gedichte und Reime, schön fließende Satzfolgen auf . . . Sie kamen von selbst und verschwanden wieder, ohne sich mit irgendeinem greifbaren Inhalt zu füllen. Die literarische Form entstand in meiner Phantasie gleichsam unabhängig und losgelöst vom Stoffe, ja, sie verflüchtigte sich, sobald ich den Versuch machte, sie festzuhalten und an irgendetwas Greifbares zu fesseln.

Nur in nächtlichen Träumen war es mir manchmal gegeben, meine eigenen Gedichte und Erzählungen zu lesen. Sie lagen bereits gedruckt vor mir da, und darin war alles beisammen, was mir als packender Stoff für die Darstellung vorschwebte: unser Städtchen, der Schlagbaum, die Straße mitsamt den Läden, die Beamten, Professoren und Händler, das abendliche Lustwandeln der Bürgerschaft auf der Promenade. Alles war so lebendig geschildert, und über allem lag noch irgendein Duft, der nicht dem wirklichen Leben entlehnt schien und den alltäglichen Bildern einen eigentümlichen Reiz verlieh . . . Entzückt las ich eine Seite meiner Werke nach der andern. Wachte ich aber auf, dann war alles plötzlich wie eine Schar aufgescheuchter Vögel verflogen, und die paar Fetzen, die es mir allenfalls im Gedächtnis festzuhalten gelang, erwiesen sich jedesmal als ein ganz tolles Zeug: die Verse waren ohne Maß, die Prosa ohne vernünftigen Sinn, und die Worte grinsten mich fratzenhaft an.

Das war wieder ein Tasten im leeren Raume, ein Rufen ohne Widerhall. Den Anstoß zu den literarischen Träumereien hatte ich von Awdjew und zum Teil von der Schriftstellerei meines Bruders erhalten. Awdjew hatte uns aber bald verlassen, und die Korrespondenzen meines Bruders hatte ich auf die Dauer satt bekommen. Jenes Verbot an die Gymnasialschüler, an den Klubunterhaltungen teilzunehmen, blieb, glaube ich, ihr einziges praktisches Ergebnis. Doch nein: einmal war mitten im Zentrum der Stadt, an der Brücke, die Laterne instand gesetzt worden. Mehrmals brannte in ihr an dunklen Abenden, als sichtbarer Triumph der öffentlichen Kritik, ein Lichtstümpfchen. Ein Triumph war es immerhin. Jeder Spießer, der bei nachtschlafender Zeit an dieser Laterne vorbeistapfte, dachte gewiß bei sich: »Aha, der Trubnikowsche Korrespondent hat sie also doch nicht umsonst am Ohr gezaust!« . . .

Bald erlosch jedoch auch dieses einsame Lichtlein . . .


 << zurück weiter >>