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Dieses Jahr verbrachte ich in einer besonderen Stimmung.
Die Sommerferien waren am Ausgang, als die »Fertigen« einer nach dem andern die Stadt verließen, um sich teils nach Kiew, teils nach Petersburg zu begeben. Darunter war auch mein Freund Gluschkoff. In Shitomir hatten wir in einer Klasse gesessen, dann überholte er mich um ein Jahr und der Gedanke, daß auch ich bereits frei sein könnte, trat vor mich mit irritierender Deutlichkeit.
Ich begleitete ihn vor die Stadt. Im Zivilanzug, mit einem Koffer zu Füßen und einer nagelneuen Reisetasche um die Schulter, saß er in der Postkutsche, die ihn in die unbekannte Ferne trug, Auf der Chaussee hinter dem Gefängnis nahmen wir voneinander Abschied, und ich verfolgte noch lange den Staubwirbel, der sich auf der Landstraße dahinwälzte. Mich ergriff eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit . . . Ebenso drauflos fahren können, immer weiter und weiter, der Freiheit, dem neuen Leben entgegen, etwas unbestimmt Großartiges vor sich als Ziel! . . . Und merkwürdig genug: aus dieser in der Ferne winkenden Großartigkeit trat für mich zunächst ein kleines irgendwo ganz oben gelegenes Stübchen heraus . . . Aus dem Fenster ein freier Blick auf Dächer und Himmel. Auf dem Boden steht mein Koffer, an der Wand hängt meine nagelneue Reisetasche, ganz wie Gluschkoff eine hatte. Das bedeutet, daß ich eben erst angekommen bin und mich gleich irgendwohin begeben will. Wohin? Dem neuen Leben entgegen.
Der Staubwirbel verschwand. Ich wandte mich der Stadt zu. Sie lag in ihrem grünen Tal, still, schläfrig und . . . verhaßt. Über ihr schwebte wie immer eine Dunstwolke aus Staub, Rauch und Nebel, hier und da funkelte in der Sonne der bewachsene Teich, und der alte Invalide schlummerte, als ich den Schlagbaum passierte, in seiner üblichen Stellung. Zum Überfluß pflanzte sich plötzlich vor mir auf dem schmalen Holzbrücklein am Teich die Monumentalgestalt Stepan Jakowlewitschs auf, der bereits Direktor geworden war. Er maß mich von seiner Höhe mit den Blicken und sagte streng:
»Haben Sie Lust, den Karzer wieder einmal zu besuchen?«
Ich blickte ihn verwundert an. Was wollte der Mensch von mir? Angst flößte er mir seit langem nicht mehr ein. Ich hatte einsehen gelernt, daß er weder schrecklich noch bösartig, in seiner Art vielleicht sogar gutmütig war. Was fiel ihm bloß wieder ein?
Ein dicker Finger stach in meine Brust. Die zwei mittleren Knöpfe meiner Uniform standen offen.
»Ist das alles?« dachte ich bei mir und zuckte unwillkürlich beim Zuknöpfen die Achseln. Er blickte mir aufmerksam und streng ins Gesicht.
»Woher kommen Sie?«
»Ich habe Gluschkow begleitet.«
»Nun . . . und was ist dabei?« frug er wieder etwas sinnlos, offenbar durch meinen Gesichtsausdruck aus dem Konzept gebracht.
»Nichts, Stepan Jakowlewitsch,« gab ich tonlos zur Antwort.
Der Direktor musterte mich wieder, als suchte er einen Vorwand zum Loswettern, um meine mangelnde Empfindlichkeit für die Autorität aufzurütteln. Es fiel ihm jedoch nichts ein, und er ging schließlich seiner Wege.
Ich blickte mich verzagt um. Gluschkoff ist schon weit fort . . . Er langt an einer Poststation an, trägt sich ins Buch ein als »Student des Polytechnikums«, gibt dem Kutscher ein Trinkgeld, setzt sich wieder hinein, und die Schellen beginnen von neuem ihr rätselhaftes Geklapper . . . Und ich stehe immer noch an dem mit Wasserlinsen überzogenen Teich . . . Die freien Stellen spiegeln schwül und unbeweglich den Himmel wieder und funkeln in der Sonne . . . hier und da regt sich die Wasserlinse: Kaulquappen und Frösche rudern unter ihrer Decke dahin . . . Aus dem Schilf taucht in tödlicher Langeweile ein Schwan hervor . . . Ein altes Weib schlägt mit dem Waschbläuel auf nasse Wäsche . . . Stepan Jakowlewitsch hat mir soeben mit dem Karzer gedroht . . . Und das soll noch ein ganzes Jahr so hingehen? Scheußlich, scheußlich! . . .
Das Jahr schleppte sich für mich endlos und qualvoll hin, und ich begriff vollkommen meinen Bruder, der, nachdem er einmal aus diesem Geleise gesprungen war, weder vermochte noch sich die Mühe gab, wieder hineinzugelangen. Mir winkte schon das Ende, und ich mußte natürlich um jeden Preis sehen, daß ich bis zum Schluß durchhalte . . .
Der Direktor beobachtete mich nach wie vor mit prüfenden verständnislosen Blicken. Einmal hielt er mich beim Verlassen der Kirche an.
»Warum beten Sie nicht?« frug er. »Früher beteten Sie, jetzt stehen Sie da wie ein Ölgötze.«
Ich erhob meine Augen zu ihm, und darin lag wahrscheinlich wieder jener Ausdruck, der ihn verblüffte, was sollte ich nun antworten? Sollte ich auf Befehl, unter obrigkeitlichen Späherblicken beten?
»Ich weiß nicht,« gab ich kurz zur Antwort.
In dem Schülerquartier, das meine Mutter nach Vaters Tode hielt, war ich »Ältester«. In jenem Jahr wohnte bei uns ein gewisser Podgurski, eines reichen Gutsbesitzers Sohn, der sich zum Eintritt in eine höhere Klasse vorbereitete. Einmal trat der Direktor, als er unser Pensionat inspizierte, in Podgurskis Zimmer und fing an mit der Nase zu schnüffeln.
»Er . . . raucht?« frug er mich.
»Ich weiß nicht,« sagte ich.
»Sie sind Ältester?«
»Ja, aber er ist noch nicht Gymnasialschüler.«
»Das ist egal. Sie müssen Bescheid wissen, verstanden?«
»Schön, Stepan Jakowlewitsch, ich will ihn fragen,« erwiderte ich mit unschuldigem Gesicht.
Auf der monumentalen Physiognomie des Direktors flammte der Zorn auf. Er hatte gemeint, daß ich als Quartierältester verpflichtet sei, insgeheim bei der Beaufsichtigung des angehenden Schülers mitzuwirken: ich sollte das Delikt ausspähen, den Tabak ausfindig machen, sodann Anzeige erstatten. In meiner Antwort witterte er Hohn. Ich aber war wohl nicht einmal zum Hohn aufgelegt. Ich hatte einfach gar nicht überlegt, wie er meine Worte auffassen würde, brachte es also bereits fertig, im Angesicht der gestrengen Obrigkeit zerstreut zu sein! Das war eine Art instinktive Mißachtung für die Autoritäten, was man wohl heutzutage als »staatsgefährliche Gesinnung« qualifizieren würde. Dazumal war jedoch das »Prüfen der Herzen und Nieren« noch nicht einmal auf der Mittelschule Mode, der pädagogische Rat wollte, wenn er einschreiten sollte, einen Tatbestand sehen, und meine Stimmung ließ sich eben nicht »fassen«.
Ich denke, daß viele der Gymnasialschüler auch jetzt noch jene besondere Stimmung des »letzten Jahres« in höherem oder geringerem Grade durchmachen. Die Schulbildung bedarf eben eines eigenen Kultes, der die einzelnen Wissenszweige in einer höheren organischen Einheit zusammenfaßt. Unser Schulsystem hingegen hämmert eifrig auf einzelnen Tasten, und Einzeltöne gibt es bis zum Überdruß, eine Gesamtmelodie kommt aber bei alledem nicht zustande. Die dem Zögling durch die strenge Zucht eingeflößte Furcht verflüchtigt sich mit den Jahren und mit der Gewohnheit. Innere Zucht und Achtung für das Schulregime ist den Schülern fremd, zugleich sehen sie schon das Leben hinter der nahen Schranke winken und locken.
Eine ziemlich gefährliche Stimmung dies. In einem Fall ging sie mir ganz unerwartet und wild durch . . .
Es gab irgendeinen Unterricht, bei dem zwei Klassen zusammengelegt zu werden pflegten. Im Klassenzimmer herrschte die beklemmende Stille jener angestrengten halben Aufmerksamkeit, die verzweifelt gegen den unwiderstehlichen Hang zum Einschlafen ankämpft, mit einem Wort: das Ideal der Klassendisziplin. Ich saß stramm aufwärts und dachte wie immer an irgend etwas, was mit dem Unterricht nichts zu tun hatte, als mich mein Nachbar mit dem Ellbogen anstieß und auf die Tür deutete. Durch die Glasscheibe der Tür war das steife Haarschöpfchen Ditjatkiewitschs sichtbar. Man kannte danach leicht die Figur des wißbegierigen Pedells vermuten, wie er am Schlüsselloch auf dem Boden kauerte. In mir regte sich plötzlich irgendein boshaftes Teufelchen. Ich erhob mich von meinem Platz, der für den Didonus hinter der Ecke der Klassentafel unsichtbar war, und bat, austreten zu dürfen. Nachdem ich die Erlaubnis erhalten, schritt ich an der Wand entlang und riß dann die Tür so heftig auf, daß plötzlich beide Flügel aufsprangen. Den entzückten Blicken der Klasse präsentierte sich die Gestalt Ditjatkiewitschs in »Kniebeugestellung« mit steif aufgerichtetem Haarzipfel und erschreckten Glotzaugen. Gelächter erhob sich. Der Lehrer blickte sich erstaunt um und lachte gleichfalls auf. Ich aber schritt, wie wenn nichts passiert wäre, in den Korridor.
Das war die fünfte Unterrichtsstunde, so daß andere Klassen und Lehrer bereits fort waren, und die Korridore fast leer standen, als auch unsere Klasse sich lärmend zum Ausgang drängte. Uns entgegen humpelte eilig auf seinen krummen Beinchen Ditjatkiewitsch. Der arme Kerl hatte dazumal sehr unter Spöttereien zu leiden: sein steifer Haarbüschel, seine stutzerhaften Schlipse und seine stets fehlgehenden Kurmachereien gaben Stoff genug zu Anekdoten, und die Jugend pflegt in solchen Fällen mitleidslos zu sein. Jetzt fühlte sich der Ärmste in einer besonders lächerlichen Lage. Er war rot, seine Äuglein zuckten unruhig und funkelten. Er schob die Schüler auseinander, trat auf mich zu und faßte mich am Mantel.
»Sie bleiben heute ohne Mittagessen.«
»Auf wessen Verfügung hin?« fragte ich ziemlich ruhig.
Ditjatkiewitsch richtete sich stolz in die Höhe:
»Ich lasse Sie aus eigener Machtvollkommenheit nachsitzen,« verkündete er.
»Nach dem Reglement sind Sie dazu nicht befugt,« entgegnete ich. »Sie können sich nur beim Inspektor beschweren, doch . . . worüber wollen Sie sich denn eigentlich beschweren?«
»Das ist meine Sache, worüber ich mich beschweren will. Inzwischen bleiben Sie hier.«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich trat mit Erlaubnis des Lehrers aus und – konnte nicht wissen, daß Ihnen das ungelegen kommen würde.«
Die Schüler lachten. Das brachte den armen Kerl endgültig aus dem Häuschen. Er verlor jede Selbstbeherrschung, beschimpfte mich wie ein Droschkenkutscher und riß an meinem Mantel, um mich mit Gewalt aus der Menge der Kameraden herauszuführen.
In mir kochte es plötzlich auf. Ich stieß schroff seine Hand zurück und nannte ihn einen Spion und einen Idioten. Die Kameraden trennten uns noch rechtzeitig, sonst konnte der Auftritt noch abscheulicher enden. Zum erstenmal im Leben fühlte ich in mir eine Woge des väterlichen Jähzorns aufsteigen, dessen ich mir bis dahin nicht bewußt war. Die kleine Mißgestalt mit den grünen Augen erschien mir plötzlich wie die Personifizierung alles dessen, was mich und meine Kameraden seit Jahren hudelte und büttelte, und das Bewußtsein, dieser Macht einmal Auge in Auge in offener Feindschaft gegenüberzustehen, verschaffte mir einen eigenartigen prickelnden Genuß . . .
Der Vorfall wurde in der Schule gleich zu einem Ereignis. Meiner Mutter sagte ich davon nichts, um ihr keinen Kummer zu bereiten. Ich fühlte aber gleichwohl, daß die Sache ernst werden konnte. Am Abend besuchte mich ein älterer Kollege, mit dem ich sehr intim war. Das war ein prächtiger Bursche, nicht besonders tüchtig in den Schulfächern, aber mit viel gesundem praktischem Sinn begabt. Er setzte sich auf mein Bett und schüttelte traurig den Kopf.
»Ach Karla, Karla (das war mein Spitzname in der Schule), solche Streiche kann einem der Scharfsinn spielen! Ich habe bei einigen Lehrern vorgesprochen, um sie zu verständigen, sie sagen, deine Sache stehe schlimm.«
»Meinetwegen,« erwiderte ich trotzig, obwohl sich mein Herz beim Gedanken an die Mutter schmerzlich preßte. Und doch fühlte ich zugleich: wenn mich Ditjatkiewitsch noch einmal am Mantel fassen würde, so würde ich ihm wieder genau in derselben Weise Bescheid geben.
Die Sache verlief glimpflich. Die Aussagen der Schüler waren mir günstig, besonders aber entlastete mich der Pförtner Ssaweli, der mit der Glocke unter dem Arm den ganzen Auftritt mit philosophischer Ruhe beobachtete. Übrigens sagte er nur wahrheitsgemäß aus: Ditjatkiewitsch hatte mich als erster beschimpft und an meinem Mantel gezerrt. Ich mußte in den Karzer, Ditjatkiewitsch bekam einen Verweis.
Dazumal durfte noch ein Schüler auch mal gegenüber der »Obrigkeit« das bessere Recht auf seiner Seite haben . . .