Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war noch in Schitomir. Ich war noch nicht aufs Gymnasium gekommen, als zu uns einmal ein älterer Herr im grauen Militärmantel, mit dickem schneeweißem Schnurrbart und glattrasiertem Kinn zu Besuch kam. Das war der Gatte meiner ältesten Tante von mütterlicher Seite, Kasimir Kurzewitsch, der gewöhnlich nur kurz »der Hauptmann« genannt wurde. Er war Pole und Katholik, hatte aber im russischen Heere gedient, sodann im Forstdepartement, wo er als »Hauptmann des Stabes bei der Forstabteilung mit Uniform und Pension« den Abschied nahm. Sein Rock war nach militärischem Schnitt gemacht, mit weißen Epauletten, kurzer Taille und kurzen Schößen, so daß Onkel Hauptmann darin wie ein hochaufgeschossener Gymnasialschüler in vorjähriger Uniform aussah. In dem steifen Kragen mit Posamenten saß wie erstickend sein hektisch roter Greisenkopf mit dem langen weißen Schnurrbart.
Am Tage seiner Ankunft, nach dem Mittagessen, als der Vater sich wie gewöhnlich mit seiner Pfeife im Munde hingelegt hatte, trat der Hauptmann in kurzem Zivilrock zu ihm ins Zimmer und begann von seiner Reise nach Petersburg zu erzählen. Dazumal war eine Reise aus der entlegenen Provinz nach der Residenz keine Kleinigkeit, und der Hauptmann war ein vorzüglicher Erzähler. Bekanntlich ist das eigene Interesse des Erzählers für seinen Gegenstand die Hauptbedingung der Wirkung, die er auf die Zuhörer ausübt. Onkel Hauptmann war nun stets voller Begeisterung. Er wandelte, während mein Vater lag und sein Pfeifchen von Zeit zu Zeit paffte, im Zimmer auf und ab, blieb zuweilen stehen, gestikulierte, war hingerissen und hinreißend. Er war über Wilno gefahren. Dort hängt noch über dem Stadttor das alte nationale Wappen von Litauen: der sausende Reiter. Darob verwunderten wir uns alle baß, denn bei uns in Wolhynien wurde man für dieses selbe verpönte »Emblem« ins Loch gesteckt. Dann schilderte er seine Fahrt auf der Eisenbahn, die mein Vater, wohlgemerkt, Zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal kennen zu lernen Gelegenheit hatte. In der Residenz hatte Onkel Hauptmann alles besichtigt, was des Sehens wert war. Er hatte auch der berühmten EremitageDie mit großer Pracht ausgestattete Kunstsammlung. einen Besuch abgestattet und hatte dort die Figur der Mutter Gottes gesehen.
»Verstehst du,« erzählte er, »sie hat eine Träne auf der Wange! Eine wirkliche Träne! . . .«
Den tiefsten Eindruck jedoch hatte ihm das astronomische Observatorium in Pulkowa gemacht. Er hatte sich auch ein kleines Fernrohr angeschafft, aber was war das gegen das große Teleskop von Pulkowa!
»Da siehst du auf dem Monde wie auf flacher Hand Berge, Täler, Schluchten . . . Mit einem Wort, eine ganze Welt, genau wie unsere Erde . . . Es ist einem, als müßte im nächsten Augenblick ein Bauer mit Wagen über den Acker fahren . . . Und mit bloßem Auge gesehen erscheint uns der Mond nur deshalb so klein, weil ihn – verstehst du – Tausende, Zehntausende, ach, was sage ich: Millionen, Billionen Meilen von unserer Erde trennen . . .«
Er blieb in der Mitte des Zimmers stehen, warf seine Arme in die Höhe und umschrieb mit ihnen große Kreise, um die Unendlichkeit der Welträume anzudeuten. In der Tür des Zimmers standen, durch das laute Pathos des Erzählers herangelockt, Mutter und die Tanten, während wir Buben im Winkel hockten und mit angehaltenem Atem lauschten. Wenn der Redner seine Arme zur Decke emporwarf, so war es uns, als träte die Zimmerdecke selbst zurück, und als tauchten die Arme des Onkels in den unendlichen Weltraum.
Dann unterbrach er schroff seine Gestikulation:
»Weißt du,« sagte er, »was ich dir sage: wenn einer all das gesehen hat, was ich sah und mit gescheiten Leuten gesprochen hat, dann . . . dann . . . nun, mit einem Wort, dann hört er auf, an manches zu glauben, was er ehedem blindlings für wahr gehalten.«
»Zum Beispiel?« fragte der Vater.
»Zum Beispiel . . . nun wohl: zum Beispiel soll Josua gesagt haben: Sonne, stehe still zu Gibeon und Mond im Tal Ajalon. Wir wissen aber doch jetzt, dank all dieser Fernrohre, verstehst du, und dank der ganzen sonstigen Wissenschaft, sehr wohl, daß nicht die Sonne um die Erde kreist, sondern umgekehrt die Erde um die Sonne!«
»Nun, und was folgt daraus?«
»Wieso: was folgt daraus? Es folgt eben, daß die Sonne auf das Gebot Josuas nicht hat stillstehen können, stand sie doch schon früher still! Und wenn die Erde doch fortfuhr sich zu bewegen, dann konnte, verstehst du, gar kein Wunder geschehen . . .«
Mein Vater lachte.
»Belehre Kranker den Medikus! Josua verstand nichts von Astronomie, das ist alles.«
»Na, das ist es ja eben! Was sage ich denn anderes? Verstand nichts von Astronomie, wollte aber die Welten regieren!«
»Nicht er regierte sie, sondern der Herrgott. Dieser wußte aber schon, was und wie zum Stillstehen zu bringen war.«
Der Hauptmann schüttelte ungläubig den Kopf.
»Zum Stillstehen bringen . . . eine solche Maschinerie! Niemals werde ich das glauben!«
Und wieder fing der weißhaarige gebieterische Greis, zu seiner ganzen Höhe aufgerichtet, an, mit Ton und Gebärde die Unendlichkeit des Weltalls zu schildern.
In seiner Begeisterung ging er in dem Skeptizismus über Josua und dessen Plänkeleien mit den Amalekitern Schritt für Schritt immer weiter.
»Da steht in der heiligen Schrift: Das Himmelsgewölbe ist sein Fußschemel. Nun blick einmal durch jene Fernrohre auf den Himmel . . . Da ist der Mond mit Bergen, Vulkanen und Schluchten . . . Da ist der Saturn mit seinen feurigen Ringen als Gürtel, dann alle diese Venusse, Marse, Jupiters, alles, verstehst du, Sterne, Planeten, alles Welten, die größer sind als unsere Erde . . . ohne Ende, ohne Zahl . . . Und alles in ewigem Kreisen begriffen. Erzähle du mir da von ›Fußschemeln‹! Wo ist denn da überhaupt ›oben‹ und wo ›unten‹? Ich stehe zum Beispiel jetzt hier und halte meinen Kopf nach oben. Unter mir aber, in irgendeinem Amerika vielleicht, steht ein Gegenfüßler mit den Fersen gegen mich gerichtet und mit dem Kopf also nach unten, nicht wahr? Und er glaubt doch auch, daß er ›nach oben‹ schaut . . . Mit einem Wort, wenn man das alles erfährt und sich deutlich vorstellt, dann fühlt man direkt, sage ich dir, wie sich das alles um dich dreht . . .«
Und wieder schien der Hauptmann mit seinen fuchtelnden langen Armen das Weltall um eine unsichtbare Achse zu drehen, und wir Buben blickten mit einiger Angst von unten auf dieses gefährliche Experiment . . .
»Ach, Kasimir, Kasimir!« ließ sich plötzlich vorwurfsvoll meine Mutter vernehmen. »So viele Menschen fahren nach der Residenz und wohnen sogar dort, glauben aber trotzdem an Gott. Du aber bist kaum einmal hingefahren und redest schon solchen Unsinn.«
»Und ist doch schon ein alter Mann!« fügte die Tante empört hinzu.
»Nun, an Gott . . .« – verteidigte sich der Hauptmann – »vom Herrgott spreche ich ja noch nicht. Ich sage nur, daß in der Schrift so manches steht . . . Ihr glaubt mir ja nicht, – nun fragt doch bei ihm (er wies auf den Vater, der mit leisem Lächeln dem Streit zuhörte): spreche ich von den Gegenfüßlern wahr?«
Ich blickte zum Vater hin in der Erwartung, daß er die stürzende Welt wieder auf ihre Füße stellen werde, er aber nickte mit dem Kopf:
»Ja, es stimmt,« sagte er. Und fügte dann, nachdem er zwei Züge aus seinem Pfeifchen getan hatte, hinzu:
»Und doch hat das alles gar nichts zu sagen. Für jeden Menschen ist ›oben‹, was sich über seinem Kopf befindet, und ›unten‹ heißt im Zentrum der Erde. Gott aber ist überall: oben und unten und nach allen Seiten. Also kann man sich überall an ihn wenden. Übrigens hör mal, Kasimir, bist du diesmal bei Jan gewesen?«
»Ja, ich habe ihn besucht,« antwortete der Kapitän.
»Nun, wie geht es ihm denn?«
»Soso, es geht halbwegs . . . er bewirbt sich um die Stellung eines Gefängnisaufsehers.«
»Der Gouverneur schaute ihn an und sagte: ›Ja, ein Gefängnisaufseher wie er im Buche steht.‹ Ob aber daraus was wird, muß man abwarten.«
»Nun, und haben ihn seine Toten endlich in Ruhe gelassen?«
»Ach, wo denkst du hin? Noch viel ärger setzen sie ihm zu als früher.«
Und der Kapitän leitete seine Begeisterung auf ein neues Geleise über. Jan Kurzewitsch war sein Vetter, ein Militär, der im Kaukasus gedient hatte. Dort war er an zahlreichen Expeditionen und Treibjagden gegen die Eingeborenen beteiligt, war einmal bei ihnen in Gefangenschaft geraten, wenn ich nicht irre, verwundet, nahm endlich seinen Abschied und kehrte nach der Heimat zurück, hier gab er nun eine Menge merkwürdigster Geschichten aus seiner Kaukasuszeit zum Besten. So erzählte er, einer seiner Kameraden sei von den Tscherkessen angeblich an der Tür einer Hütte gekreuzigt worden, und die Dorfjugend habe sich lange im Schießen mit Pistolen und Pfeilen auf diese lebendige Zielscheibe geübt. Von sich selbst berichtete er, er habe gar oft nur mit knapper Not seine Haut retten können, mitunter nur dank dem Beistand geheimnisvoller Mächte. Diese mystischen Bundesgenossen waren ihm nun bei seiner Rückkehr nach der Heimat auch hierher gefolgt und hatten in seiner Wohnung offenbar dauerndes Quartier aufgeschlagen, hier lebten nach der festen Überzeugung des Hausherrn alle Gegenstände – Tische, Stühle, Leuchter, Töpfe, Flaschen – ihr eigenes Leben. Bald rutschten sie hin und her, bald klopften sie, bald flogen sie mutwillig aus einer Zimmerecke in die andere. Des Nachts ließen sich in den dunklen Zimmern Schläge, Geflüster, Seufzer, Ächzen und dergleichen Geräusche hören. Unsichtbare Arme streckten sich aus der Dunkelheit und streiften dem unseligen Jan über das Gesicht, wie mit Sammethandschuhen hin. Einmal hatte ihn sogar im Korridor jemand schwarzer, zottiger und weicher um die Taille gefaßt . . .
»Und wie konnte er in der Dunkelheit erkennen, daß es jemand schwarzer sei?« fragte mein Vater lächelnd.
»Das ist es ja eben,« erwiderte der Hauptmann unbeirrt, »es ist pechschwarze Dunkelheit, daß man die Hand vor dem Gesicht nicht sieht, er aber sieht, daß es jemand schwarzer und zottiger ist! Kaum hat er aber ein Zündholz angezündet, ist keine Spur mehr zu sehen, – alles ruhig. Einmal hat er auf der Diele Asche gestreut. Am anderen Morgen waren Spuren wie von Vogelfüßen zu sehen. Neulich wieder . . .«
Es folgte eine Geschichte von einer »weißen Seele«, die vom nahen Friedhof in die neue Wohnung Jans zu Besuch zu kommen pflegte. »Was willst du von mir, unglückliche irrende Seele?« fragte Jan. Darauf stöhnte sie und verließ leise das Zimmer. Jan zog schnell Stiefel und seine Tscherkessenjacke an, nahm seine Pistolen, hieß den Diener, gleichfalls einen Soldaten aus dem Kaukasus, ihn begleiten, und folgte der Erscheinung. Sie gingen über den öden Platz zum Friedhof hin. Hier bekam es der Diener mit der Angst und blieb an der Umzäunung stehen, Jan hingegen ging weiter. Die »Seele« näherte sich ihrem Grabe, stand dort eine Weile still wie ein schwanker Nebelstreif, dann ringelte sie sich wie eine Schlange zu einer Spirale und sank schließlich mit dumpfem Ächzen ins Grab. Dem Jan wankte die Erde unter den Füßen, ein Wirbelwind erfaßte ihn, und er kam plötzlich in seinem Bette und sogar schon entkleidet zu sich . . .
»Und der Diener?« fragte mein Vater.
»Der schlief, verstehst du, wie ein Toter. Kaum vermochte Jan ihn aufzuwecken. Und dann konnte sich der Kerl auf gar nichts mehr besinnen.«
»Warum glaubst du denn nicht, daß dein Jan die ganze Geschichte einfach geträumt hat?«
»Ach was, geträumt! Die Stiefel waren doch naß vom Tau!«
Mein Vater lachte.
»Bist du aber ein komischer Kauz, Kasimir!« sagte er. »Ich habe dich absichtlich über Jan befragt. Du zweifelst also an Gott, aber an Ammenmärchen glaubst du.«
»Nein, sage das nicht! Es gibt etwas, verstehst du, in der Natur . . . Ich will nicht behaupten, daß es unbedingt böse Geister seien oder so etwas Übersinnliches . . . Vielleicht ist es Magnetismus . . . Die Wissenschaft wird es schon mit der Zeit herauskriegen.«
»Der Magnetismus wird dir was vorstöhnen! . . .« bemerkte ironisch mein Vater.
Die Nacht, die auf diesen Nachmittag folgte, war für uns Buben wieder voller Aufregung. Mein älterer Bruder sah beim Erwachen, wie sich schwarze Sammetarme nach ihm ausstreckten und schrie laut. Auch ich schlief schlecht und erwachte aus wirren Träumen in Schweiß gebadet.
Am nächsten Abend stieß der ältere Bruder, als er durch den dunklen Flur ging, plötzlich einen Schrei aus und stürzte atemlos in Vaters Zimmer. Er wollte im Flur eine große weiße Gestalt, genau wie »die Seele«, von der der Hauptmann erzählt hatte, im Winkel gesehen haben. Der Vater hieß uns alle drei Buben ihm folgen, wir gingen bis an die Schwelle und blickten in den Flur hinein. Ein schwacher Lichtschimmer fiel von der offenen Tür auf den Boden und zerrann im Dunkel. An der linken Wand stand tatsächlich ein Etwas, das groß und weiß, einer menschlichen Gestalt ähnlich sah.
»Geh hin und sieh nach, was es ist,« befahl der Vater meinem älteren Bruder. Dieser tat einen Schritt vorwärts, stürzte dann aber plötzlich zurück, zwischen uns durch, und verschwand durch die Tür.
»Dieser Schafskopf!« sagte der Vater ärgerlich. »Nun, so geht ihr beiden miteinander. Marsch, vorwärts!«
Mit klopfenden Herzen schoben wir, mein jüngerer Bruder und ich, dem väterlichen Befehl gehorchend, zur weißen Figur hin. Mit Schaudern streckten wir beide gleichzeitig eine Hand aus, um die rätselhafte Erscheinung zu prüfen: es war ein Plättbrett, das von den Dienstboten an ungewohntem Platz vergessen worden war.
»Da seht ihr,« sagte der Vater, »so enden Spukgeschichten immer, wenn man sich nicht vor ihnen fürchtet.«
Überhaupt war mein Vater, so sehr er innig religiös war, nicht im geringsten abergläubisch, und er bemühte sich, auch unsere Gemüter von Aberglauben frei zu halten. Gott, der Herr, sieht alles, weiß alles, waltet über allem. Auf Erden wirken seine klaren und festen Satzungen. An Gott nicht zu glauben, ist dumm, wie es dumm ist, an Träume, böse Geister und allerlei Spuk zu glauben. Derart war sein Bekenntnis, das er auch uns lehrte.
So war uns vom Hauptmann und seinen Erzählungen, alles in allem, ein zwiespältiger Eindruck zurückgeblieben. Seine Geschichten waren zweifellos spannend und machten auf uns tiefen Eindruck. Zugleich jedoch blieb es Tatsache, daß Onkel Hauptmann an Gott nicht glaubte, wohl aber an den Bösen, der sich »Magnetismus« nennt und auf Vogelfüßen spaziert. Das schien nun auch uns Buben lächerlich.
Um jene Zeit lernte ich noch einen Menschen kennen, der nicht an Gott glaubte. Der Bruder meiner Mutter hatte sich verheiratet, war in seine junge Gattin maßlos verliebt und grenzenlos glücklich. Da ich der ausgesprochene Liebling dieses Onkels war, so nahm er mich, als er geheiratet hatte, gleich in seinem Honigmond zu sich ins neue Heim. Ich lebte bei dem jungen Paar, ohne das Bedeutsame, das im Leben meines Onkels vorging, auch nur entfernt zu ahnen, doch auch ich kleiner Knirps sog unbewußt in vollen Zügen die Atmosphäre des strahlenden Glücks und der Zärtlichkeit ein, die in dem kleinen Häuschen herrschte, das wie von goldenem Nebel eingehüllt war.
So war es wenigstens, bis am Horizont eine neue Gestalt auftauchte: der Bruder meiner neuen Tante, ein Student der Kijewer Universität. Er hatte eine sehr weiße Gesichtsfarbe, schwarzes Haar und einen kleinen, sorgsam gepflegten Backenbart. Kinder konnte er durchaus nicht leiden und sagte einmal zu seiner Schwester, ohne sich durch meine Anwesenheit im mindesten zu genieren, sie hätte sich doch lieber ein Hündchen anstatt meiner anschaffen sollen.
Die Tante wies ihn vorwurfsvoll mit den Augen auf mich.
»Was versteht er, dieser Knirps!« sagte der Student darauf geringschätzig.
Ich saß unterdessen neben der Tante, schlürfte angelegentlich aus der Untertasse meinen Tee und dachte bei mir, daß ich alles genau so gut verstände wie er, daß er ein abscheulicher Mensch sei, und daß sein Backenbart aussähe, wie wenn er angeklebt wäre, später erfuhr ich, daß dieser unangenehme »Onkel« in Kijew Frösche und Leichen aufschlitzte, und daß er, da er in diesen keine Seele gefunden hätte, weder an Gott, noch an Teufel glaubte.
Wie dem sei, die beiden ersten »Ungläubigen«, denen ich in meinem Leben begegnet bin, hatten mir jedenfalls Eindruck gemacht. Die Erscheinung des Hauptmanns war interessant und farbenreich, diejenige des angehenden Medikus trocken und abstoßend. Beide waren religionslos: der eine, weil er in ein Fernrohr geguckt hatte, der andere, weil er Frösche und Leichen sezierte. Mir Buben schienen beide Gründe befremdend und unzureichend zu sein.
Im Zusammenhang mit diesen Bildern erinnere ich mich an eine sehr fest umrissene und starke Stimmung, die ich ungefähr um jene Zeit erlebt habe. Ich stand einmal im Hofe – ich weiß noch ganz deutlich – ohne bestimmten Zweck, hielt nichts in den Händen, mein Kopf war unbedeckt, und die Sonne brannte darauf gelinde. Ich stand da, ganz in meine Gedanken vertieft. Ich dachte bei mir, daß, wenn ich groß sein würde, etwa ein Gelehrter oder ein Arzt, wenn ich die Residenzen besucht haben würde, ich dennoch nie, nie den kostbaren Glauben aufgeben wolle, den mein Vater, meine Mutter und ich selbst bislang so treu in der Brust hegten.
Das war eine Art Gelübde. Ich überschaute die ganze mir bekannte kleine Welt. In dieser winzigen Welt fiel es mir nicht schwer, die Wahrheit vom Irrtum zu sondern: Der Glaube – das ist die überlegene, harmonische Seelenstimmung meines Vaters. Der Unglaube, das ist entweder etwas Lächerliches, wie bei dem Onkel Hauptmann, oder etwas Abstoßendes, wie bei dem jungen Mediziner. Ich hatte dazumal noch keine Ahnung, daß es einen menschlichen Zweifel gibt, dem Halt zu gebieten viel schwieriger ist, als es Josua fallen mochte, die Bewegung der Himmelskörper zum Stehen zu bringen. In meine kleine Welt hatte jener Zweifel damals nach keinen Einlaß gefunden.
Jener Augenblick des vollkommenen inneren Gleichgewichts, der festen religiösen Überzeugung, ist für immer wie ein sonnenbeschienener Fleck in meiner rückschauenden Lebenserinnerung haften geblieben. So manches von dem, was ich vorher, was ich nachher erlebt, ist nach und nach von dichten Nebelschwaden verhüllt und meiner Erinnerung entrückt worden, jener kurze Augenblick hingegen leuchtet in meinem Gedächtnis immer noch, wiewohl schon aus großer Ferne . . .
Die geschilderte Seelenstimmung blieb bei mir lange intakt, länger, als bei der Mehrzahl meiner gleichaltrigen Kameraden. Ich pflegte gerne zur Kirche zu gehen, nur hatte ich mir die Erlaubnis erwirkt, nicht den Dom zu besuchen, wo die Schüler in Reih' und Glied unter der Aufsicht der Obrigkeit stehen mußten, sondern die in unserer Nähe gelegene Kirche des hl. Pantaleon. Hier pflegte ich, dicht neben meinem Vater stehend, in die rechte Gebetstimmung zu kommen. Es gelang mir dies hier häufiger als jemals später in einem Gotteshaus.
Ich folgte gewöhnlich der Liturgie nach meinem eigenen kleinen Gebetbuch. Das fromme Geflüster der Menge ergriff mich jedesmal unwillkürlich, die andächtige Stimmung der Gemeinde hüllte mich leise ein und trug mich wie ein ruhiger Strom mit fort. Ich merkte kaum, wie die Zeit verstrich.
In dieser Stimmung des festen religiösen Glaubens war ich auch auf das Gymnasium von Rowno gekommen. Hier rief mich gleich in der ersten Religionsstunde der Geistliche, Krjukowskoj, zum Katheder vor und hieß mich Gebete aufsagen. Beim Vaterunser unterlief mir eine falsche Betonung.
Das Gesicht des Popen nahm sogleich einen schadenfrohen und bösartigen Ausdruck an, er äffte ein paarmal mit seiner unangenehmen, klirrenden Stimme meine falsche Betonung nach und fragte dann:
»So hat man dich also gelehrt, auszusprechen? Mamachen ist wohl eine Polakin, was?«
Mir schoß das Blut zu Kopfe. Ich schlug die Augen nieder und verharrte im Schweigen. In meiner Brust wogten und stürmten ungeformte Empfindungen, ich wußte ihnen jedoch keinen Ausdruck zu geben. Ich wäre wohl in Tränen ausgebrochen, aus dem Schulzimmer gelaufen, wenn mich nicht das Bewußtsein gestärkt hätte, daß hinter mir das Mitgefühl meiner Kameraden wie eine Mauer stand. Der Geistliche hieß mich, da er mich zur Fortsetzung des Gebets nicht bestimmen konnte, schließlich wieder auf meinen Platz zurückkehren. Als ich mich hinsetzte, sagte mein Nachbar, Kroll, leise zu mir:
»So tut er's immer, der verfluchte Pfaffe. Mein Vater ist ja auch evangelisch.«
Beim Nachhauseweg murmelte ich die ganze Zeit allerhand zornige Worte vor mich hin, die ich dem Lehrer hätte antworten sollen, und konnte mir nicht verzeihen, daß ich sie nicht im richtigen Moment gefunden hatte.
Der Pope war übrigens eine in ihrer Art charakteristische, nicht uninteressante Persönlichkeit. Einmal – das war freilich schon in höheren Klassen – sagte mir der Kollege Wolodkiewitsch, ein netter Bursche, der sich gern mal über »höhere Materien« unterhielt, mit tiefsinniger Miene:
»Weißt du, was ich mir über Krjukowskoj hab' erzählen lassen? Er war auf der Akademie, hat sie aber nicht absolviert. Er wurde als ein ›Voltairianer‹ relegiert . . .«
»Ach, sicher ein Geschwätz,« bezweifelte ich.
»Nein, durchaus kein Geschwätz. Er hat eine Dissertation geschrieben: Ob Gott denken könne?«
»Nun, was ist denn dabei?« fragte ich.
»Du verstehst nicht! Das ist eben sehr, sehr . . .«
Was »sehr« – wußte er selbst nicht zu sagen, aber diese unbestimmte Erzählung fügte sich doch, ich weiß nicht, warum, sogleich in mein sonstiges Bild von der Persönlichkeit des Geistlichen. Er war ein ziemlich häßlicher Mann, mit einem hageren, ungesund aussehenden Gesicht, dünnem, schlichtem Kopfhaar, einem dünnen Bartwuchs und kleinen klugen Augen. Setzte man ihm etwa, wie die Schüler dies manchmal absichtlich taten, ein Tintenfaß in Gestalt eines Frauenschuhs aufs Katheder, dann trat in sein Gesicht der Ausdruck grenzenlosen Abscheus, und er wehrte gleichsam mit beiden Händen die Versuchung ab. Im Grunde genommen war er weder bösartig, noch kleinlich, und ich hatte nach jenem ersten Zusammenstoß keine Konflikte mehr mit ihm auszufechten. Andererseits erklang in seiner Stimme nicht ein einziges Mal jene echte, warme Note, aus der man eine innige Empfindung, einen lebendigen Glauben hätte heraushören können. Statt dessen stand ihm jederzeit eine geschickte, trockene und völlig indifferente Schulgelehrsamkeit zu Gebote. Daneben war er ein wütender Russifikator, führte Krieg gegen »römische« Kreuze an den Landstraßen, gegen »nichtorthodoxe« Heiligenbilder in armen Kirchen, gegen das Besprengen mit Weihwasser bei der Taufe und gegen katholische Taufnamen, mit denen der »polonisierte« Klerus Wolhyniens in seiner Herzenseinfalt häufig die orthodoxen Täuflinge behaftete. So hatten wir in unserer Klasse einen orthodoxen Schüler, Schpanowski, der im Geburtsschein den polnischen Taufnamen Konrad führte. Krjutowskoj korrigierte sofort eigenmächtig den verpönten Vornamen in der Klassenliste, versagte aber dem Unglücklichen selbst den entsprechenden russischen Namen Kondratius und hieß ihn zur Strafe in völlig unsinniger und entstellter Weise sich »Kodrat« nennen.
»Schpanowski«, pflegte er ihn vorzurufen, »wie heißt du mit Vornamen?«
Und der Junge mußte selbst seinen Taufnamen zu dem mißtönenden »Kodrat« verrenken, was jedesmal in der Klasse eine freilich zurückhaltende Heiterkeit hervorrief.
Im Schulgebäude befand sich eine eigene Kirche, und von der Obrigkeit wurde streng darauf achtgegeben, daß wir sie auch pünktlich besuchten. Jeden Morgen am Sonntag oder Festtag waren wir orthodoxen Schüler verpflichtet, uns alle zusammen in einem großen Klassenzimmer einzufinden. Hier erschien der Inspektor oder der Pedell und verlas die Präsenzliste. Dann gab es eine Fünfminutenpause, während der die Pedelle streng darüber wachten, daß keiner Reißaus nahm. Darauf wurden wir in die Kirche geführt. Die Kleinsten schritten voran. Neben jeder Klasse marschierte wie ein Korporal der Klassenälteste. Zur Seite standen wie Kompagnieführer die Pedelle. Im Hintergrund ragte wie ein Wachtturm die monumentale Gestalt Stepan Jakowlewitschs. Er selbst pflegte sich nur hier und da für einen Moment der Andacht hinzugeben, und dann wurde sein massives Gesicht etwas weicher. Zumeist pflegte er jedoch seinen prüfenden Blick über unsere Reihen spazieren zu lassen. Die Pedelle paßten nicht minder fleißig auf, so daß ich manchmal die Empfindung hatte, als wäre ich von vorn, von rückwärts, von allen Zeiten an unsichtbaren Fäden gezogen, im Rücken aber fühlte ich förmlich, wie mich der schwere Blick unseres Inspektors durchbohrte. Und der lange Gottesdienst verwandelte sich für mich in eine qualvolle Wanderung durch die Wüste, in der bekannte Ausrufe, die dem Schluß entgegenleiteten, die Oasen bildeten.
Da – das trockene Klappern metallischer Ringe, die an einem Draht gezogen werden. Die »Kaisertür« ist verschlossen, der Vorhang zugezogen worden. In den Schülerreihen läßt sich ein leises Geräusch vernehmen, eine leichte Bewegung unterbricht die schlaffe Erstarrung. Gott sei Dank, – die Hälfte ist vorüber. Der gut eingeübte Chor beginnt das Cherublied . . .
Ich verfalle wieder in den Zustand der halben Bewußtlosigkeit, im Hirn schleichen träge zusammenhangslose Gedankenfetzen, meine Beine werden starr . . . Ein neues Geräusch, – der Dirigent klopft mit der Stimmgabel auf die Chorbrüstung, hebt sie und schwenkt den Arm. Der Chor taucht wieder weich in die Wogen der vertrauten Melodie.
»Va-a-ter unser . . . der du-u bi-st im Hi-im-mel . . .«
»Zweidrittel!« taucht es sofort im Hirn der Schüler auf . . .
Wieder ein Dämmerzustand, Weihrauchschwaden, Ausrufe, die nur vom Ohr, nicht vom Hirn notiert werden, ein Reigen schleppender Gedanken im Kopf . . .
Endlich belebt sich der Chor. Die Melodie scheint freudig zu verkünden: Gott sei Dank, bald ist Schluß!
Derart war der »Verkehr mit Gott« bei der überwiegenden Mehrzahl der Schüler während jener Zwangskirchenbesuche.
Nur ein Moment haftet in meiner Erinnerung noch jetzt im Duft einer rührend poetischen Stimmung. Das ist der Choral: »Stilles Licht« bei der Abendmesse, die bei uns zusammen mit der Frühmette abgehalten zu werden pflegte, – zumal im Frühling oder im Herbst.
Die Sonne neigt sich zum Untergang und vergoldet mit ihren letzten Strahlen die hohen Pappeln auf der Insel hinter dem Teich. Durch die offenen Fenster der Kirche ziehen wie Schleier die Schwaden des Weihrauchs hinaus. In den Winkeln und über dem Altar kauern schon traumhafte Schatten, die Kerzenflammen treten heller hervor; die Figur des Gekreuzigten hebt ihre Arme aus der bläulichen Dämmerung in die Höhe, und die Töne des sanften Chorals strömen dahin und wiegen sich in den Abschiedsstrahlen des sterbenden Tages. Eine frische friedliche Nacht steigt hinab. Und eine gütige milde Stimme scheint mir ins Ohr zu flüstern: In wenigen Minuten ist das lange Stehen zu Ende . . .
Nach dem Hochamt durften wir nie nach Hause gehen, sondern wurden wiederum in das Schulzimmer dirigiert: hier pflegte die Erläuterung des gehörten Evangeliums zu folgen. Abermals Fünfminutenpause, dann wird die Glocke angeschlagen. Der Geistliche, der sich inzwischen umgekleidet hat, besteigt das Katheder. Seine erste Frage ist:
»Welcher Apostel wurde heute in der Kirche gelesen, welches Evangelium?«
Und – merkwürdige Erscheinung, deren sich meine Schulkameraden sicher entsinnen werden – an die anderthalb Hundert Knaben, die eben erst aus der Kirche gekommen waren, und die ganz genau wußten, daß diese Frage an sie alle nach der Reihe gerichtet würde, sie alle waren in den meisten Fällen völlig außerstande, sich auf das Evangelium und auf den Apostel des Tages zu besinnen. Als hätte ihnen jemand gleich hinter der Kirchenschwelle durch einen unmerklichen Stoß alles aus den Köpfen geschüttelt, was dort über zwei lange Stunden vorgelesen und vorgesungen war.
Der vorgerufene Schüler blickt sich hilflos suchend um, stößt den Nachbar mit dem Ellbogen an, gibt unter der Bank verzweifelte Zeichen mit den Füßen, das Klassenzimmer entlang fliegt ein Flüstern, Fragen und Raten . . . Und einer nach dem andern wird vorgerufen, schweigt sich aus oder redet Unsinn. Der Geistliche wird zornig, boshaft und droht mit schlechten Noten.
Die einzige Rettung in solchen Fällen war, dem Vater Oberpriester irgendeinen »Gewissensskrupel«, einen kleinen wohlanständigen Zweifel in Religionssachen vorzulegen. Doch dieses mußte mit großer Vorsicht getan werden. Vater Oberpriester war ein belesener Mann und ließ sich gern herbei, auch Probleme, die nicht streng zum Unterricht gehörten, zu erörtern. Seine Belehrung hatte stets Hand und Fuß, war fließend und hübsch mit Zitaten ausgeschmückt. Er pflegte auch zu dem Schüler, der ihm Gelegenheit zu solchen Erörterungen bot, Wohlwollen zu hegen und bei den Quartalsnoten dieser Gesinnung einen merkbaren Ausdruck zu verleihen. Doch war dies ein schlüpfriger Boden. Die »Gewissensfrage« mußte eine möglichst formalistische sein, der äußere Gelehrsamkeit gewachsen war. Gott behüte, wenn ein wirklicher, lebendiger, schmerzlich empfundener innerer Zweifel angedeutet wurde! Gefährlich war es auch, der Vorliebe des frommen Vaters für die Russifizierung oder seinem kirchlichen Bureaukratismus etwa zu nahe zu treten. Die Züge des Popen pflegten in solchen Fällen sogleich einen unangenehmen Ausdruck anzunehmen, und der unvorsichtige Frager hatte seinen Fürwitz noch lange zu büßen. Am häufigsten trat mit Fragen mein Freund Gawrilo Kajdanow vor, ein hübscher Ukrainer mit gutmütigen Glotzaugen und rabenschwarzen Locken. In der Kirche war er der Vorbeter der Apostel. Er besaß eine kleine, aber angenehme und frische Stimme, auf die er ein wenig stolz war, und mit der er dem Diakonus Konkurrenz machte. Dieser hatte seinerseits eine tiefe, ehemals wohl kräftige, nunmehr aber total »versoffene« Baßstimme. Der Wettbewerb Kajdanows war ihm nicht entgangen, diese Anmaßung strafte der Diakonus indessen mit Verachtung, unterließ es aber nicht, jeden Versager, der meinem jungen Freund auf den höchsten Noten hin und wieder unterlief, aufzufangen und schadenfroh zu unterstreichen. Gawrilo seinerseits pflegte sich dadurch zu rächen, daß er die Gesangsweise des Diakonus in den Korridoren ständig nachäffte. Dies war ihm derart zur Gewohnheit geworden, daß er einmal während des Gottesdienstes, als er sich, wie üblich, geräuspert hatte und den Apostel des Tages vorsingen sollte, plötzlich unversehens im »Diakonus-Baß« dessen Partie anstimmte:
»Vom ha-ei-ligen Lu-u-kas . . . Um jene Zeit . . .«
Hier verstummte er und blickte sich mit seinen Glotzaugen ratlos um. Das zottige Haupt des Diakonus wandte sich ihm mit dem Ausdruck teuflischer Schadenfreude zu, zugleich ertönte vom Altar die eilige Stimme des Oberpriesters:
»Sakrament! Gawrilo, bist du denn verrückt geworden?«
Der unselige Gawrilo durfte direkt aus der Kirche in den Karzer spazieren . . .
Dennoch hatte mein Freund Kajdanow, weil in kirchlichen Dingen einigermaßen sattelfest und Chorsänger, bei dem Oberpriester entschieden einen Stein im Brett. Ihm fiel denn auch am häufigsten die Aufgabe zu, »Gewissensfragen« auszuklügeln.
»Vater Oberpriester,« begann er gewöhnlich unter allgemeinem Stillschweigen. »Gestatten Sie mir eine Frage vorzulegen. Von wegen eines aufgetauchten Zweifels . . .«
»Nun, nun . . . was für ein Zweifel ist's, sprich?«
»In der heiligen Schrift heißt es, Vater Oberpriester, an einer Stelle: ›Selig diejenigen, so auch nach ihrem Tode ihren Nächsten Wohltaten erweisen‹ . . .«
»Nun, nehmen wir an, daß es so heißt, wiewohl du den Text natürlich wieder verdreht hast. Aus dem Wirken der Apostel sind viele Fälle bekannt, daß selbst Gegenstände, die von heiligen Männern bei Lebzeiten gebraucht worden waren, als da sind Gebetriemen, Schweißtücher und andere mehr, daß auch diese Dinge Wunder und Heilwirkungen ausübten . . .«
Und der Oberpriester erörtert des Langen und Breiten Wunder, die von Gebetriemen und Schweißtüchern gewirkt wurden. Die Zeit verstreicht unterdessen glücklich. Gawrilo hört geduldig zu, bis der Geistliche fertig ist, dann setzt er wieder ein:
»Nein, Vater Oberpriester. Ich meine etwas anderes, das heißt speziell Menschenknochen . . .«
»Nun wohl, von Knochen gilt dasselbe in noch höherem Maße. Bekannt ist das Wunder, das durch die Knochen des Propheten Elias bewirkt wurde, da doch ein Toter, der sie in der Höhle berührt hatte, auferstanden war und unter Lebenden wandelte.«
Folgt ein langer Vortrag über das Wunder durch die Knochen des Propheten Elias mit Kommentaren.
»Nein, Vater Oberpriester,« hebt von neuem der eigensinnige Gawrilo an, »ich meine ganz etwas anderes. Ein Engländer hat nämlich in den Zeitungen den Vorschlag aufgebracht . . .«
»Wie? Was? Wo willst du mit deinem Engländer hinaus?« sagt der Vater Oberpriester. »Zeitungen sind ein weltlich Ding und haben mit unserem Unterricht nichts zu tun. Sag du mir lieber, welchen Apostel wir heute . . .«
»Doch, doch, Vater Oberpriester,« unterbricht eilig Gawrilo, »es hat mit unserem Unterricht zu tun. Denn es heißt doch: ›Selig diejenigen, so nach dem Tode . . .‹ Und da sagt jener Engländer: ›Welche Menge menschlicher Knochen,‹ sagt er ›kommt um, ohne jeden Nutzen für die Menschheit,‹ sagt er . . .«
Das Gesicht des Popen bekommt mit einem Mal einen lauernden und unangenehmen Ausdruck. Gawrilo merkt, daß der Boden zu wanken beginnt. Seine hübschen Glotzaugen treten noch mehr vor und scheinen zu erstarren. Aber es ist zum Rückzug zu spät.
»Nun, nun?« ermuntert ihn hämisch der Geistliche, »was meint nun dein Engländer? Wollen hören, wollen hören, statt der Kirchenväter den Engländer . . .«
»Also er . . . Das heißt jener Engländer . . . schlägt vor . . .«
»Nu–un?«
»Die Knochen . . . in die Fabriken zu liefern . . . um daraus Phosphor und dergleichen zu verfertigen, Vater Oberpriester . . .«
Das Gesicht des Geistlichen verzerrt sich vor Ekel. Er wendet den Kopf und wehrt mit beiden Händen ab, ganz wie vor dem Tintenfaß in Gestalt des Frauenschuhs.
»Leichenschändung!« ruft er. »Ein ruchloser Anschlag auf die Ruhe der Toten! . . .« Plötzlich wendet er sich schroff Gawrilo zu: »Und das nennst du einen Gewissenszweifel? Zeitungen liest du? Vom neuen Geist läßt du dich verführen? Sprich, Vermaledeiter, sofort: welchen Apostel haben wir heute?«
Gawrilo verwandelt sich in eine Salzsäule.
»Aha! Das weißt du nicht? Und hast ihn doch heute erst selbst vorgesungen! Und vom Engländer hast du wann die Weisheit aufgegabelt?«
»O, schon lange her, Vater Oberpriester . . .« verteidigt sich der unglückliche Gawrilo. »Das habe ich noch in Poltawa gelesen, Vater Oberpriester . . .«
»Soso! Schau, schau! Noch in Poltawa. Und doch weißt du's genau. Den heutigen Apostel aber hast du bereits total vergessen. Derart hat dich also der Böse umgarnt, derart hat er deinen Geist verwirrt . . . Warte, warte, das melden wir Stepan Jakowlewitsch. Wirst deine drei Stündlein im Karzer brummen, dann kommt dir vielleicht die Besinnung wieder, du Leichenschänder! . . .«
Mein Gawrilo blickt sich traurig und hilflos um und läßt sich auf seine Bank nieder, als versänke er in einen Pfuhl. Die Glocke läutet unterdes . . . Doch lange noch wird ihn der Vater Oberpriester im Unterricht mit dem unseligen Engländer hänseln.
Nur einer Unterhaltung mit unserem Religionslehrer entsinne ich mich, bei der sowohl wir wie er aufrichtiger waren. Die Rede kam auf die »allein seligmachende Kirche«. Einer von uns hatte die Frage gestellt: ob es wahr sei, daß man nur im Schoße der griechisch-orthodoxen Kirche selig werden könne, während die ganze übrige Menschheit, die von der Kirche nichts weiß, oder aber anderen Konfessionen ihrer Vorväter treu bleibt, die ewige Verdammnis zu gewärtigen habe. Die griechische Kirche kennt das Fegefeuer nicht, wie dies bei der katholischen der Fall ist, jene Verdammnis ist deshalb eine unwiderrufliche, in alle Ewigkeit fortwirkende. Unser Pope erörterte die Frage vom akademischen Standpunkt des Langen und Breiten, führte alle einschlägigen Zitate an, allein . . . die Erklärung brachte diesmal die Klasse nicht zum Stillschweigen, das er für das Zeichen unseres Einverständnisses zu nehmen pflegte. Wir bezweifelten nicht, daß seine Zitate richtig angebracht und ausgelegt waren, doch unser unmittelbares Gefühl sträubte sich entschieden gegen diese »richtige Auslegung«. Unsere katholischen Schulkameraden, die glaubten, daß der heilige Geist vom Vater und Sohn herrühre, und die sich mit allen fünf Fingern bekreuzten, der Vater meines Kollegen Kroll, ein Lutheraner, der weder heilige noch Heiligenbilder anerkannte und sich gar nicht bekreuzte, die Millionen Menschen, die überhaupt noch nie vom christlichen Glaubensbekenntnis etwas gehört hatten, – all dies erstand lebendig, in voller Greifbarkeit vor uns, und wir verteidigten unsere Verwandten vor den ewigen Qualen, zu denen sie nur deshalb verdammt werden sollten, weil sie in dem Glaubenssymbol ein Wort anders setzten oder die Finger anders zusammenlegten als wir . . . Und die Heiden, die noch nie von Christus gehört hatten und doch ihr Leben für ihre Nächsten opferten? . . .
Frage auf Frage, Einwendung auf Einwendung flogen hinüber und herüber zwischen Bänken und Katheder. Der Geistliche hatte alle seine Zitate erschöpft und nahm endlich, als er sah, daß sie dem Ansturm der Entgegnungen nicht stand hielten, Zuflucht zum letzten Argument. Er setzte eine strenge Miene auf, schob das Journal zu sich heran, zum Zeichen, daß die Unterhaltung beendet sei, und sagte:
»So lehrt die heilige Kirche, und wir müssen als ihre Kinder unsere fürwitzigen Klügeleien ihrer Mutterstimme unterordnen und sollte dies auch . . .«
Hier schloß er die Augen, seufzte, wie vor Bedauern, das harte Urteil fällen zu müssen, und fügte mit eigentümlicher dekorativer Demut hinzu:
». . . und sollte dies auch unserem inneren Gefühl widerstreben . . . Nehmen wir den Unterricht wieder auf.«
»Er glaubt selbst nicht daran,« flüsterte mir Kroll zu. Ich hatte bei mir dasselbe gedacht.
Kurze Zeit darauf ging ich einmal aus der Kirche zusammen mit meinem Kollegen Gluschkow. Er war um eine Klasse höher als ich, wir hielten aber gute Freundschaft miteinander und pflegten uns häufig über verschiedene abstrakte Materien zu unterhalten. Auch diesmal waren wir, statt uns nach Hause zu begeben, unversehens in eine leere mit Pappeln bepflanzte Straße eingebogen und schlenderten aufs Feld hinaus. Es war ein milder Herbsttag. Von den Pappeln lösten sich lautlos gelbe Blätter, kreisten in der Luft und betteten sich weich auf der Erde. Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhalten hatten. Gluschkow war der Sohn eines Ukrainers und Beamten, seine Mutter aber war eine Engländerin. Er hatte rotes Haar, war sehr empfindsam, bald schüchtern, bald schroff, doch stets aufrichtig und ernst. Außerdem waren wir beide Kollegen noch von Schitomir her, und er hatte mich erst bei der Übersiedlung nach Rowno um eine Klasse überholt. Die gemeinsame Übersiedlung in einen fremden Ort näherte uns einander noch mehr an. Nun kamen wir – ich weiß nicht wie – auf die Religion zu sprechen, und Gluschkow blieb plötzlich am Anfang eines Feldweges, der zum Fluß hinunterführte, stehen.
»Bist du gläubig?« fragte er mich.
»Ja freilich,« antwortete ich mit Überzeugung, »ich bin gläubig.«
»Ich auch. Aber . . . glaubst du denn alles?« fragte er wieder.
»N–ein,« antwortete ich zögernd, wobei ich selbst zum erstenmal innerlich das Inventar meines religiösen Glaubens aufnahm. »Ich glaube . . . an Gott . . . an Christus . . . Aber . . . an die ewige Verdammnis kann ich nicht glauben.«
»Ich auch nicht,« sagte mein Freund abermals.
Der Absturz hatte somit schon mehr mitgerissen, als wogegen die erste Woge anprallte: den ersten Zweifel hatte in mir lediglich die ewige Verdammnis als Strafe für Andersgläubige wachgerufen. Jetzt war ich schon mit dem Glauben an die ewige Verdammnis überhaupt fertig . . .