Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen Zweiter Band
Wladimir Korolenko

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Vaters Tod.

Wir waren in den Sommerferien in Harnyj Lug, als uns die Mutter, die diesmal in der Stadt geblieben war, wissen ließ, wir sollten sofort nach Hause kommen, dem Vater ginge es schlecht.

Schon seit einigen Jahren ging es mit ihm immer mehr bergab. Alle seine früheren Phantastereien: die Sprachstudien, die Philosophie, die tierärztlichen Versuche und dergleichen Einfälle mehr, in denen sich einst die unerschöpflichen Triebe seiner Lebenskraft äußerten, hatte er seit langem nach und nach aufgegeben. Ein Experiment freilich hat er noch in den letzten Jahren seines Lebens ausgeführt. Er rasierte sich immer selbst, und da ihm dies mit der Zeit sehr beschwerlich wurde, so erfand er ein Radikalmittel gegen den hartnäckigen Bartwuchs: er schaffte sich eine kleine Zange an und zupfte ein Härchen nach dem andern aus seinem Gesicht. »Paßt auf, mit dieser Erfindung werde ich mich noch um den ganzen Beamtenstand verdient machen,« sagte er einmal mit einem rührenden Aufleuchten seines einstigen gutmütigen Humors, »sich dreimal in der Woche rasieren müssen, das ist ja die reinste Qual! So aber habe ich das Haar ein für allemal ausgezupft und damit basta!«

Seine Wangen wiesen auch bald einzelne haarlose Flecke auf, die sich jedoch in kurzer Zeit wieder mit Bartwuchs bedeckten. Er riß die Haare zum zweitenmal aus, in der Hoffnung, damit die Haarwurzeln zum Absterben zu bringen, doch vergeblich. Schließlich mußte er eingestehen, daß auch dieser letzte Einfall, der den gesamten Beamtenstand beglücken sollte, als gescheitert anzusehen war.

Meinem Vater fehlten nur wenige Jahre zur Pensionsberechtigung. In der Periode seiner jugendlichen Aufwallungen hatte er zweimal seinen Abschied genommen und jene zwei drei Jahre mußten eben jetzt nachgeholt werden. Dieser Umstand peinigte ihn ungemein: um jeden Preis die volle Dienstzeit erreichen, um der Familie eine Pension zu hinterlassen, dies wurde das letzte Ziel seines Strebens. Es war, als ob er seine gesamte Lebenskraft nur noch auf dieses eine Ziel konzentriert hätte. Er blickte nicht mehr rechts noch links vom Wege, gönnte sich nicht einmal seine harmlosen Kartenabende mehr, mischte sich nicht mehr in den Haushalt ein, fragte uns nicht einmal nach unsern Fortschritten in der Schule. Nachdem er des Morgens aufgestanden war, ließ er sich vom Diener kalt abreiben, trank schweigend seinen Tee, zog die Uniform an und begab sich über den kleinen Hof hinüber aufs Gericht, hier hielt er sich die ganze Zeit stramm aufrecht, damit niemand seiner Hinfälligkeit gewahr würde. Als mich die Mutter einmal mit irgendeinem besonderen Auftrag in den Amtsstunden zum Vater hinüberschickte, war ich durch seine Haltung überrascht, – er saß in seinem Amtssessel ernst und munter, hörte Vorträge an, gab klare präzise Weisungen. Man sah, daß er alle Fäden fest in seiner Hand behielt. Freilich hatte er damals einen tüchtigen Gehilfen in der Person des neuen Beisitzers Popow, eines fleißigen und ehrlichen Beamten von derselben Auffassung über die Dienstpflicht wie mein Vater. Der Vater behandelte ihn auch mit sichtlicher Achtung und schenkte ihm viel Vertrauen.

Nach den Amtsstunden heimgekehrt, pflegte der Vater auf einmal zusammenzufallen und legte sich nach Tisch sofort schlafen. An den Abenden arbeitete er gewöhnlich noch eine Zeitlang, dann wandelte er, auf ärztlichen Rat hin, noch eine halbe Stunde im Zimmer hin und her, wobei er mühsam seine Beine schleppte und kräftig mit dem Stock aufschlug. Nur den Dienst zu Ende führen! Nur noch um jeden Preis die paar fehlenden Monate durchhalten. Auf dieses Ziel richtete sich jetzt die letzte Lebensenergie dieses nicht ganz gewöhnlichen Menschen . . .

Als der jüdische Bote uns den Brief der Mutter überbrachte, waren wir gerade in einem Taumel jugendlicher Ausgelassenheit begriffen, die sofort erlosch. Noch am gleichen Tage fuhren wir ab, das Gespann von Harnyj Lug brachte uns zur ersten Poststation. Während man hier die Postpferde anschirrte, schlenderte ich mit meinem jüngeren Bruder über die Landstraße ins Gebüsch. Es war einer jener hellen Herbstabende, wo sich die Dämmerung ganz unmerklich herabsenkt; oben am Himmel leuchtete, fast schon im Zenith, der Vollmond. Das war wieder ein Augenblick, der mir mit allen kleinsten Einzelheiten für meines Lebens Zeit im Gedächtnis haften geblieben ist. Die ganze Natur schien mir von einer eigenartigen weichen, bewußten Schwermut durchdrungen. Leise flüsterten die Haselsträucher und die Erlen an der Landstraße. Aus dem offenen Felde zog uns ein linder Wind entgegen und fächelte sanft um das Gesicht, vom Posthof her kam leises Schellengeläute der angeschirrten Pferde. Mir war, als sprächen alle diese verhaltenen Laute: das Raunen der Gebüsche, der Landstraße, des Feldes und des Posthofes, jedes in seiner Weise, von ein und demselben: vom Ende des Menschenlebens, von der Feierlichkeit und Bedeutsamkeit des Todes . . .

Unser Vetter, der uns bis hierher begleitet hatte, ein frisch aus der Kadettenschule entlassener junger Offizier, trat leise zu uns heran und umarmte uns beide herzlich.

»Vielleicht wird er sich doch noch erholen,« meinte er. Aber ich wußte, daß keine Hoffnung blieb, daß alles zu Ende war. Ich erriet das aus der tiefen Trauer, die rings herum auf allem lag, und ich wunderte mich selbst, daß ich es noch am gestrigen Tage nicht bemerkt hatte, daß ich mich noch am gleichen Tage so sorglos der Fröhlichkeit hingeben konnte. Jetzt tauchte auch zum erstenmal in meinem Bewußtsein die Frage auf: was soll nun aus unserer schwächlichen kranken Mutter, was aus uns allen werden?

Das Schellengeklingel wurde stärker, die Räder der Kutsche kreischten auf dem Kies, und eine Minute später fuhren wir auf dem weißen Band der Landstraße dahin, die sich vorne im nächtlichen Dunkel verlor. Wir fuhren gespenstisch schimmernden Wäldern entgegen, die ebenso undeutlich und finster wie unsere Zukunft, und doch noch vom Abglanz des Sonnenlichts eingefaßt waren, wie unsere Jugend . . .

Den Vater fanden wir noch am Leben. Als wir ihn begrüßten, konnte er nicht mehr reden und blickte uns nur mit Augen an, die von Leid und Zärtlichkeit erfüllt waren. Mich erfaßte das Bedürfnis, ihm irgendwie zu zeigen, wie unendlich ich ihn um seines ganzen Gebens willen lieb hatte, wie tief ich sein Leid empfand. Als alle aus dem Zimmer gegangen waren, trat ich an sein Bett, ergriff seine Hand, drückte einen heißen Kuß darauf und blickte ihm in die Augen. Seine Lippen bewegten sich, er wollte etwas sagen. Ich beugte mich über ihn und vernahm zwei Worte:

»Quäl nicht . . .«

Am andern Tage war der Kreisrichter nicht mehr. Hinter seinem Sarge ging eine große Menge, darunter viel arme Leute, Kleinbürger und Juden. Der Kommandant hatte eine Militärkapelle geschickt, und man trug den Sarg unter Klängen eines Trauermarsches, unter Klatschen der Fahnen im Winde, verhaltenen Schrittes auf den Friedhof. Der alte Invalide zog den Schlagbaum hoch, während aus den Zellen des städtischen Gefängnisses bleiche Gesichter der Gefangenen blickten, denen der Mann in Uniform im Sarge kein Unbekannter war. Dann ertönte das Lied »Ewige Ruh«. Erdschollen fielen auf den Sarg, ersticktes Schluchzen meiner Mutter wurde hörbar, und auf dem Friedhof der Stadt Rowno erwuchs im Schatten der bescheidenen hölzernen Kirche ein neuer Hügel . . .

Die Mutter mußte nun plötzlich die ganze Bürde der Erhaltung unserer Familie auf ihre Schultern nehmen. Der Vater war dennoch einige Monate vor seiner Pensionierung gestorben, und es kostete viel Scherereien, um wenigstens eine winzige Pension zu erwirken. Für mehr als dreißig Jahre Staatsdienst erhielt die Witwe des Kreisrichters, der durch seine in jenen finsteren Zeiten beispiellose Ehrlichkeit allgemein bekannt war, sage und schreibe, 12 Rubel monatliches Witwengeld. Zusammen mit Zulagen für Kinder machte das Ganze 17 Rubel im Monat und auch das erst nach angestrengten Bemühungen von zwei drei braven Menschen, die das Andenken des Vaters in Ehren hielten und der Mutter mit Rat und Tat zur Seite standen. Um unsere Schulbildung irgendwie zu Ende führen zu können, unternahm meine Mutter sofort nach dem Begräbnis Schritte, um die Erlaubnis zur Haltung eines Schülerquartiers zu erlangen, und seitdem verteidigte die schwache kränkliche Frau, die ganz allein auf sich gestellt war, mit echt weiblichem Heroismus die Zukunft ihrer Kinder. Der Kreisrichter durfte in seiner bescheidenen Gruft im Schatten der ärmlichen Friedhofskirche ruhig schlafen: sein Weib tat alles, was es irgend vermochte, und mehr als es vermochte, um die Aufgabe zu erfüllen, die seine leidvolle Seele in seinen letzten Stunden so sehr gepeinigt hatte . . .

Ihre ganze Lebenslage veränderte sich jäh und in schroffer Weise. Bislang die »Frau Kreisrichter«, Gattin eines der Honoratioren des Städtchens, wurde sie plötzlich zu einer völlig mittellosen Witwe mit einem Häufchen Kinder; gelang es doch erst nach Verlauf eines Jahres die kümmerliche Pension zu erwirken. Als Bittstellerin mußte sie jetzt bei Leuten vorsprechen, die sich erst vor kurzem die Bekanntschaft mit ihr zur Ehre anrechneten, und als eine »Quartierswirtin« war sie ganz auf die Gnade der Gymnasialobrigkeit angewiesen.

Es muß allerdings gesagt werden, daß, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, ich mich kaum entsinnen kann, daß die Spießbürger sie ihre veränderte Lage hätten derb empfinden lassen. Ja, ich erinnere mich umgekehrt an Beispiele rührender Güte und Hilfsbereitschaft.

Das Grab des Vaters wurde mit einem einfachen Gitter umgeben und bewuchs bald mit Gras. Ein hölzernes Kreuz stand darauf mit kurzen schlichten Worten über Geburtsdatum, Amt und Tod des Dahingeschiedenen. Zu einem Grabstein langten unsere spärlichen Mittel nicht hin. Solange wir in Rowno wohnten, pflegten die Mutter und die Schwestern jeden Frühling frische Kränze aufs Grab zu legen. Dann zerstreuten wir uns alle in der weiten Welt, das verlassene Grab verfiel, und heute würde man wohl kaum eine Spur mehr von ihm auffinden können . . .

Was ist von jenem Leben, seinen Bestrebungen und seinen Leiden übriggeblieben?

Damals lebte ich noch selbst dem väterlichen Glauben und dachte bei mir, daß Vaters Rechnungen immerhin einen guten Abschluß gefunden haben mochten: er war ein religiöser Mensch, hatte sein Leben lang gebetet, seine Pflicht erfüllt, nach Kräften die Schwachen gegen die Mächtigen beschützt und ehrlich dem »Gesetz« gedient. Der liebe Gott mußte dies alles anerkennen – und nun ging es ihm doch wohl gut . . .

Nachmals kam mir dieser schlichte Glaube abhanden, und in meinen Gedanken sah ich oft das einsame Grab: da hatte er gelebt, gehofft, gestrebt, gelitten und war zuletzt gestorben in Sorge und Pein um das Schicksal seiner Lieben. Was hat denn jetzt sein Leben, sein Streben und seine »vorzeitige« donquichottische Ehrlichkeit zu bedeuten? . . .

»Ein wunderlicher Kauz war er doch,« sagten oft die gutmütigen Spießer, »und was hat er damit erreicht? Daß er seine Familie am Bettelstabe zurückließ.«

Die so sprachen, waren auch Menschen »schlichten Glaubens«. Niemals hatten solche Zweifel in der Seele meiner Mutter oder eines von uns Kindern Raum gefunden.

 


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