Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen Zweiter Band
Wladimir Korolenko

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Balmaschewski.

An Stelle Awdjews wurde Sergius Timofejewitsch Balmaschewski bestimmt. Dies war ein langstieliger, schmächtiger junger Mann, mit ein wenig eingesunkener Brust und krummem Rücken. Er hatte ein sympathisches, gutmütiges, lächelndes Gesicht, das jedoch durch kurzsichtige, rotgeränderte und geschwollene Augen entstellt war. Man sagte, er habe während seiner Studienzeit furchtbar viel gearbeitet, davon wäre sein Rücken gebeugt, die Brust eingesunken und die Augen von Gerstenkörnern befallen, die nicht mehr schwinden wollten.

Der neue Professor war ohne jeden Glanz. Die Gedanken, die während der Unterrichtsstunden Awdjews in uns fortwährend aufleuchteten, waren nunmehr erloschen. Balmaschewski erläuterte gewissenhaft: das Werk soundso zerfalle in soundsoviele Teile; im ersten Teil oder Vorwort werde das und das behandelt, wobei der Verfasser den und den bemerkenswerten Vergleich heranziehe usw. Die »Literatur« wurde für uns bloß wieder – ein Lehrgegenstand. Das Licht, das von ihr erst vor kurzem nach allen Seiten ausstrahlte, war ausgegangen. Der Brennpunkt, um den sich die Empfindungen und Gedanken der Jugend im Realgymnasium von Rowno sammeln konnten, war nicht mehr. Wieder vernahm man über dem Stimmenchor der mittleren Register nur die schrillen Schreie des rotgelben Papageies.

Bald ereignete sich übrigens ein Zwischenfall, der den neuen Literaturprofessor in unseren Augen bedeutend hob.

Gawrilo Kajdanow, der nach Awdjews Abgang schließlich doch aufs Gymnasium getreten war, besuchte mich oft, und wir führten in der langen winterlichen Abenddämmerung, auf meinem Bett ausgestreckt, mit leiser Stimme unendliche Unterhaltungen. Zuweilen summte er mir Lieder vor, die er mit Awdjew gesungen hatte. In der Dunkelheit tönte neben mir nur die gedämpfte Baßstimme, in meiner Einbildung jedoch klang hoch über ihr der samtene Bariton mit, der so frei die hohen Noten erklimmen konnte. Und die Dämmerung füllte sich für mich mit Bildern, die zum Greifen lebendig waren . . .

Einmal wurden bei uns zwei oder drei mittellose Schüler wegen Nichtentrichtung des Schulgeldes ausgeschlossen. Gawrilo und ich gingen gerade sorglos in die Schule, als wir einem der Ausgestoßenen begegneten, der eben heimgeschickt worden war. Auf unsere Frage, weshalb er knapp vor dem Unterricht den Heimweg antrete, wendete er sich finster ab. In seinen Augen standen Tränen . . .

Am gleichen Tage kam Gawrilo nach der Schule zu mir, und wir arbeiteten nach reiflicher Überlegung einen Plan aus: es wurde beschlossen, den täglichen Verzehr der Schüler an Backwerk in der großen Pause mit einer Steuer zu belegen. Wir machten einen ungefähren Überschlag und fanden, daß bei einiger Energie im Eintreiben der Steuer die erforderliche Summe sehr bald zusammengebracht werden konnte. Ich verfaßte eine Art kurzen Aufruf, den wir beide in mehreren Exemplaren abschrieben und in den verschiedenen Klassen zirkulieren ließen. Der Aufruf hatte Erfolg, und am nächsten Tage bereits installierte sich Gawrilo in der großen Pause mit ernstester Miene vor dem Eingang, neben der Jüdin Sura und den anderen Verkäufern von Backwerk, Wurst und Äpfeln und meldete bei jedem Einkauf seine Forderungen.

»Zwei Stück Kuchen . . .« »gib eine Kopeke.« »Was hast du da?« »Wurst für drei Kopeken,« »du gibst auch eine Kopeke . . .«

Die Sache kam in Fluß. Manche kauften sich gleich für mehrere Tage los, und wir überlegten schon, ab wir nicht eine ordentliche Buchführung über die Einnahmen anlegen sollten, als unsere Finanzoperationen das Augenmerk des Pedells Ditjatkiewitsch auf sich zogen.

»Was ist das? Was treibt ihr da?«

Im Bewußtsein unseres guten Gewissens setzten wir ihm offen unseren Plan und dessen Zweck auseinander. Der etwas verdutzte Didonus humpelte schnurstracks zum Direktor.

Dolgonogow war damals nicht mehr bei uns. Er wurde bald nach Awdjews Abgang versetzt, und auf den Posten des Direktors war der frühere Inspektor Stepan Jakowlewitsch befördert.

Nach einigen Minuten erschien der Didonus mit aufgeregter, triumphierender und schadenfroher Miene wieder. Das ganze Sinnen und Trachten des Mannes war längst und restlos in seinen Schnüfflerinstinkten aufgegangen. Als er uns bei unserem so ungewöhnlichen Treiben ertappte, litt er im ersten Moment unter der Ungewißheit, ob dies Treiben verbrecherischer Natur sei oder nicht, und denunzierte uns auf jeden Fall eiligst dem Direktor. Nun ihm von diesem die Erleuchtung ward, daß wir uns eines höchst verwerflichen Tuns schuldig gemacht hätten, schleppte er uns durch die lärmende Schülermenge, die er nach rechts und links auseinanderstieß, frohlockend ins Bureau.

Stepan Jakowlewitsch, der steif mit vorgestreckter Brust auf seinem Stuhle dasaß, maß uns erst von Kopf bis Fuß mit dem Blick, ließ uns eine halbe Minute in banger Erwartung der kommenden Explosion zappeln und stieß dann mit tiefer, heiserer Stimme hervor:

»Was habt ihr angezettelt? Proklamationen? . . . Geheime, gesetzwidrige Sammlungen zu unbekannten Zwecken? . . .«

»Stepan Jakowlewitsch, wir . . .« begann der erstaunte Gawrilo, aber der Direktor warf ihm einen vernichtenden Blick zu und rief:

»Schweigen! . . . Ich sage: gehei–me Sammlungen, denn ihr habt darüber mir, eurem Direktor, keine Mitteilung gemacht . . . Ich sage: gesetzwidrige Sammlungen, denn . . .«

Er reckte sich auf seinem Stuhl in die Höhe und fuhr feierlich fort:

»denn die Be–steuer–ung der Bevölkerung gehört ausschließlich zur Kompetenz des Staatsrats . . . Wißt ihr, daß, wenn ich diese Affäre auf den Instanzenweg verweisen wollte, man euch beide nicht allein vom Gymnasium verjagen, sondern auch . . . den Gerichten überantworten würde?«

Die hübschen Augen Gawrilos erstarrten in grenzenlosem, fast übernatürlichem Staunen. Auch ich war über diese unerwartete Wendung perplex, obwohl ich dunkel fühlte, daß die Steuerhoheit des Staatsrates mit unserer Unternehmung nichts zu schaffen hatte.

In diesem Moment fiel mein Blick zufällig auf den gleichfalls im Bureau anwesenden Balmaschewski, der gleich zu Anfang der Szene nähergetreten war und jetzt am Tisch stehend in einer Revue blätterte. Auf seinen Lippen spielte ein feines Lächeln, die Augen waren, wie immer, von den schweren geschwollenen Lidern halb verdeckt, ich konnte aber in seinem Gesicht deutlich die Sympathie und Ermunterung für uns lesen. Stepan Jakowlewitsch ließ denn auch in seinem Ton nach und schloß:

»Einstweilen – marsch in die Klasse!«

Am gleichen Tage rief mich Balmaschewski am Ausgang der Schule heran und sagte lächelnd:

»Na, schöne Kopfwäsche abgekriegt? Nun, nun, macht nichts! Die Sache wird natürlich gar keine Folgen haben. Ihr habt das Ding aber wirklich nicht richtig angefaßt, Herrschaften. Kommt mal beide heute zu mir . . .«

Abends gingen Gawrilo und ich zu ihm hin. Er nahm uns in seinem bescheidenen Junggesellenheim schlicht und freundlich auf und setzte uns seinen Plan auseinander, wir sollten Tatsachen und Fälle äußerster Bedürftigkeit unter unseren Kameraden sammeln und eine Eingabe an den pädagogischen Rat entwerfen. Er, Balmaschewski, wollte sie in seinem Namen einreichen, worauf die Professoren das Statut für einen »Unterstützungsverein der Schuljugend der Stadt Rowno« ausarbeiten würden.

Wir verließen ihn an jenem Abend gerührten und dankbaren Herzens.

»Ein Awdjew ist er nicht, aber doch ein lieber Kerl,« meinte auf der Straße mein Freund. »Und weißt du, er singt auch gar nicht übel. Ich habe ihn am Geburtstage bei Tyß gehört.«

Die Eingabe wurde ausgefertigt. Diese erste literarische Frucht in amtlicher Sprache hat mich sauren Schweiß gekostet, und Balmaschewski mußte seine bessernde Hand anlegen. Die jungen Professoren nahmen sich der Sache an, und der Entwurf des Statutes wurde ans Ministerium abgesandt, inzwischen aber kam eine einmalige Sammlung zustande und das Schulgeld für die Relegierten wurde bezahlt. Infolge der üblichen Verschleppungen war das Statut glücklich nach drei Jahren genehmigt, als weder Gawrilo noch ich, noch auch Balmaschewski mehr in Rowno waren. Dach habe ich nach Beendigung des Gymnasiums dem jungen glanzlosen Professor mit der eingefallenen Brust und vor Überarbeitung geschwollenen Augen ein gutes, warmes Andenken bewahrt.

Es vergingen noch zehn Jahre. Das »System« des reaktionären Kurses hatte sich endgültig herauskristallisiert. Im Jahre 1888 oder 1889 erschien das berüchtigte Zirkular des Unterrichtsministeriums über die »Kinder von Köchinnen und dergleichen«, für die auf dem Gymnasium kein Platz sei. Von den Schuldirektoren wurde eine spezielle Statistik über den Vermögensstand der Eltern der lernenden Jugend eingefordert, über die Zahl der von ihnen bewohnten Stuben, die Zahl der Dienstboten usw. Selbst in jener finsteren und gedrückten Zeit rief dieses Zirkular des übergeschnappten altersschwachen Deljanow, der sich gar zu eifrig bei irgendwem lieb Kind machen wollte und durch seine Tapsigkeit das ganze »System« aufs schwerste bloßstellte, allgemeine Entrüstung hervor. Nicht einmal alle Direktoren kamen dem Befehl betreffend statistische Ermittelungen nach. Das Publikum aber fiel, wo es konnte, über die Beamten her, die den verhaßten Uniformrock des Unterrichtsministeriums trugen; selbst auf der Straße bekamen sie häufig die allgemeine Empörung zu fühlen . . .

Um jene Zeit hatte ich einmal in einer Stadt Südrußlands zu tun. Plötzlich hörte ich im Gespräch zufällig einen mir wohlbekannten Namen nennen. Es zeigte sich, daß Balmaschewski in der nämlichen Stadt Direktor des Gymnasiums war. Mir stiegen sofort Erinnerungen an Gawrilos und meinen einstigen Eingriff in die Steuerhoheit des Staatsrats auf, an die sympathische Einmischung Balmaschewskis, und ich bekam Lust, ihn aufzusuchen. Allein meine Bekannten, denen ich jene Episode erzählte, äußerten Zweifel: »Nein, unmöglich! Das ist sicher ein anderer!«

Es erwies sich, daß dies doch derselbe Balmaschewski war, der aber jetzt . . . das berüchtigte Zirkular nicht bloß formell befolgte, sondern dabei den größten Feuereifer entwickelte. Er zitierte die Schulkinder vor sich, fragte sie aus, notierte gewissenhaft »die Zahl der Wohnstuben« auf, die Zahl der Dienstboten usw. Die Buben gingen aus solchen Verhören ganz verstört, mit Tränen in den Äugen und bösen Ahnungen im Herzen heim. Der dienstbeflissene Direktor zitierte darauf auch die mittellosen Eltern zu sich und suchte ihnen in Gemäßheit des genauen Textes des ministeriellen Zirkulars klar zu machen, daß die Erziehung ihrer Kinder in den Mittelschulen für sie beschwerlich und unzweckmäßig sei . . . In der Stadt war auch der folgende bezeichnende Ausspruch desselben Balmaschewski im Umlauf:

»Ja, was wollen Sie denn von mir? Ich bin Beamter. Befiehlt man mir, jeden zehnten Schüler zu hängen, so tu ich's, Sie können darauf Gift nehmen. Wie erlegte Hasen werden sie alle hübsch in der Reihe bammeln. Paßt Ihnen das nicht, dann wenden Sie sich gefälligst an die Obrigkeit . . .«

Mir kam wieder der Turgenjewsche Mardarij in den Sinn.

Die Leute vom Typus Balmaschewskis sind natürlich auch keine Ungeheuer. Auch sie haben ihren Lebensweg sicher mit warmfühlenden Herzen in der Brust begonnen, wäre die Herzenswärme amtlich erforderlich, wäre sie ermuntert oder auch nur geduldet worden, dann hätten sie sie sorgfältig in ihrem Innern gehegt und gepflegt. Doch die grausame finstere Schulzucht jener Zeit erforderte von den Erziehern der Jugend eine ganz andere geistige Veranlagung, ja, sie trieb jahrzehntelang eine systematische Zuchtwahl . . .

Der diensteifrige Balmaschewski hat Karriere gemacht, während Awdjew irgendwo in der Grenzmark als unbekannter Gymnasialprofessor gestorben ist . . .


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