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Ich mag in der fünften Klasse gewesen sein, als bei uns auf einmal mehrere neue Professoren auf der Bildfläche erschienen, die ihr eigenes Gymnasialstudium unter der Amtswaltung des Kurators Pirogow absolviert hatten und eben von der Universität kamen.
Als einer der ersten erschien Wladimir Wassiljewitsch Ignatowitsch, Professor der Chemie, auf dem Plan. Das war ein kleinwüchsiger Jüngling, frischweg von der Universitätsbank, mit schüchtern hervorsprießendem Bartwuchs, rosigen Pausbäckchen und einer goldenen Brille. Es gab unter uns Burschen, die erwachsener aussahen als dieser Herr Professor. Dazu hatte er ein dünnes Stimmchen, in dem mitunter fast noch knabenhafte Noten klangen. In der Klasse fühlte er sich ein wenig unsicher und errötete bei jeder Gelegenheit. Er behandelte uns freundlich, erteilte den Unterricht mit Sorgfalt, verhörte selten die Aufgaben, zeigte den Noten gegenüber die größte Geringschätzung und erläuterte seinen Gegenstand etwa in der Art, wie ein Universitätsprofessor Vorlesungen hält, was übrigens zu dem zarten Jünglingsorgan gar schlecht paßte. Man empfand unwillkürlich den Wunsch, daß er wenigstens um eine Note tiefer und kräftiger greifen möchte.
Das erste Ergebnis dieses pädagogischen Systems war, daß die Klasse fast zu lernen aufhörte, das zweite, daß sie anfing, mit dem Professor ein wenig grob zu werden. Der arme Jüngling, der voller idealer Erwartungen an uns herantrat, mußte für die Sünden des allgemeinen Schulsystems büßen, das in uns Grobheit und Zynismus großzog.
Das dauerte übrigens nicht lange. Einmal, als die Klasse besonders unverschämt lärmte, und Ignatowitsch vergeblich sein weiches Organ anstrengte, um sich Gehör zu verschaffen, wollte einer von den Schülern gehört haben, daß er uns eine Hammelherde genannt habe. Andere Professoren bedachten uns freilich gar nicht selten mit solchen und noch feineren Schmeicheleien, doch das waren eben andere. Es gehörte zum gewohnten Trott der Schule, daß die Professoren uns gegenüber grob waren, und daß wir uns dies ruhig gefallen ließen. Ignatowitsch hingegen hatte uns selbst durch anders geartete Behandlung verwöhnt. Einer der Schüler, Sarutzki, ein im Grunde braver, nur leicht erregbarer Bursche, erhob sich mitten in der lärmenden Klasse.
»Herr Professor,« rief er mit puterrotem und frechem Gesicht, »Sie haben sich, glaub ich, dahin geäußert, daß wir eine Hammelherde seien . . . Gestatten Sie, Ihnen darauf zu erwidern, daß alsdann . . .«
In der Klasse wurde es plötzlich so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören.
»Daß . . . Sie alsdann . . . selbst ein Hammel sind . . .«
Das Reagenzgläschen, das Ignatowitsch zwischen den Fingern hielt, erzitterte kläglich und schlug an die Retorte an. Das Blut schoß ihm in die Wangen, und sein Gesicht zuckte vor Ärger und Kränkung zusammen. Im ersten Augenblick war er offenbar ganz verwirrt, dann sagte er mit einiger Fassung:
»Ich habe mich nicht so ausgedrückt. Sie irren sich.«
Die einfache Antwort verblüffte uns. In der Klasse erhob sich ein Gemurmel, dessen Sinn zunächst unklar war, in diesem Augenblick ertönte aber die Glocke.
Der junge Professor verließ das Klassenzimmer, und die Schüler drängten sich aufgeregt um Sarutzki. Dieser stand da und blickte verstockt zu Boden. Er fühlte wohl, daß er die Stimmung der Masse diesmal nicht auf seiner Seite hatte. Im allgemeinen galt es für eine Heldentat, dem Professor eine Impertinenz zu sagen, und hätte Sarutzki einen der »Alten«, etwa den Krantz oder Samarewitsch oder Jegorow, ebenso dreist ins Gesicht einen Hammel genannt, so wäre er zwar vom pädagogischen Rat todsicher von der Schule verjagt, von der Klasse aber ebenso sicher als Märtyrer gefeiert worden. Jetzt fühlten sich alle unbehaglich.
»Eine Gemeinheit war's,« sagte jemand.
»Mag er sich doch beim pädagogischen Rat beschweren,« antwortete Sarutzki finster.
Für ihn war die Aussicht auf eine Beschwerde eine moralische Genugtuung. Durch einen solchen Schritt hätte sich der neue Professor sofort auf eine Stufe mit den alten gestellt und den rohen Exzeß nachträglich gerechtfertigt.
»Das tut er schon, paß auf . . .«
»Freilich tut er's. Meinst, er läßt sich's gefallen?«
»Nein, er tut's nicht!«
»Doch, doch, er tut's . . .«
Um dieses Hin- und Herraten drehten sich in den nächsten Tagen unsere Unterhaltungen. Zwei Tage vergingen jedoch, ohne daß man von einer Beschwerde zu hören bekam. Wäre eine solche erfolgt, dann hätte Sarutzki vor allem von dem Inspektor Ruschtschewitsch die obligate donnernde Strafpredigt über sich ergehen lassen müssen oder wäre sogar direkt bis zur Entscheidung des pädagogischen Rats heimgeschickt worden. Wir warteten ab. Der Tag der Ratssitzung verstrich, auf eine Beschwerde ließ nichts schließen.
Dann kam wieder der Chemieunterricht. Ignatowitsch erschien ein wenig aufgeregt, mit ernstem Gesicht, sein Blick senkte sich häufiger als sonst, und die Stimme versagte ihm mitunter. Er suchte sichtlich der peinlichen Situation Herr zu werden, ohne sicher zu sein, ob ihm dies gelingen würde. Aus dem Ernst des Professors blickte noch die frische Kränkung des Jünglings durch, und der Unterricht nahm inmitten einer drückenden Spannung seinen Fortgang.
Nach zehn Minuten erhob sich finster Sarutzki. Es war, als höbe er auf seinen Schultern eine Last, die die ganze Klasse bedrückte.
»Herr Professor,« sagte er mit Anstrengung, inmitten allgemeinen Schweigens. Die Augenlider des Professors zuckten hinter seinen Brillengläsern, und brennende Röte schoß ihm ins Gesicht. Die Spannung in der Klasse erreichte ihren Höhepunkt.
»Ich habe das vorige Mal« . . . begann Sarutzki mit dumpfer Stimme, dann setzte er mit plötzlicher Schärfe hinzu:
»Ich bitte um Verzeihung.« worauf er sich mit einer Miene niedersetzte, als hätte er eine neue Impertinenz gesagt. Das Gesicht Ignatowitschs hellte sich auf, obwohl er über und über rot wurde. Er erwiderte einfach und ungezwungen:
»Ich habe ja bereits einmal gesagt, meine Herren, daß ich den Ausdruck Hammel gar nicht gebraucht habe.«
Der Zwischenfall war erledigt. Zum erstenmal geschah es, daß ein derartiger Konflikt in dieser Weise beigelegt ward. Der neue Professor hatte die Probe bestanden, wir waren zufrieden sowohl mit ihm wie – fast unbewußt – mit uns selber, denn es begab sich gleichfalls zum erstenmal, daß wir die Schwäche dieses Jüngling nicht mißbraucht hatten, wie wir dies einem der »Alten« gegenüber sicher getan haben würden. Die Episode selbst war bald vergessen, dafür war irgendein unsichtbarer Faden eigenartiger Sympathie geblieben, der sich zwischen dem neuen Professor und der Klasse angesponnen hatte.
Bald darauf verreiste Ignatowitsch auf Urlaub und brachte vierzehn Tage später eine ganz junge Gattin mit heim. Im zweiten Hof des Gymnasiums stand ein einstöckiges Gebäude, dessen eine Hälfte das chemische Laboratorium einnahm. Die andere Hälfte stand leer und darin hauste der Pförtner, der sich selbst einen »Labrador« nannte (von »Labradorium«, wie er das seiner Obhut anvertraute Institut getauft hatte). Jetzt wurde diese leere Hälfte instand gesetzt und dem Chemieprofessor als Dienstwohnung angewiesen, hier schlug denn das junge Paar seine Zelte auf.
Frau Ignatowitsch, ein ganz schmächtiges Persönchen von matter Gesichtsfarbe, um einen Kopf größer als ihr Gatte, war nicht eigentlich hübsch zu nennen. Für uns Jungens hatte sie jedoch etwas ungemein Anziehendes, richtiger: es lag etwas sehr Anziehendes in ihnen beiden zusammen, auch in dem Umstand, daß sie ihr Nestchen gerade inmitten des Wirrwarrs und Lärms des Schulgetriebes errichtet hatten. In jeder Pause stürmten truppweise durch den Hof die Rangen, die sich an ein Örtchen begaben, wo man riskieren konnte, insgeheim ein paarmal an einer Zigarette zu saugen. Mit dem Glockenschlag stürmte die ganze Bande wieder zurück, prallte gegeneinander, stürzte zu Boden, johlte, veranstaltete schnell einmal eine Balgerei. Manchmal wurde während der großen Pause im zweiten Hof Ball gespielt, dann stießen die Pennäler einander mit den Ellbogen an, um auf das dunkle Gesichtchen zu weisen, das hin und wieder hinter den Fensterscheiben auftauchte. Einige der älteren Schüler waren sogar schon respektvoll in die Frau Professor verliebt, und aus dem gegenüberliegenden Schülerpensionat, dessen oberstes Stockwerk über die Hofmauer des Gymnasiums ragte, richteten sich mitunter auf das Laboratorium spähende Operngläser. Zuweilen passierte es, daß der brodelnde Pennälerstrom, der sich nach Schluß des Unterrichts in die Eingangspforte zu ergießen pflegte, plötzlich stockte, um eine schlanke Gestalt durchzulassen, die mit freundlichem Lächeln durch die Menge schritt, wobei diejenigen, denen sie wie Bekannten mit dem Köpfchen zunickte, sich geschmeichelt und beglückt fühlten. Manchmal lud Ignatowitsch diesen oder jenen von uns zu sich ins Haus. Dann erschien auch seine Frau, machte mit dem Gast Bekanntschaft, plauderte, fragte dies und jenes. Mit dem Unterricht hatte dies natürlich nichts zu tun, dennoch lag darin etwas Schönes und Warmes, was auf uns lose Bande schon dadurch wirkte, daß der jugendliche Professor für uns nicht lediglich eine Maschine zum Einpauken, sondern auch ein Mensch war, an dessen bescheidenem Glück wir gewissermaßen teilnehmen durften.
Ich hatte zuerst die Chemie ganz links liegen lassen, doch schon in den ersten Ferien ging ich mit solchem Eifer ans Ochsen, daß ich bald das ganze Lehrbuch von Würtz auswendig wußte. Ich pflegte nämlich von Zeit zu Zeit bei Ignatowitsch vorzusprechen, und ich mochte nicht riskieren, daß mich Maria Stepanowna etwa bei der Begegnung fragte:
»Sie lernen die Chemie nicht? Warum denn? Mögen Sie sie nicht? ja?«
Gleichzeitig mit Ignatowitsch war Komarow, ein »ukrainophylischer Ethnograph« auf der Bildfläche erschienen. Es war uns nicht sehr klar, was jene »ethnographischen Untersuchungen« eigentlich zu bedeuten hatten, wir vermuteten jedoch, daß es jedenfalls Bestrebungen höherer Art sein mochten, die über den Rahmen offizieller Paukerei hinausgingen.
Noch zwei drei junge Professoren waren da, die mir nicht näher bekannt waren. Im ganzen fühlte man, daß eine neue Generation in der Schule Fuß gefaßt hatte, wodurch sich der allgemeine Ton etwas hob. Dieser und jener von den besseren Alten, der sich bis dahin vereinsamt fühlte, lebte jetzt auf, und wir fingen von Zeit zu Zeit das Echo von Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen im Schoße des pädagogischen Rates auf.
Dann trat ein Mann auf, bei dessen Erinnerung ich länger verweilen möchte.