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Die Prüfungen sind zu Ende. Jetzt winken mir zwei Monate Freiheit und die Fahrt nach Harnyj Lug, Die Mutter mit den Schwestern und dem ältesten Bruder werden einige Tage später im Mietwagen nachfolgen, uns beide jüngere Buben sowie den Vetter Sanja holt aber eine »Trojka« aus Harnyj Lug ab. wir erwarten das Ereignis mit Ungeduld.
Endlich ist die Trojka da. Ihre Ankunft wird schon von weitem, vom städtischen Schlagbaum her, durch einen ungewöhnlichen Lärm auf der Straße angekündigt. Vor dem Wagen läuft ein Haufe spottlustiger jüdischer Bengels einher; sie schreien, schneiden Grimassen und werfen mit Straßenkot um sich. Inmitten dieses lärmenden Haufens tauchen drei kleinwüchsige Pferde auf: eine falbe Stute, ein bejahrter Wallach, der im Hause des Onkels nach seinem früheren Besitzer einfach »der Bankiewitsch« hieß, und als »Dritter im Bunde« ein ganz junges Tier, fast ein Fohlen, das man »für Unglücksfälle« beizuspannen pflegte und das neben den anderen an der Halfter lief. Auf dem Kutschbock sitzt ein junger Knecht mit einer Schafpelzmütze und Bastschuhen. Jüdische Hausknechte von den umliegenden Gasthöfen kommen dahergelaufen und fragen den Bauern spöttisch, ob »seine Wohlgeboren« nicht bei ihnen absteigen möchte. Wenn die Ovationen gar zu lärmend und zudringlich werden, erhebt sich der »Kutscher« und schwingt mit ernstem und sachlichem Gesichtsausdruck die Peitsche, als gelte es, sich lästiger Hunde zu erwehren. Auch die braven Ackerpferde bleiben mitten in dem von den Städtern vollführten eitlen Lärm unerschütterlich ernst: der Bankiewitsch spitzt nur ein Ohr, die Stute bewegt kaum den Schwanz, und nur das junge Fohlen stellt sich quer vor den Wagen, schlägt mit den Hinterbeinen aus und läßt den Schwanz wie eine Fahne wehen.
Der Kutscher Toni war ein Junge von wahrhaft ausgesuchter Häßlichkeit: eine merkwürdige Mißgestalt mit spitzem Schädel, breiten Hüften, etwas krummen Beinen, einer zusammengedrückten Nase und wulstigen Lippen. Man konnte beim Anblick dieser grotesken Figur kaum das Lachen verbeißen. Er pflegte sich übrigens auch gern über sich selbst lustig zu machen, sogar der Ausdruck seines komischen Mundes wirkte nicht einfach häßlich, sondern wie eine gewollte Karikatur auf die Häßlichkeit. Der Grund dieser eigentümlichen Wirkung lag, wenn ich nicht irre, in dem bitteren Hohn, mit dem Toni sein heimatliches Dorf, den Harnyj Lug, mithin aber auch alles, was mit diesem Dorf in Verbindung stand, darunter auch die eigene Person verabscheute. Wenn Vetter Sanja zur Begrüßung dem väterlichen Gefährt entgegenlief und gerührt den Bankiewitsch und die Stute auf die Schnauze küßte, pflegte Toni diese Gefühlsausbrüche mit unverhohlener Verachtung zu betrachten, und ohne jeden Grund dem Bankiewitsch eins mit der Peitsche über den Rücken zu ziehen.
Als er zum erstenmal bei uns ankam, lenkte er die Pferde zum Stall hin und sagte, sowie er Sanjas ansichtig wurde, einfach:
»Da bin ich also.«
»Sieh mal einer an! Und wir haben es gar nicht bemerkt« . . . rief spöttisch der Diener meines Vaters, Paul, ein Jüngling mit etwas dummem Gesicht und einer Hängelippe, aber in Stadtrock und schmutzigem Vorhemd. Die Köchin und das Stubenmädchen kicherten bei diesem Wort verstohlen. Toni jedoch verlor nicht die Fassung. Er schnitt eine unglaubliche Fratze, machte einen Rüssel und schnalzte nach dem Spötter hin so kräftig mit den Lippen, daß die Frauenzimmer, diesmal schon auf Kosten des Dieners Paul, in lautes Gelächter ausbrachen, Am Abend war Toni in der Küche bereits ganz wie zu Hause und hatte unbestrittenen Erfolg.
Es war dies das erstemal, daß er in eine Stadt kam, und er betrachtete ihre Wunder mit ehrfürchtigem Staunen. Für den Fall neuer semitischer Ovationen mit seiner Peitsche ausgerüstet, begaffte er den ganzen Tag die Sehenswürdigkeiten Rownos und stand namentlich lange mit erhobenem Kopf vor dem alten Schloß auf der Insel. Dort fand ich auch seine Mißgestalt am Fuße des gigantischen steinernen Ritters vor dem Schloßtor. Die Blicke des Knechts aus Harnyj Lug wanderten mit naivem Staunen über die Wandmalereien der Ruine und drangen in die gähnenden Fensteröffnungen, durch die man in dem geheimnisvollen Halbdunkel des Innern hie und da vergoldete Gesimse aufblitzen oder ganzgebliebene Figuren von Nymphen und Amoretten auf der Wand im hineinfallenden Lichtstrahl aufleben sah.
»Da sieht man wenigstens, daß es mal Herrschaften gegeben hat,« sagte er, als er meiner ansichtig wurde. Und mit einem eigentümlichen Seufzer fügte er hinzu: »Richtige Herrschaften« . . .
Mir war, als ob in diesem Seufzer zugleich mit der Bewunderung für richtige Herrschaften eine Rüge für irgendwelche andere, »nichtrichtige« Herrschaften mitklang. Am anderen Morgen weckte er uns noch vor Sonnenaufgang, und wir fuhren in der ersten Morgenfrische an dem Schlagbaum mit dem schläfrigen Invaliden vorbei.
Diese Fahrten mit Toni nach Harnyj Lug gestalteten sich für uns Buben jedesmal zu einem wahren Fest. Man kann wirklich nicht behaupten, daß wir es etwa in dem hinfälligen engen Wägelchen bequem gehabt hätten, dafür aber, was gab es alles unterwegs zu sehen! Den ganzen Tag wechselten Wälder, Äcker, Gebüsche, Flüsse vor unseren Blicken ab. Auf der Landstraße zogen Trupps von Wallfahrern, die nach dem Potschajewschen Kloster gingen. Dann humpelte ein alter Jude mit einem Sack über der Schulter vorbei: das war der Austräger einer eigentümlichen, nachmals verbotenen, jüdischen Post. Dann schleppte sich auf kreischenden Rädern eine schwere jüdische Balagula mit himmelhohem Leinwanddach auf Reifen, von oben bis unten vollgestopft mit Köpfen, Armen, Beinen, Federbetten und Kissen. Auf dem Kutschbock saß ein nervöser zappeliger Jude, der fortwährend die Peitsche schwang, an den Zügeln zerrte, den Kopf, beide Ellbogen und Kniee in Bewegung setzte und seine Pferde mit verzweifeltem Geschrei aufzumuntern suchte, was jedoch auf die Tiere nicht den geringsten Eindruck zu machen schien.
Um die Mittagszeit hielten wir gewöhnlich, nachdem der halbe Weg, zirka 30 Werst, gemacht war, in irgendeinem jüdischen Gasthof an, um den Pferden etwas Rast und Futter zu gönnen. Dann nahmen wir von der Landstraße Abschied und bogen in einen Feldweg ein. Toni pflegte uns alsdann großmütig die Zügel zu überlassen, während er selbst sich seitwärts setzte, seinen Knaster in einem Pfeifchen aus Weichselholz schmauchte und in Pausen zwischen den Zähnen durch in sicherem Bogen ausspuckte.
»Zieh dem Bankiewitsch eins über, zieh ihm eins über!« kommandierte er und ergriff von Zeit zu Zeit die Peitsche selbst. Ein sausender Hieb klatschte auf den Rücken des unglücklichen Wallachs, die Trojka schüttelte ihre knochigen Rücken, und das Wägelchen rollte eine Zeitlang rascher.
Zuweilen tauchte in einer Staubwolke eine herrschaftliche Kalesche auf. Toni maß sie mit aufmerksamen kritischen Blicken, zog aber zumeist die Lippen mit verächtlichem Lächeln schief: wahrscheinlich fand er das Geschirr und Gespann »nicht richtig«. Nun aber sprangen aus dem Walde wie Bestien ein paar Schimmel im Krakauer Kummet auf den Weg; auf dem Bock saß ein achtunggebietender Kutscher in einer Mütze mit Pfauenfeder, im langen Faltenrock mit einem Gurt um die Taille. Im Wagen saß im leinenen Staubmantel ein Herr, der uns im Vorbeifahren flüchtig mit einem müden Blick musterte. Toni bog vor diesem Gefährt eiligst auf die Seite und begleitete die Erscheinung noch lange mit entzückten Blicken.
»Der Pan von Salisy,« sagte er mit Ehrfurcht. »Das sind Tiere . . . und ein Kutscher . . . Oho! . . .«
Und der arme Bankiewitsch bekam wieder eins übergezogen, dafür, daß er kein richtiger herrschaftlicher Rappe, Toni kein richtiger Kutscher und wir keine richtigen »jungen Herrschaften« waren.
In unseren gegenseitigen Beziehungen tauchte überhaupt hie und da ein Schatten auf: wir Buben fühlten, daß Toni uns im Grunde genommen verachtete, – freilich mitsamt seiner eigenen Person.
Die Sonne neigte sich bereits dem Untergange zu, unsere »Trojka« klopfte aber immer noch, müde, von Schweiß und Fliegen bedeckt, den staubigen Feldweg. Es schien, als rückten wir nicht vom Fleck. Die unbeschlagenen Pferdehufe platschten weich auf der Erde. Es dunkelte allmählich. Irgendwo vom fernen Sumpf her kam der dumpfe Schrei der Rohrdommel. Im Roggenfeld am Wege schlug schläfrig die Wachtel, Fledermäuse kreisten über unseren Köpfen, tauchten lautlos auf und verschwanden wieder in der Dämmerung. Ein sanfter Friede und etwas wie Schwermut senkte sich auf die Erde, wir näherten uns endlich dem Ziel. An verschiedenen wohlbekannten Anzeichen bemerkten wir die Nähe von Harnyj Lug, und zusammen mit der Freude pflegte sich dabei jedesmal ein wirrer Knäuel unklarer Empfindungen ins Herz zu schleichen. Der Kopf wurde mir schwer vor Hitze und der unbequemen Lage im Wägelchen. Ich lechzte danach, endlich in einer hellen Stube zu sitzen, mich auszuruhen und eine Tasse Tee zu trinken. Neben diesen lockenden Bildern schimmerte aber vor mir noch irgendein beunruhigendes, peinliches Gespenst, das gleichsam mit uns zusammen ins Dorf einziehen und die ganze Zeit über dort bleiben sollte . . .
Lange fuhren wir schweigend. Das Wägelchen taucht nun in den Wald. Toni ergreift, ohne ein Wort zu sagen, die Zügel und setzt sich wieder auf den Bock. Die Trojka trappelt munterer, klopft kräftig mit den Hufen auf den harten Weg, zuweilen schlägt ein Rad mit hellem Klang an eine Baumwurzel an, und die Äste krachen vernehmlich in dem Walddunkel.
»Seht, hier sind einmal dem Toni im Winter zwei Wölfe nachgelaufen,« sagt Sanja sinnend. »Nicht wahr, Toni?« setzt er hinzu.
Toni gibt keine Antwort. Sein Gesicht ist in der Dunkelheit nicht zu sehen, doch wir fühlen, daß es jetzt feindselig und finster, und daß die Ursache davon – die Nähe von Harnyj Lug ist. Der Wald lichtet sich. Der sandige Weg führt zu einem kleinen Brücklein, unter dem ein unsichtbares Flüßchen gluckst, hier ist der historische Ort, wo einst die denkwürdigen Überfälle auf den Juden Jankel mit dem Schnapsfaß veranstaltet wurden. Das Wägelchen rollt vollends aus dem Walde heraus. Vor uns öffnet sich eine breite Talmulde, über der sich ein enormes sternbesätes Firmament wölbt. Am Horizont schimmert undeutlich eine Gruppe Pappeln und die Silhouette des »Magazins«. Ringsumher blinken zerstreute Lichtlein.
Wie schön ist es . . . Und wie traurig . . . Mir steigt in der Erinnerung meine Kindheit auf und das Kolanowskische Dorf. Wie eine rosige Wolke am leuchtenden Morgenhimmel schwebt jenes Bild in meiner Seele. Das war auch ein Dorf, doch wie anders als dieses! Andere Menschen waren es, andere Hütten, anders, scheint mir, haben selbst die Lichter in den Fenstern geblinkt. Dort war alles so gütig und freundlich. Und hier! . . .
Das Wägelchen bleibt stehen und rollt sogar etwas zurück, vor uns schimmern in der Dunkelheit die Stangen des kreischenden Drehrads am Eingang des Dorfes. Irgend jemand schiebt es auf die Seite, um uns freie Durchfahrt zu lassen. Links auf einem Hügel leuchtet die offene Tür der Schenke; im Innern sieht man den Verschlag und die magere Gestalt des Schenkjuden.
Draußen vor der Tür lehnt undeutlich an der Mauer eine Gruppe Bauern.
»Bist du's, Toni?« ertönt eine Stimme von dorther.
»Wer denn? Freilich bin ich's.«
»Bist früh losgefahren?«
»Vor Sonnenaufgang.«
»Soso . . . und kommst bei Nacht daher.«
»Sind eben famose Tiere,« gibt Toni höhnisch zur Antwort, und ein sausender Peitschenhieb klatscht in der weichen Abendstille auf die Pferde nieder.
»Gibt's was Neues?«
»Nee . . . Dem Pan von Salisy sind wir unterwegs begegnet. Ein neues Paar hat er angeschafft, – Bestien wie Feuer! Und der Kutscher hat einen neuen Kittel an.«
»Ja, ein Pan . . . Ein richtiger Pan . . .«
Es folgt ein kurzes Schweigen. Die Pfeifchen glimmen im Dunkel auf, wie rote Funken. Einer von den Bauern tritt an unser Wägelchen heran, blickt hinein und begrüßt uns freundlich. Von der Schenke her ertönen aber wieder ungenierte Bemerkungen:
»Nun, hast du sie hergeschafft?«
»Freilich hab' ich sie hergeschafft,« gibt Toni zurück.
»Alle wohlgezählt?«
»Wer weiß: vielleicht hab ich auch etliche unterwegs fallen lassen. Seht nach, gute Leute, findet ihr sie, so dürft ihr's behalten.«
»Wir haben an den hiesigen übergenug, die sind ganz und gar des Teufels geworden.«
In der Stimme hört man einen finsteren Haß . . .
»Holla! Los!«
Toni knallt mit der Peitsche und wirft sich in die Pose eines »richtigen« herrschaftlichen Kutschers, der sich anschickt, elegant vor der Freitreppe vorzufahren. Er tut, als könnte er kaum die wilde Trojka bändigen, und lehnt sich sogar hintenüber. An der Schenke entsteht Gelächter. Die Trojka geht los und biegt in ein Seitengäßchen ein, von bellenden Hunden verfolgt. Unter diesem Gebell, unter Peitschenknallen und Faxenmachen Tonis fahren wir vor der bescheidenen Residenz Onkel Hauptmanns vor. Und zugleich mit der Freude über unsere Ankunft, mit der Erwartung der langersehnten Freiheit beschleicht uns Buben das niederdrückende Bewußtsein, daß wir für diese zwei Monate »die Herrchen von Harnyj Lug« geworden sind . . .
Wie der Schatten einer unsichtbaren Wolke breitet sich über uns das allgemeine Verhältnis dieser armen Hütten zu ihren »Herrschaften«, d. h. die instinktive Feindseligkeit zu den »Wohlgeborenen« überhaupt, untermischt mit der Verachtung für die »nicht richtigen« Herrschaften insbesondere.
Ich bin überzeugt, daß viele meiner Zeitgenossen, die wie ich in jener Übergangszeit aufgewachsen sind, als die Leibeigenschaft liquidiert wurde, in dieser oder jener Form, in größerem oder geringerem Grade dieselben zwiespältigen Eindrücke vom Leben auf dem Lande in der Erinnerung haben.
Einer von den Arbeitern des Onkels, ein junger Knecht, Iwan mit Namen, hat einmal in der Küche auf seine Art, ohne sich durch unser Beisein stören zu lassen, die soziale Geschichte von Harnyj Lug zu erklären gesucht.
Einst in alten Zeiten – erzählte er – flog der Erzfeind mit einem Korb voller Samen der »Wohlgeborenen« über die Erde und säete sie allenthalben aus. Just als er über Harnyj Lug geflogen kam, vergriff sich der dumme Teufel und schmiß aus Versehen eine ganze Hand voll auf einmal herunter. Daher waren hier die Herrschaften so dicht ins Kraut geschossen, wie das Steppengras dort zu wuchern pflegt, wo zufällig die Kuh einen Fladen hingeplatscht hat. Und daher blieb für das richtige Gras, d. h. für die Bauernschaft hierzulande gar kein Raum mehr übrig. Die anderen Knechte lachten, und wir Kinder hörten zu . . .
Iwan war ein junger Knecht mit tief gebräuntem Gesicht und Augen wie zwei glühende Kohlen. Aus diesen Augen schaute zuweilen eine solche Feindseligkeit, daß einem angst und bange wurde, wir Kinder konnten damals den Grund des feindseligen Blickes nicht begreifen und meinten, Iwan sei einfach ein widerwärtiger Mensch und böser Charakter. In der düsteren Glut seiner Augen lag jedoch ein Etwas, was man nicht so leicht vergessen konnte, etwas wie gegenstandsloser, elementarer Haß. Er sah aus, als könnte er sich plötzlich, ohne jeden Grund, auf irgend jemanden stürzen und ihn mit der Axt niederschlagen oder mit der Heugabel niederstechen. Einmal, als wir Buben zusammen mit den Knechten Garben vom Feld fuhren, gingen bei Iwan die Pferde mit leerem Wagen durch, kamen bloß mit der Halfter auf den Hof gestürzt und drückten sich in unbeschreiblichem Schreck in den engen Winkel zwischen dem Zaun und dem Stall. Iwan kam hinter ihnen gelaufen, packte einen Knüttel und fing an auf die erschreckten Tiere besinnungslos, blindlings, geradezu toll loszudreschen. Kaum konnten mehrere Leute den Rasenden überwältigen, die Pferde aber zitterten noch bis zum Abend am ganzen Körper. Den ihn beschwichtigenden Arbeitern gegenüber zeigte Iwan gar keine Feindseligkeit, er wollte bloß immer wieder auf das »verdammte herrschaftliche Vieh« losgehen.
Der Hauptmann pflegte Iwan gewöhnlich, wenn sich dieser etwas hatte zuschulden kommen lassen, so laut auszuschelten, daß man es im ganzen Dorfe hören konnte. Diesmal sagte er jedoch kein Wort. Er ließ Iwan nur am andern Morgen zu sich hereinrufen, und als der Knecht eintrat, wie immer finster aber ruhig, klapperte mein Onkel einige Minuten lang auf der Rechenmaschine und hielt ihm dann wortlos sein verdientes Geld hin. Iwan nahm es, ohne der Rechnung irgendwelche Beachtung zu schenken, und verließ schweigend das Zimmer. Die beiden hatten einander offenbar verstanden. Nach diesem Vorfall ward uns von unseren Müttern eine Zeitlang untersagt, uns bei den Schnittern zu schaffen zu machen. Als Vorwand diente die Wildheit der Hauptmannschen Pferde, wir fühlten jedoch, daß noch anderes dahinter steckte . . .
Es gab noch eine Charaktergestalt im Hofe des Onkels, das war der Knecht Karl, oder wie man ihn auf polnische Art nannte: Karol. Er war kein gewöhnlicher Bauer, ja, sein Äußeres war ganz und gar nicht bäurisch. Auch sein Taufname war nicht russisch (ich glaube, er stammte von Unierten her). Er hatte ein feines, etwas spitzes und hageres Gesicht, ein Netz kleiner Fältchen um die Augen hob besonders deren Ausdruck hervor, der bald still sinnend, bald stechend und verbittert sein konnte. Karol war zu jeder Verrichtung geschickt: er war Schlosser, Tischler, Zimmermann, nötigenfalls sogar Mechaniker. Da der Hauptmann nun gleichfalls ein Stück Autodidakt und Erfindergenie war, so fanden sich die beiden durch eine Art Sympathie verwandter Naturen zueinander hingezogen. Sie hatten gemeinsam eine Wassermühle erbaut, die am unteren Ende des Teiches mit ihren Rädern klapperte, und als sich herausstellte, daß das Wasser im Teich für größere Ausmahlungen nicht hinreichte, errichteten sie mit vereinten Kräften ein Treibwerk, das, von Pferden in Bewegung gesetzt, die nötige Menge Wasser herleitete.
Oft konnte man die beiden zusammen sehen: Karol saß gewöhnlich auf einem Baumstumpf oder auf dem Mühlentreibwerk, hielt sein ewiges Pfeifchen zwischen den Zähnen und eine kleine Axt in der Hand. Er pflegte mit der Axt leicht vor sich hin zu klopfen, an dem Pfeifchen zu saugen und von Zeit zu Zeit auszuspucken; schweigend hörte er aufmerksam zu. Der Hauptmann indes trug stehend mit seiner üblichen Begeisterung und lebhaften Gebärden irgendeinen neuen Plan vor. Als Phantast und Erfindergenie liebte er es, seine Einfälle höchst überschwenglich auszumalen. Karol seinerseits pflegte sich deren wesentlichen Kern anzueignen und praktisch auszuführen, wobei er selbständig die Rechenfehler der Hauptmannschen Konstruktionen korrigierte. In solchen Augenblicken hätte man die Zwei für unzertrennliche Freunde halten können. Manchmal aber pflegte der Hauptmann in Abwesenheit Karols bitter zu bemerken:
»Ach was, ein Bauer bleibt eben ein Bauer! Füttere den Wolf so viel du willst, er entkommt doch in den Wald . . .«
Karol pflegte sich außerdem von Zeit zu Zeit dem Trunk zu ergeben, und dann suchten sie einander aus dem Wege zu gehen.
Bei unserem zweiten oder dritten Ferienbesuch in Harnyj Lug erfuhren wir zufällig, daß der Hauptmann einst vor Jahren, kurz vor der Bauernbefreiung, denselben Karol bei Frostwetter unter dem Brunnen einmal mit Wasser hatte begießen lassen. Mein Onkel war ein gutmütiger Mensch. Doch die Zeiten waren damals unruhig, voll der grellen Dissonanzen einer Übergangsperiode. Es war, als ob im fahlen Lichte eines aufdämmernden Tages die nächtlichen Gespenster in der Vorahnung des nahenden Hahnenschreis sich noch einmal verzweifelt aufrafften und ihren Spuk trieben. Dunkle Gerüchte von der Reform schwirrten in der Luft und drangen in die Bauernmasse in noch verworrener phantastischer Gestalt . . .
In der Gegend von Harnyj Lug tauchte damals ein Räuberhauptmann auf, der sich den neuen Karmeluk nannte. Das war ein Bauer aus einem Nachbardorfe, der sich zusammen mit einem heruntergekommenen Schlachziz aus dem Städtchen Korez in den Wäldern herumtrieb und nur die adeligen Höfe heimsuchte. Nach einiger Zeit fand man den Schlachziz ersäuft im Brunnen, den Räuberhauptmann aber zeigte ein Bauer den Behörden an. Auf den Vielgesuchten wurde dann eine regelrechte Treibjagd veranstaltet, an der sich auch die adeligen Besitzer der Gegend, darunter mein Onkel, beteiligten, worauf der Eingefangene nach Sibirien verschickt wurde. Einige Jahre hatte man nichts mehr von ihm gehört, als er plötzlich wieder auftauchte. Der nämliche Bauer, der ihn seinerzeit den Behörden angegeben hatte, mähte einmal in einer Waldlichtung Gras, als der Räuberhauptmann plötzlich vor ihm stand. Der Bauer erschrak tödlich und hielt sich bereits für verloren, doch jener befahl ihm nur, sich auf einen Baumstumpf zu setzen, und . . . rasierte ihm Kopfhaar und Bart glatt weg. Den also Gekennzeichneten entließ er mit dem Bescheid an die adeligen Herrschaften: Der neue Karmeluk melde ergebenst seinen Besuch an . . .
Einmal, um Weihnachten herum, stieß Karol, der mit noch einem Knecht vom Gottesdienst durch den Wald nach Hause ging, auf ein kleines Lager: am Feuer saßen zwei bewaffnete Männer. Sie stellten den erschrockenen Arbeitern nur die Frage, bei wem sie im Dienst standen, bewirteten sie mit Schnaps und eröffneten ihnen, mit der Herrschaft des Adels werde es demnächst ein Ende nehmen . . . Nach Hause gekommen, ließen weder Karol noch sein Begleiter dem Hauptmann gegenüber von der Begegnung im Walde ein Wort verlauten. Von dem Vorgefallenen erfuhr er erst durch Dritte. Mein Onkel war ein beherzter Mann, und die Drohung des Räuberhauptmanns hatte ihm keinen Eindruck gemacht. Daß ihm aber Karol die Sache verschwiegen hatte, das trug er ihm als Verrat schwer nach. Im allgemeinen behandelte der Hauptmann seine Bauern besser, als das sonst bei den Besitzern üblich war, und die Bauernschaft nahm ihn gewissermaßen aus der Menge der verhaßten und verachteten Schlachta heraus. Jetzt schloß sich der Hauptmann nur noch enger den übrigen Besitzerkreisen an und söhnte sich sogar mit seinem Todfeind, dem Brandstifter Bankiewitsch, aus.
Es geschah um jene Zeit, daß sich Karol sehr zur Unzeit wieder einmal seinem periodischen Trunk ergab, und der Zustand dauerte besonders lange. Der Hauptmann geriet schließlich in hellen Zorn und beschloß, diesmal besondere Mittel zu ergreifen. In seinem Hof stand ein Ziehbrunnen mit einer Wasserrinne, die zum Bewässern des Gemüsegartens diente. Er befahl, Karol auszukleiden, ihn nackt unter die Rinne auf den Schnee zu legen und einen kalten Strom auf ihn herabzulassen. Der Befehl wurde ausgeführt, trotz den flehentlichen Bitten und Tränen der Tante. Die gehorsamen Sklaven mißhandelten auf Geheiß des Herrn den widerspenstigen Sklaven . . .
An diese Geschichte durfte nachmals kein Mensch den Hauptmann zu erinnern wagen, und als ich, nachdem man mir von der Sache erzählt hatte, meine Kusine fragte, ob das mit dem Begießen Karols wahr wäre, erbleichte sie und sagte mit weit geöffneten Augen und versagender Stimme:
»Es ist wahr, aber . . . um Gotteswillen nicht so laut!«
Diese Geschichte blieb in meinem Gedächtnis wie ein schriller Mißton haften. Manchmal, wenn ich den Hauptmann vor Karol irgendeinen seiner Pläne entwickeln, jenen aber ruhig und aufmerksam zuhören sah, fragte ich mich: ob sich wohl Karol jenes Erlebnisses erinnere, oder ob er es vergessen habe? Und wenn er sich dessen erinnere, ob er dem Hauptmann nachtrage oder sich selbst für den schuldigen Teil halte? Oder ob er überhaupt niemandem die Schuld gebe, sondern einfach in seinem Herzen unbestimmte Bitterkeit und Haß nähre? Nichts konnte man aus diesem hageren, faltenreichen Gesicht herauslesen, noch aus diesen stechenden Augen, in deren Tiefe ein winziges Fünklein glomm, oder aus den schmalen Lippen, die fest aufeinander gepreßt waren, als ob sie ständig Essig und Galle schmeckten . . .
Übrigens fand ich mich auch selbst in all den verworrenen Verhältnissen damals nicht allzu sehr zurecht, und ich war weit davon entfernt, mir aus jenen Eindrücken irgendwelche verallgemeinernde Urteile zu bilden. Ich wußte: Onkel Hauptmann war ein gutmütiger Mensch. Tatsache war aber, daß dieser gutmütige Mensch einen anderen Menschen bei Frostwetter hatte mit Wasser begießen lassen. Nun schien aber derselbe Karol jetzt mit ihm befreundet zu sein. Andererseits wieder hieß es: »ein Bauer bleibt halt ein Bauer . . .« Aus alledem mischte sich jedenfalls in meine ländlichen Eindrücke eine peinliche Note.
Es war manchmal so schön, spät abends mit einem Haufen Dorfbuben auf ungesattelten Pferden in die sommerliche Dunkelheit loszureiten. Schön und bange zugleich war es, im Freien unter Obstbäumen zu übernachten und dem Raunen und Flüstern der Nacht zu lauschen. Hie und da löst sich mitten in dem leisen nächtlichen Rauschen ein schwerer Apfel vom Ast und fällt mit lautem Aufklatschen auf die Erde. In der Ferne krähen die Hähne. Ein Hund kläfft irgendwo im Dorfe. Ein aufgescheuchter oder unruhiger Vogel wechselt eilig mit Gekreisch von einem Baum auf den andern . . . Plötzlich lassen sich in der Stille neue Geräusche vernehmen. Ein trockener Ast kracht, es raschelt in den Sträuchern. Ein Baum erzittert merkwürdig nachhaltig und Äpfel fallen hageldicht zur Erde . . . Das sind Jene vom Dorf . . . Sie haben sich in den Obstgarten geschlichen, ihnen jetzt zu nahen ist gefährlich. Wir fangen an, alle drei auf die Baumstämme zu trommeln und laut in die Dunkelheit hinein zu schreien. Hunde kommen vom Hof dahergelaufen. In den Sträuchern verschwinden langsam undeutliche Schatten . . .
Nach diesem Vorfall wollen uns unsere Mütter wieder eine Zeitlang nicht im Freien übernachten lassen. Weiß Gott, was Jene im Schilde führen . . . Und doch sind es dieselben Bauern, die bei Tage mit verschiedenen Anliegen ins Haus kommen, so demütig und tief sich verneigen, die Hände der Herrschaft küssen. Und die, welche man auf eigenem Feld arbeiten sieht, scheinen so ernst und tüchtig, nur verschlossen und unzugänglich . . .
Das Anwesen Onkel Hauptmanns war von undurchdringlichen Fliedersträuchern umgeben, und unser Leben schränkte sich immer mehr auf diesen kleinen Bereich ein. Zwischen uns und dem Dorfe wuchs allmählich eine Mauer auf, und wir Kinder waren schließlich von dem für uns passendsten Milieu: von der Dorfjugend, gänzlich isoliert.
Freilich, der Hauptmann lebte jetzt in guter Eintracht mit seinen Nachbarn, und die »Wohlgeborenen« von Harnyj Lug besuchten oft sein gastfreies Haus. Pan Lochmanowitsch, immer noch eine majestätische Erscheinung, nur daß er jetzt statt der Edelmannstracht, der polnischen »Tschamara«, einen einfachen Bauernkittel aus Kamelhaar trug, ließ keine Feierlichkeit vorbeigehen, ohne seine Aufwartung zu machen. Er kam, räusperte sich umständlich im Vorzimmer, begrüßte mit Würde den Onkel, küßte den Damen die Händchen und wartete auf den »Tisch«. Von allen seinen höheren Strebungen hatte er sich besonders die Ansprüche eines Feinschmeckers bewahrt und behauptete, die feinsten Unterschiede zwischen den Weinsorten herausfinden zu können. Diese kleine Schwäche war für uns ein Anlaß, unglaubliche Mischungen eigens für ihn zu bereiten und mit vieler Feierlichkeit aufzutragen. Der arme Schlachziz hielt das Gepansche gegen das Licht, schmatzte mit der Zunge, trank und lobte. Nur einmal, als wir es schon gar zu toll getrieben und ihm ein Gebräu aus Wein, Bier und Hefen vorgesetzt hatten, trank er zwar die ganze Flasche aus, antwortete aber, nach der Qualität befragt:
»Na, ich will Ihnen offen sagen: ein gewöhnlicher Tischwein, nicht mehr.«
Bei besonders feierlichen Anlässen erschien im Hause des Onkels auch der »notorische Ränkeschmied« und verwaiste Edelmann Bankiewitsch. Er war mit der Zeit über die Maßen dick und bereits stark hinfällig geworden. Bei Tisch aß er unglaublich viel, pflegte es sich dann in seinem Sessel recht bequem zu machen und, beide Arme mit den fleischigen roten Händen auf dem Bäuchlein gekreuzt, der tanzenden Jugend mit gerührten Äuglein zuzuschauen, bis er einnickte. Es war bekannt, daß dem würdigen alten Herrn in solchen Augenblicken mitunter kleine Unschicklichkeiten zu passieren pflegten, bei denen die Kavaliere kicherten und die Fräulein erröteten, bis der sorglose Schlachziz aus seinem Schlummer erwachte, und die verstummte Gesellschaft mit hellen Blicken musternd, harmlos fragte:
»Ha? Was gibt's?«
Zuweilen kamen auch entferntere Nachbarn mit Familien zu Besuch, was jedoch nur selten und flüchtig geschah. Sie kamen, man begrüßte sich laut und herzlich, unterhielt sich über das Wetter, die Jugend musizierte ein wenig, manchmal wurde getanzt. Dann wurde das Abendbrot aufgetragen, und man nahm schließlich Abschied voneinander, um sich monatelang nicht wiederzusehen. Gemeinsame Interessen gab es im Grunde genommen keine, und wir blieben wieder im Bereich des Hauptmannschen Anwesens wie in einem verzauberten Kreise eingeschlossen.
Still und träge flossen da die Tage dahin . . . Ein strahlender Tag im Hochsommer. Das blendende Sonnenlicht ergießt sich über die Blumenrabatten, über das dunkle Laub des Flieders und die Alleen des Gartens. Irgendwo klappert unermüdlich der Storch. Aus dem Wohnzimmer schweben zum offenen Fenster heraus Klavierklänge: unsere Kusine spielt ihr ewiges kleines Repertoire herunter: das Lied ohne Worte, La prière d'une jeune vierge, die Polonaise Oginskis und die Mazurkas polnischer und ukrainischer Komponisten. Sie spielt nicht schlecht. Gegenstandslose Leidenschaft, vage Phantome der Vergangenheit, träumerisches Schmachten lösen sich von den Tasten des Instruments, fließen aus dem Zimmer, schweben über den Blumenbeeten, zittern, schwanken und verwehen in der trägen Luft des sonndurchglühten Gartens.
Ich lausche diesen Tönen mit einer seltsamen Mischung von banger Qual und Wonne. Sie wecken in meiner Brust Empfindungen, die nach Ausdruck suchen, die irgendwohin aus dem Kreise dieser Blumen und Fliedersträucher in eine unbekannte Ferne locken, Empfindungen, die hinausstreben und doch keinen Ausweg finden und in dem beklemmend engen Kreise gebannt bleiben. Ich suche dunkle, schattige Winkel des Gartens auf, setze mich dort nieder und lasse meiner Einbildung die Zügel schießen. In dem melodischen, durch die Entfernung gedämpften und weichen Gewirr der Klavierklänge höre ich den Klang der Pokale, das Klirren der Säbel, Kampfrufe . . . Romantische Gespenster aus meiner Kindheit stehen wieder vor mir auf, umwittern meine Seele, wiegen sie ein und entführen sie in unbekannte Fernen, in längst vergessene Zeiten . . . Ritter, Fahnen, Staubwolken über der weiten Steppe . . . Ein Reiten und Rennen und Treffen . . . Mit wem? Um was? In welcher Idee Namen? Weder das klingende Tönegewirr, noch meine von der Sonnenglut erhitzte Phantasie weiß eine Antwort zu geben . . . Dort drüben aber, jenseits des Anwesens, geht weiter das harte, arbeitsreiche Leben einer fremden kleinen Welt seinen Gang. Von dorther weht mir Kälte, Feindseligkeit, Verachtung entgegen . . . Und nichts verbindet die Welt meiner Einbildung und meines träumerischen Seelenschwungs mit jener strengen und harten Wirklichkeit der mühsamen Arbeit und des geduldigen Leidens.
* * *
Es war, glaube ich, im dritten Jahr, als wir zu Weihnachten nach Harnyj Lug kamen und erfuhren, daß Toni gestorben sei. Auf mich hatte diese Nachricht einen solchen Eindruck gemacht, als ob sich alle unbestimmten Schatten, die uns von drüben, aus dem Bauerndorf, bedrohten, plötzlich zu einer dunklen Wolke verdichtet hätten, aus der ein Donner einschlug.
Das Schicksal des míßgestalteten Knechts war kein gewöhnliches.
»Toni ist vielleicht gar kein gewöhnlicher Bauer,« hatte einmal Vetter Sanja in seiner schwermütigen, sinnenden Weise gesagt.
Die Herkunft Tonis war für uns Kinder in einen geheimnisvollen Schleier gehüllt. Nachmals erfuhr ich, daß jenes Geheimnis nicht allzu verwickelt war. Auf dem Gute meines Onkels hatte eine Zeitlang ein junger Landmesser gelebt, zur gleichen Zeit war ein Kammerfräulein aus einer heruntergekommenen adeligen Familie da. Beide waren arm, doch das war nur ein Hindernis für ihre Verehelichung, nicht aber für die Liebe. In der Umgegend stand an einer Gruppe hoher Schwarzpappeln die Hütte der alten Witwe Gapka, und hier kam Toni eines schönen Tages zur Welt. Darauf zog der Landmesser in die Fremde hinaus, um sein Glück zu suchen. Das Kammerfräulein aber ging indes irgendwo in Stellung . . . Toni blieb zunächst bei der alten Gapka, dann nahm ihn der Hauptmann, bis die Eltern des Kleinen sich melden würden, zu sich ins Haus. »Das Glück« blieb jedoch dem jungen Landmesser abhold, und die Eltern Tonis sollten weder einander noch ihr Kind je mehr zu sehen bekommen . . .
Dies war die kurze Geschichte Tonis und seiner Stellung in Harnyj Lug. Da aber die Erwachsenen vor uns Kindern die Einzelheiten dieser »unpassenden Sache« nicht gern enthüllten, so war in unserer Vorstellung aus einzelnen Zügen eine viel romantischere Legende entstanden. Wir dachten uns, ich weiß nicht, weshalb, daß Tonis Mutter nach Harnyj Lug in einer herrschaftlichen Kutsche gekommen, zufällig vor der Hütte der alten Gapka von Wehen ergriffen, von irgendwelchen geheimnisvollen Herren aus der Kutsche herausgehoben, in die Hütte getragen und nach der Geburt Tonis schleunigst entführt worden wäre, wobei die Herrschaften der alten Gapka für die Aufziehung Tonis Geld nebst vielen Versprechungen zurückgelassen hätten. Dann verschwand die feine Herrschaft irgendwo in der weiten Welt, die alte Gapka aber segnete das Zeitliche, und der Hauptmann nahm die verlassene Waise aus Güte zu sich in die Küche.
Das letztere wird sich auch sicher so zugetragen haben. Als der Hauptmann beschloß, den Waisenknaben in seinem Hause aufwachsen zu lassen, folgte er zweifellos nur der Stimme seines guten Herzens und nicht etwa irgendwelchen selbstischen Berechnungen. Das Weitere ergab sich ganz von selbst, als Lohn der guten Tat, auf die einfachste und natürlichste Weise von der Welt. Der Knabe lief zuerst in allen Zimmern herum, man spielte wohl mit ihm und liebkoste ihn. Mit der Zeit wurde natürlich die Küche sein ständiger Aufenthaltsort, wo er zu essen und gelegentlich auch Püffe bekam. Er sprach »bäurisch« und wuchs als kleiner Bauernjunge auf, ein häßlicher, struweliger, schieläugiger Junge. Und da der natürliche Zustand der Bauern dazumal die Leibeigenschaft war, so fiel es niemandem auf, daß in der Person Tonis dem Hauptmann eigentlich ein Leibeigener aufwuchs.
In dieser Lage fanden wir denn auch Toni, als wir zuerst nach Harnyj Lug kamen. Das erschien uns Kindern damals keinesfalls als Unrecht oder Ungerechtigkeit, und wir nahmen die Tatsache ebenso einfach hin wie alle Erscheinungen des damaligen Lebens, die auf demselben sozialen Boden erwuchsen. Toni war eben für uns so gut ein Knecht von den früheren Leibeigenen wie die anderen auch. Nur daß er für geringeren Lohn arbeitete und der Hauptmann ihn manchmal einen »Bankert« und einen »Undankbaren« schalt. Wenn wir jemand in dieser ganzen Sache Schuld hätten geben müssen, dann etwa nur den geheimnisvollen Eltern. Diese aber waren für uns lediglich romantische Phantome. Sie waren erschienen, dann verschwunden, Toni war geblieben, das war alles. Das Faktum Toni war halt im Leben aufgekommen, wie ein Baum im Walde aufwächst oder verdorrt . . .
Ob Toni selbst die einfache Geschichte seiner Herkunft kannte? Wahrscheinlich kannte er sie, aber ebenso wahrscheinlich kam sie ihm weniger »einfach« als uns anderen vor . . . Mir ist, als entsänne ich mich eines besonderen Ausdrucks in seinem Gesicht, als wir einmal beim Einfahren der Garben vom Felde an der Hütte der alten Gapka vorbeifuhren. Die Hütte stand leer, ihre Fenster waren längst mit Latten vernagelt, die Wände verfallen, das Ganze auf die Seite geneigt. Hoch über dem Dach rauschten die großen Pappeln, die seit jenem Tage, wo in ihrem Schatten ein neues menschliches Wesen zum Leben erwacht war, noch viel mächtiger und dichter geworden waren. Welche Empfindungen mochte ihr Rauschen in Tonis Herzen geweckt haben? . . .
Man muß gestehen, daß die äußere Erscheinung des Knechts durchaus nicht dazu angetan war, die Vorstellung von einer »besseren« Herkunft nahezulegen. Es mag ja sein, daß hier eine Rose gesät war, was aber aufwuchs, war durch eine wunderliche Laune der Natur bloß eine Distel. Nur wenige Züge seines Wesens zeichneten Toni vor dem übrigen Gesinde aus: unter anderem seine leidenschaftliche Vorliebe für Musik.
Meine Basen bekamen von ihren Gouvernanten Klavierunterricht, und eine von ihnen spielte nicht schlecht. Sobald nun im Wohnzimmer die Tasten erklangen und die Töne zum offenen Fenster hinausströmten, pflegte Toni seine Arbeit zu unterbrechen, manchmal sogar sich in die Sträucher vor dem Fenster zu schleichen und gierig zu lauschen. Zuweilen erlaubten ihm die gutmütigen Basen, wenn der Hauptmann nicht zu Hause war, an das Instrument heranzutreten, und spielten ihm wohl seine Lieblingsweisen vor. Außerdem gab es jeden Sonntag in der Schenke zwei Geigen und einen Kontrabaß, die Tanzweisen aufspielten, bei denen Knechte und Mägde auf dem glattgestampften Platz draußen den Kasatschok aufführten. Toni verschlang die Melodien mit den Ohren und die Instrumente mit den Blicken.
Einmal hatte er mit gewöhnlichem Messer ein grobes Ebenbild einer Geige aus Holz gefertigt und fing an, darauf im Stalle Tanzweisen zu kratzen, mitunter äffte er auch die Polonaise Oginskis oder »La prière d'une jeune vierge« nach. Zuerst nahm man das als ein Kuriosum hin, dann aber empfand der Hauptmann diese Stallparodien auf eine edle Kunst als eine Beleidigung. Es mag auch sein, daß er diesen musikalischen Zeitvertreib als müßige Ablenkung von der Arbeit betrachtete, genug, er brauste einmal furchtbar auf und schlug die Geige in Stücke. Toni fertigte darauf eine andere, vollkommenere, an, und seitdem begann zwischen ihm und dem Hauptmann ein eigenartiger Kleinkrieg: Toni versteckte seine Geigen, der Hauptmann fand sie heraus und zerschlug sie. Wir alle, junges Volk, ergriffen für Toni Partei und halfen ihm, immer neue Verstecke zu erfinden. Doch auch dies war bei uns nur Gefühlssache: wir waren bereit, Toni vor dem Zorn des Hauptmanns zu schützen, wie wir ihn vor einem Gewitter beschützt haben würden, ohne darüber nachzudenken, ob das Gewitter recht oder unrecht hatte.
Noch in einem anderen Zug verriet sich die »bessere« Herkunft Tonis: das war seine außerordentliche Ehrfurcht vor »richtigen Herrschaften«. Diese Gesinnung konnte man auch bei den anderen Bauern in Harnyj Lug wahrnehmen, und sie war nur zu verständlich. Sind »Herrschaften« einmal auf der Welt nötig, dann sollen es wenigstens »richtige« sein. Bei solchen bekommt man anständig zu essen, und solchen zu gehorchen, ist allzumal keine Schande. Bei Toni jedoch war diese Gesinnung schon in eine wahre Schwärmerei ausgeartet. Vielleicht dachte er bei sich, irgendwo in der unbekannten Welt sei das Menschenpaar, das ihn ins Leben geworfen und vergessen hatte, auch eine »richtige« Herrschaft geworden. Wie, wenn es sich doch noch plötzlich seiner erinnerte! . . . Und er, Toni, würde selbst eines Tages noch ein »richtiger« Herr werden, sich über die ihn verachtenden und ihm verächtlichen, mit Verlaub zu sagen, »Herrschaften« von Harnyj Lug erheben! . . .
Der Tod setzte all diesen Träumereien und diesem Menschenschicksal jäh ein Ziel. Sinnlos, elementar, wie das Leben gewesen, war auch dessen Schluß.
Ungeachtet seiner auffallenden Mißgestalt war Toni mit zwanzig Jahren ein ausgemachter Don Juan des Dorfes. Seine Häßlichkeit selbst diente ihm als Quelle eigenartigen, derben Humors . . . Zudem sind Frauenherzen zart besaitet und ahnungsvoll. Die Dorfschönen mochten unter der ungeschlachten Schale eine echte Künstlerseele herausgefühlt haben. Wie dem sei, Toni wurde mit seinem allzeit schlagfertigen Witz und seiner selbstgefertigten Fiedel nach und nach der Mittelpunkt abendlicher Zusammenkünfte der holden Weiblichkeit von Harnyj Lug.
Einmal hatte er sich abends mit seiner Geige vom Hofe fortgeschlichen und kehrte erst am andern Morgen kreuzlahm heim. Als man ihn fragte, was ihm denn zugestoßen wäre, antwortete er nur: »Bin nicht wohl.« Kein Wort war mehr aus ihm herauszukriegen. Die Tage waren noch mild, nur in der Frühe gab es schon Rauhreif, und Toni zog mit jenem Instinkt wilder Tiere, die sich zum Sterben ins Dickicht des Waldes verkriechen, aus der Leutekammer fort, um sich auf dem Dachboden einer alten Mühle einzurichten, die am Ende des ganz von Wasserlinsen bedeckten Teiches stand. Selten verlor sich jemand an jene verlassene Mühle, der Winkel war still und öde. Um die Mittagszeit quakten hier die von der Sonne erwärmten Frösche, die den Winter über im Schlamm zu schlafen pflegten. In den alten Schleusen schlickerte eintönig das Wasser. Freunde, die sich hin und wieder nach Toni erkundigen kamen, hörten ihn in seiner Bodenkammer ächzen, traten sie aber zu ihm hinein, dann hielt er an sich und sagte, es ginge ihm besser.
Daß man dem erkrankten Knecht helfen, daß man für ihn einen Arzt hätte holen müssen, war natürlich niemandem in den Sinn gekommen. So lag denn Toni in seiner Höhle und ächzte leise ein paar Tage und Nächte hindurch. Dann bekam einmal der alte Nachtwächter, der nach dem Kranken sehen wollte, keine Antwort mehr. Er meldete dies gleich in unserer Küche, und der Gedanke an Toni flößte allen plötzlich Furcht ein. Man weckte den Hauptmann und begab sich im Haufen zur alten Mühle. Hier lag Toni auf seinem einsamen Strohlager, ächzte aber nicht mehr. Sein bleiches Gesicht war von Rauhreif bedeckt.
Dann kam der Kreisrichter mit dem Kreisphysikus und Toni wurde »ausgeweidet«. Es erwies sich, daß er unmenschlich geschlagen worden und an mehrfachem Rippenbruch gestorben war. Es wurde erzählt, daß einige Knechte aus dem Dorf, die Tonis Erfolge bei den weiblichen Abendunterhaltungen mit scheelen Blicken sahen, ihm irgendwo in jener Nacht an der Hecke aufgelauert und ihn mit derben Knütteln ganz arg zugerichtet hätten. Doch weder Toni selbst, noch sonst jemand im Dorfe hatte über die mutmaßlichen Täter auch nur eine Silbe verlauten lassen.
Da er ohne Beichte gestorben und obendrein »ausgeweidet« worden war, begrub man ihn außerhalb der Friedhofsmauer, und seitdem traute sich kein Mensch in der Dunkelheit an der alten Mühle vorbeizugehen. Jede Nacht hörte man von dem »Magazin« her, das nicht weit von der Mühle entfernt stand, verzweifeltes Rasseln einer Knarre. Der alte Nachtwächter schwor nämlich hoch und heilig, daß Toni in seiner Bodenkammer nach wie vor ächze, und der Greis suchte mit seiner Knarre die unheimlichen Laute zu übertönen. Wahrscheinlich war es der Nachtwind, der aus jenem Winkel den dumpfen glucksenden Ton des rinnenden Wassers in den alten Schleusen daherwehen mochte . . .
Wir Kinder hatten schon bis dahin mehrere Todesfälle erlebt, doch hat kaum einer auf uns einen so erschütternden Eindruck gemacht wie dieser. Im Grunde genommen war auch hier alles schließlich in Ordnung. Onkel Hauptmann prophezeite ja längst, daß die Fiedelei zu nichts Gutem führen werde. Toni hatte sich ja auch heimlicherweise aus dem Hause fortgeschlichen. Wenn hier von Schuld geredet werden konnte, dann waren die nächsten und unmittelbaren Schuldigen natürlich jene nicht festgestellten Knechte, die den Überfall auf Toni ausgeführt hatten, d. h. also, das Dorf. Übrigens hatten diese auch sicher einen Totschlag nicht beabsichtigt. Eine dunkle Nacht, ein zu fester Knüttel, ein unvorsichtiger Hieb . . . und es war geschehen.
Und doch lag in diesem sinnlosen Untergang eines Menschenlebens etwas beängstigend Düsteres, fast Drohendes. In den Winternächten wehte uns seitdem von der alten Mühle her ein unerklärliches Gruseln an, und zugleich zog uns etwas Unbestimmtes unwiderstehlich hin. Die kleine Tür der Bodenkammer hatte sich von einer Angel gelöst, und der Wind fegte vor ihr einen Schneehaufen zusammen. Auf dem Boden war es finster, kalt und öde, und ein düsteres Geheimnis schien dort herumzuspuken . . .
Einmal waren die Erwachsenen während dieser Weihnachtstage irgendwohin gefahren, wir Kinder blieben allein zu Hause. Es war ein schneereicher Winter, auf den Dächern, den Beeten im Garten, den kahlen Fliedersträuchern, in den Alleen lag eine hohe Schneedecke. Zum Abend gab es einen Schneesturm, der die schwarzen Fensterscheiben von oben bis unten mit weißen Flocken beklebte. Wir saßen alle zusammengedrängt am Kamin und unterhielten uns über Toni, über seine halbsagenhafte Herkunft, über seine Geigen. Um unsere Unterhaltung schwebte unausgesprochen, ja vielleicht kaum uns selbst bewußt, das Gefühl irgendeiner Schuld, eines schweren Unrechts . . . Und die finstere Nacht heulte dumpf draußen um das Haus, über dem Garten, dem Anwesen, der Mühle . . .
Plötzlich hörten wir draußen die Hunde anschlagen. Sie hatten sich vor dem bösen Wetter unter das Gartentor geflüchtet, wo es etwas geschützter war, jetzt aber stürzten sie auf einmal alle zusammen mit wütendem Gebell in die Allee. Ebenso jäh verstummte das Gebell. Eine Minute lang war nur das Zischen und Heulen des Sturmes zu hören, dann ertönte irgendwo ganz in der Nähe ängstliches Winseln, irgendetwas prallte an die Außentür des Hauses. Die Tür, die nicht fest zugemacht war, sprang auf. Im Flur entstand ein Gezerre, die Hunde heulten kläglich, und über ihrem Geheul brauste machtvoll das triumphierende Gebrüll des Sturmes. Es war uns, als sei jemand ins Haus gestürzt und taste blind nach unserer Zimmertür, ohne den Eingang zu finden . . .
Wir blickten einander an. Die Gesichter waren blaß.
»Es ist ein Wolf,« meinte einer von uns. »Laßt uns hinausgehen.«
Das war leichter gesagt als getan. Doch ergriffen wir Jungen eine Laterne, nahmen zwei Gewehre von der Wand herunter, eine alte geladene Pistole und traten hinaus. Die Außentür stand offen und im Flur war bereits ein tüchtiger Haufen Schnee zusammengeweht. Die durch unsere Anwesenheit ermunterten Hunde stürzten wieder mit wütendem Gebell in die Allee. Hinter ihnen war aber nichts zu sehen und zu hören, als der tolle Wirbeltanz der Schneeflocken im Scheine der Laterne und das unaufhörliche langgezogene Heulen, Pfeifen und Ächzen des Sturmes, sowie das ängstliche Rauschen der Pappeln. Dazwischen rasselten und krachten stoßweise die eisernen Dachplatten auf dem alten »Magazin«, wie wenn jemand immer wieder an ihnen zerrte oder mit eiligen schweren Schritten über das Dach liefe. Es war, als ob in dieser seltsamen Nacht alle Dinge ein eigenes Leben lebten: irgendein ungeheuerliches Wesen stürzt hin und her im Sturm, weint, droht und verwünscht, während alles andere saust, anstürmt, zurückweicht, zischt, heult, rasselt, droht oder vor Furcht zittert . . .
Die Hunde verstummten wieder, und wir konnten hören, wie sie alle im ängstlichen Knäuel, übereinander springend, wieder vor jemand oder etwas mit entsetztem Winseln davonliefen. Wir retteten uns eilig in den Flur und schlossen die Tür fest zu. Der letzte Eindruck, den ich von draußen mitnahm, war der Anblick eines Winkels der Außenwand des Hauses, über die der Lichtschein unserer Laterne glitt. Die Wand blieb draußen, unter dem Ansturm des rasenden Windes, und mir war, als ob auch sie in stummer Angst erbebte. Die Hunde drückten sich an die Türen und winselten erbärmlich.
Als wir in das vom Kaminfeuer erleuchtete Zimmer zurückkehrten, herrschte eine Weile Schweigen. Dann sagte eine meiner Schwestern mit gepreßter Stimme:
»Das ist Toni . . .«
Das war ein offenbarer Unsinn, doch wir anderen waren an jenem Abend auch nicht viel gescheiter. Unser kleines Haus erschien uns so nichtig unter dem Anprall der entfesselten Elemente, und in dem Toben der stürmischen Nacht erklang so deutlich irgendeine Drohung . . . Wir waren nicht eigentlich abergläubisch. Wir blieben uns dessen wohl bewußt, daß dies im Grunde genommen nur Wind und Schnee war, nichts mehr. Und doch, aus dem vielfältigen Stimmenchor hörten wir etwas heraus, was in unsern Herzen ein dumpfes schmerzliches Echo weckte . . . In diesem selben Hause hatte ein Menschenleben seinen Anfang genommen und ein elendes Ende gefunden. Und der Schneesturm weinte und ächzte wie eine herzzerreißende Klage über jenen gräßlichen Untergang . . .
Spät in der Nacht kamen, ganz von Schnee verweht, unsere Eltern heim. Der Onkel hörte schweigend unserem Bericht zu. Er war zwar »Voltairianer« und Skeptiker, aber nur bei helllichtem Tage. An dunklen Abenden betete er, glaubte an Geister und betrieb eifrig den Spiritismus. Eine seiner Töchter, ein lustiges und verschmitztes Ding, »schlief« besonders leicht unter der Hypnose des Vaters ein und überraschte den alten Herrn mit allerlei merkwürdigen Erleuchtungen. Bei den Sitzungen mit klopfenden Tischen pflegte er den Geist Julius Cäsars zu zitieren oder den letztverstorbenen Papst, dann wieder den Feldmarschall Paskiewitsch oder gar den polnischen Nationalhelden Kosziuschko und unterhielt sich mit ihnen. Ich möchte jedoch bezweifeln, ob er sich entschlossen hätte, Tonis Schatten zu einer solchen Unterhaltung zu laden . . .
Am andern Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Über den in der Nacht zusammengewehten weißen Hügeln gleißte die Sonne. Von den Dächern und Baumästen lösten sich weiße Schneefetzen . . . Wir entschieden, daß es nichts als ein Wolf war, was am vorigen Abend den Hunden solche Angst eingeflößt haben mochte . . .