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Frau von Stael sagt irgendwo: Sur notre vieille terre il faut du passé. (Auf unserer alten Erde bedarf man etwas der Vergangenheit.) Von dem Grund und Boden, auf dem jetzt Bremerhaven erbaut ist, meldet indessen die Geschichte nichts, als dass die Schweden, (1673) beim Ausfluss der Geeste, eine kleine Stunde von Lehe, eine Vestung anlegen liessen, um welche zugleich eine Handelsstadt sich bilden sollte. Der Ort hiess Karlsburg, oder Karlsstadt. Der Schwedische Oberste Melle legte zehn Bollwerke an und König Karl IX. stellte den künftigen Bürgern die Zusicherung bedeutender Vorrechte aus. Schon zwei Jahre nach ihrer Entstehung wurde die Vestung von den damals einbrechenden verbündeten Feinden zur See und zu Lande belagert und ging wegen Mangel an Holz, Salz und Leuten verloren. Ein Uebelstand bei der Anlage war es gewesen, dass leicht Mangel an Wasser entstehen konnte, da die Weser hier schon Brakwasser (süsses mit salzigem gemischtes) führt. Zudem konnte die Vestung von der Südseite bestrichen werden. Gleich darauf ward die Vestung geschleift; die wenigen bürgerlichen Häuser wurden abgebrochen und Gerichtshaus und Schule zu Lehe wurden davon erbaut. Eine Schanze blieb noch, welche aber später besonders durch die Wasserfluth 1717 zerstört ist, und der Strom hat seitdem an völliger Vertilgung der Karlsburg gearbeitet. Karl XII. hatte bei seinem Regierungsantritt noch den Plan gehabt die Vestung wieder aufzubauen, ( cf. Geschichte und Landesbeschreibung der Herzogthümer Bremen und Verden, von Peter von Kobbe.)
Einer Sage zufolge soll der Rath von Bremen, als die Schweden hier eine Burg anlegen wollten, einen Spuk veranstaltet haben, der die gläubigen Schweden vermocht haben soll, von ihrem Plane abzustehen. Es soll ein Annotationsbuch eines Schwedischen Unteroffiziers existiren, welcher der Zeit den Bau leitete, und täglich, was passirte niederschrieb, und darin soll stehen: »Diese Nacht zeigten sich wieder Geister (oder Gespenster), so dass die Posten es verlaufen mussten.« Angeblich ergiebt sich aus den Rathsrechnungen jener Zeit, dass die Gespenster von Bremen für jene Rolle bezahlt sind.
Der Umstand, dass der ganze Seehandel der freien Hansestadt Bremen seit dem Amerikanischen Kriege die veränderte Gestalt dahin angenommen hatte, dass die transatlantische Richtung desselben in den Vordergrund getreten war, wodurch denn ein bedeutender Theil aller früheren nur auf den Betrieb Europäischer Seeschifffahrt berechneten Hülfsanstalten desselben mangelhaft und für das vermehrte Bedürfniss unzureichend erscheinen musste, so wie die jährlich zunehmende Versandung der Weser, hatten schon seit mehren Jahren in Bremen die Gründung einer neuen Schiffs- und Havenanstalt wünschenswerth gemacht, zu deren Anlegung sie freilich eines Territorii im Oldenburgischen oder Hannoverschen bedurften. Wollen gleich Sachverständige behaupten, dass eine desfallsige Verständigung mit Oldenburg noch mit mehr Vortheilen für Bremen hätte verbunden werden können, da am linken Weserufer die etwaige Verschlammung des Flusses durch Anlegung von Kanälen im Oldenburgischen Stedingerlande unschädlicher gemacht werden, auch der Transithandel leichter durch das Oldenburgische als von jenseits der Weser in das Innere von Deutschland geführt werden kann, so hätte ein solches Project doch schwerlich bei dem damaligen Herzog Peter von Oldenburg Eingang gefunden. Bremen unterhandelte deshalb mit Hannover, als mit dem mächtigsten angränzenden Staate, dessen Bedürfnissen, so weit es derselbe von einer eignen grossen Seehandelsstadt zu erwarten berechtigt war, es vollkommen zu entsprechen schien.
Das Gebiet des Amtes Bremerhaven wurde demnächst in Folge eines Staatsvertrages zwischen der Krone Hannover und der freien Hansestadt Bremen vom 11. Januar 1827, dessen Ratificationsurkunden am 10. April desselben Jahres ausgewechselt wurden, acquirirt. Der Uebergang des Bremerhaven-Districts geschah am 1. Mai 1827. Die Grösse des abgetretenen Gebiets beträgt im Ganzen 357 Morgen 3 Quadratruthen 29 Quadratfuss Kalenberger Maass, wofür Bremen im Ganzen die Summe von 77,200 Thalern 40 ¾ Grote in Golde bezahlte. Die Hannoveraner haben sich die Hoheit in Bremerhaven, namentlich die Militärgewalt vorbehalten, deren Ausfluss auch das Recht der Conscription ist. Allein Bremen verliert dadurch wenig, weil es im Fall eines allgemeinen Krieges zur Selbstverteidigung von Bremerhaven unfähig sein würde. Die übrigen einzelnen Elemente der Hoheit, Gesetzgebung, Steuer, Justiz und Verwaltung hat Bremen, wogegen denn auch viele Vortheile, welche durch die neuerbaute Stadt dem ihr benachbarten Theile des Königreiches Hannover erwachsen, unverkennbar sind. – Vor dem Aussenhafen liegt an der Seite, wo die Geest in die Weser sich mündet, eine Hannöversche Batterie, das Fort Wilhelm, dessen Kanonen die Weser bestreichen. Es hat 14 Kasematten und ist für eben so viele Geschütze eingerichtet, kann in Kriegszeiten 200 Mann fassen, besitzt aber keine brauchbare Cisterne.
Der Boden, erst von Seiten Bremens eingedeichtes, bis dahin als Wiese benutztes, und völlig unbewohntes Marschland, besteht aus sogenannter Kleierde, die zwar wegen des geringen Lehmgehalts zum Ziegelbrennen untauglich befunden ist, doch enthält sie viel Humus, und ist daher äusserst fruchtbar. Beim Ausgraben des Hafenbassins stiess man an einigen Stellen auf sogenannten Knick, eine in der umliegenden Marschgegend hin und wieder vorkommende, aus Lehm und Sand bestehende Erdart von bläulicher Farbe, die selbst mehre Jahre der Luft und dem Frost ausgesetzt, doch alle Vegetation ausschliesst. Eine nähere, nicht uninteressante Kunde des Bodens in einer grösseren Tiefe verschaffte der freilich gänzlich verunglückte Versuch zum Bohren eines artesischen Brunnens, bei welchem man bis auf eine Tiefe von 165 Fuss vordrang. Die ersten 52 Fuss bestanden in Marschboden, zuweilen, besonders nach unten zu, mit etwas Moor vermischt; dann folgten 42 Fuss Triebsand, und unter diesem eine dünne, nur etwa 1 Fuss haltende mit Sand vermischte Moorschicht. Hierauf kamen 18 Fuss Triebsand und darunter eine ähnliche Marschschicht; unter dieser wieder 18 Fuss Triebsand auf einer 5 Fuss starken Schicht Fussgerölle oder Kies liegend, darunter 23 Fuss Triebsand auf einer 2½ Fuss dicken Unterlage von harter Thonerde ruhend, der Triebsand mit kleinen Steinen oder Kies vermischt, folgte. In diese Schicht war man 7½ Fuss tief eingedrungen, als das Springen einer Röhre allen weitern Versuchen ein Ende machte.
Der Bau des Hafens wurde von dem Baurath von Ronzelen, einem Holländer, geleitet, einem ausgezeichnet geschickten Manne, welcher die Wasserbaukunst in seinem Vaterlande theoretisch und praktisch erlernt, daselbst auch schon mehre wichtige Arbeiten ruhmvoll ausgeführt hatte. Schon im Jahre 1826 hatte er das Terrain der alten Karlsstadt, als das günstigste wegen der unmittelbaren Nähe der Weser und Geeste, zur Anlegung eines Hafens ermittelt. Im Jahre 1827 wurde die Arbeit den Mindestfordernden unter Aufsicht des Herrn v. Ronzelen übertragen. Sofort wurde zur Ausführung geschritten und diese mit solcher Energie und Kraftanstrengung durchgeführt, dass das Werk bei einem Personal, das freilich oft 900 bis 1000 Menschen betrug, wobei auch mehre hundert Pferde verwendet wurden, nach Verlauf von reichlich drei Jahren beendigt war.
Manche Schwierigkeit musste bei diesem Bau mit vieler Kraftanstrengung überwunden werden, da der nasse Erdboden die Baugruben der Fundamente schnell wieder mit Wasser füllte, so dass, allein um die Zimmer- und Maurerarbeiten an dem Fundamente der Schleuse im Trocknen ausführen zu können, über zwei Jahre lang täglich 60 Pferde beschäftigt waren, die Wasserpumpen stets in Thätigkeit zu erhalten. Wäre den Unternehmern die Beschaffenheit dieses Terrains von Anfang an genügend bekannt gewesen, würden sie ohne Zweifel, statt dieser kostbaren Vorrichtung mit mehr Vortheil sich einer Dampfpumpen-Maschine bedient haben; dass der Boden aber ganz aufgeschwemmt und mit Wasser gesättigt sei, fand sich erst als man die oben gedachten Versuche zur Anlegung eines artesischen Brunnens machte. Die Moorschichten veranlassten bei dem Bau der Schleuse wiederholt Erdfälle und Ausweichungen der Erdwände in grossem Maassstabe, und es war sehr schwierig, den Schleusenboden gegen das Auftreiben zu schützen, das durch den heftigen Seitendruck veranlasst ward.
Die Schleuse wurde innerhalb des vorhandenen Schutzdeiches angelegt, und, nachdem dies geschehen war, musste noch ein Aussenhafen durch das Watt vom Deiche bis zur Weser, in einer Länge von 900 bis 1000 Fuss gegraben werden. Da das Schlickwatt so weich war, dass man mit Leichtigkeit eine Stange von 20 Fuss Länge mit einer Hand einstecken konnte, mussten die Ufer dieses Aussentiefs mit Faschinen und hölzernen Vorsätzen so weit eingefasst werden, dass sie Erddämme von 10 bis 12 Fuss Höhe tragen konnten. Ungeachtet dieser Vorkehrungen wichen die Ufereinfassungen an manchen Stellen bedeutend aus, welches nicht zu vermeiden war, da das Faschinenbett in der breiartigen Schlickmasse nicht genug verankert werden konnte. Späterhin ist das Erdreich unter den Ufern durch die darauf gelegten Erdwälle so fest geworden, dass die Faschinenwerke in den Bermen weggenommen und statt ihrer, massive Mauern haben aufgeführt werden können, die bei den vorhandenen Schwierigkeiten zwar mit grosser Mühe, aber doch vollständig haben hergestellt werden können und dem Aussenhafen eine dauernde Festigkeit versprechen. Die Steinböschung oder die äussere Bekleidung, die den Aussenhafen vor Beschädigungen von der Weser her schützen muss, ist, obgleich mit grosser Beschwerlichkeit, auf eine äusserst solide Weise mit behauenen Granit- und Sandsteinen ausgelegt und mit Cement ausgefugt; sicher sucht man vergebens am ganzen Nordseeufer, von der Jütschen bis zur Französischen Küste, eine so schöne und dauerhafte Arbeit.
Der Boden der Schleuse wurde 20 Fuss tief unter gewöhnlich hohem Wasser angelegt, und die Mauern derselben sind 13 Fuss über diesem Wasser aufgeführt: sie misst 39 Fuss im Lichten und hat eine Kammer, in der 2 bis 3 Schiffe von der grössten Gattung liegen können.
Da der Aussenhafen vermöge der daselbst statt habenden starken Anschlickung bald verschlammen würde und die erforderliche Tiefe in demselben durch gewöhnliches Baggern nicht würde erhalten werden können, hat der Baurath v Ronzelen es für nöthig gefunden, in dieser Schleuse Fächerthüren Fächerthüren sind zweiflügelige, an einer Drehsäule befestigte Thüren, bei denen der eine Flügel gerade so viel länger ist, dass er bei gleichem Wasserdruck den kürzeren gegen das mit bedeutendem Gefälle durchströmende Wasser schützen kann. anzubringen, um mit Hülfe des zuvor erhöhten Binnenwassers von Zeit zu Zeit einen Spülungsprocess vorzunehmen und dadurch die im Aussenhafen sich lagernden Schlicktheile wegzuschaffen. Diese Einrichtung ist, wie, die Erfahrung gezeigt hat, von grossem Nutzen, nämlich durch eine von dem genialen Ronzelen erfundene Kratzmaschine mit Stromflügeln, die nur während des Spülens in Thätigkeit gesetzt wird und grosse Wirkung thut. –
Der jetzige Ort Bremerhaven erhob sich rasch nach einem regelmässigen Plane. Ursprünglich wurden 250 Anbauplätze, jeder zu 4800 Quadratfuss ausgemessen, von denen jetzt nur noch wenige unbebaut sind, da die Zahl der Einwohner sich schon auf ungefähr 2200 beläuft. An öffentlichen Gebäuden von Bedeutung besitzt Bremerhaven nur das geschmackvolle, am Quai gelegene Bremerhaus, worin sich die Dienstwohnungen des Amtmanns und des Hafenmeisters befinden. Auffallend ist es, dass diese Kolonie des gottesfürchtigen Bremens sich noch keiner Kirche erfreut, und dass die Bremerhavener vorläufig in dem benachbarten Lehe eingepfarrt sind. Die Häuser sind sämmtlich neu erbaut und haben deshalb ein freundliches Aeussere; ihre Grösse richtet sich nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner, im Ganzen bestehen sie häufiger nur aus einem Erdgeschoss als aus mehreren Etagen, fast jedes der bessern besitzt eine gewölbte Cisterne zum Auffangen und Bewahren des Regenwassers, da es bis jetzt noch nicht gelungen ist eine Quelle zum Trinkwasser aufzufinden, und dasselbe von dem eine Viertelstunde entfernten Bremerlehe herbeigeschafft werden muss.
Die Kosten des Bremerhavens betrugen, da derselbe 1832 als vollendet anzusehen war, ungefähr 602,000 Thaler, die ferneren zur Unterhaltung des Hafens verwandten bis zum Jahre 1840 etwa 13,500 Thaler, wogegen die Einnahmen sich in jener Zeit etwa auf 108,000 Thaler beliefen. Die jährlichen Unterhaltungskosten werden mit der Zeit abnehmen, während die Einnahme präsumtiv wenigstens so erwächst, dass die letzte die ersten decken wird.
Das Amt ist ein Untergericht. Seine Competenz in Civilsachen geht bis 300 Thaler, inzwischen kann es Arreste und dergleichen, wegen Gefahr beim Verzuge, zu jeder Summe anlegen. Als Criminalgericht ist das Amt zur Führung aller Untersuchungen berechtigt, kann nur eine Geldstrafe bis zu 50 Thalern und bis zu drei Monat Gefängniss erkennen. Sobald es sich um eine schwerere Strafe handelt, sendet es die zum Urtheil instruirten Acten dem Obergericht in Bremen zur Entscheidung ein.
Bremerhaven liegt übrigens im 26. Grad 15 Min. östlicher Länge und 53. Grad 23 Min. nördlicher Breite nach dem Meridian von Ferro, etwa fünf Meilen von der See mit einer concaven Biegung des Ufers, so dass das Fahrwasser, welches dicht an demselben vorbeiströmt, vorerst eine Verschlammung nicht befürchten lässt. Der Binnenhafen kann etwa 80 bis 100 Seeschiffe fassen, und wird, wie man sagt, eine Vergrösserung desselben beabsichtigt. Er wird, sobald die Dunkelheit eingetreten, durch eine hinreichende Anzahl Laternen beleuchtet, von Wächtern bewacht und durch eine gehörige Anzahl Sprützen vor Feuersgefahr möglich bewahrt. Von dem Marktplatz führt eine von Ronzelen sehr haltbare, auf Holländische Manier angelegte Klinkerchaussee nach der Hannoverschen Gränze.
Wenn übrigens Bremerhaven nur zu oft an die unpoetischen neu erbauten Städte Nordamerika's erinnert, so giebt gerade dieser Umstand, eine solche transatlantische Probestadt in unserm Deutschland zu sehen, dem Ort etwas Piquantes. Fast märchenhaft erscheint uns das Ganze, wie Traum-Gebilde die Abwechselung in dem Leben und Treiben. Und wie sehr sich ein solcher Anblick zu einer romantischen Auffassung eignet, mögen die nachfolgenden Bilder aus der Feder eines bereits verstorbenen Bremer Schriftstellers zeigen.
Auf die Ruhe des Winters, wo es einige Monate bei Stockung der Schifffahrt – der Seele des Ganzen – eintönig dahin geht, folgt im grellsten Contraste mit kaum beginnendem Vor-Frühlinge in steigendem Maasse der lebendigste, vielseitigste Verkehr. Dann eröffnet sich bald wieder die kaum geschlossene Schifffahrt, und wo früher Alles stille Ruhe athmete, beginnt plötzlich ein rüstiges Arbeiten, Rennen und Jagen, Eilen und Hasten, Wagen und Gewinnen, Wogen und Treiben Tag und Nacht; darein erschallt aus hundert Kehlen der taktmässige Gesang beschäftigter Matrosen. – Sie sehnen sich hinaus in ihr Element und putzen ihr schwimmendes Ross, wie zum Jagen das seine ein munterer Reiter. Alles ist nun lebendig geworden, und wir glauben ein ungeheures Uhrwerk vor uns zu haben mit tausend inneren und äusseren Bewegungen, aufgezogen durch irgend einen unsichtbaren Meister.
Bald mischt sich in das geschäftige Getreibe die Ankunft zahlloser Auswanderer, Leute aus den verschiedensten Gegenden, schon nach dem Ausdruck ihrer verbrannten Physiognomien; voll alter Schmerzen und neuer Hoffnungen in den Gesichtern. Männer und Weiber, Kinder und Greise, alle, hinfällige Ur-Mütter und Säuglinge, Fremdlinge jedes Alters und Geschlechts, durchziehen schaarenweise unsere Strassen, oder sie liegen zu Haufen auf den Schiffen im Hafen. Sie scheinen den letzten Eindruck des deutschen Vaterlandes in langen Zügen einschlürfen zu wollen, um lange daran zu zehren; denn auf immer wollen sie es verlassen. Durch Zufall zusammengeführt, fremd einander bisher, verbindet das gleiche Loos der Auswanderung sie Alle zu einer grossen Familie. Welche Bilder treten uns da vor die Augen! Hier ein Jüngling, wie zu den Zeiten der Minnesänger, mit der Cither, auf offner Strasse, rücksichtslos, weil Niemand ihn kennt, um ein Mädchen seiner Wahl werbend, welches schon vor Beginn der Weltfahrt er zur Gefährtin gewinnen möchte; bald mit ihr zusammengeführt, weil die Gemeinsamkeit ihres Schicksals auch diesen Bund vermittelt. Dort eine Gruppe: Vater mit Söhnen und Enkeln. Im Antlitz des Alten der Schmerz eines verlorenen Lebens; ihn trägt und hält nur noch der Ausdruck des frischen Lebensmuths und der Hoffnung seines Sohnes; sein Labsal ist die Unbefangenheit kindlicher Freude und Unschuld im Blicke der Enkel. Alte Mütterchen, mit thränenschwerem Auge, häuslich sorgsam ohne Haus, pflegsam, ohne bleibende Stätte; Vögeln ähnlich, denen Buben das Nest zerstörten. Armes Volk! grösstentheils einem Triebe folgend, den es selbst nicht kennt. Armes Volk mit Hoffnungen, deren Erfüllung vielleicht weiter und weiter von ihnen weicht, je näher ihrem Ziele das schwankende Schiff sie trägt! –
Da rollen blitzende Equipagen heran; Alles läuft und gafft: es sind die Rheder aus unserer Mutterstadt. Sie erwarten die Heimkehr ihrer beflügelten Schiffe, in halber Frist, wie sonst. Hier und dort richtet sich ein Fernrohr: wer erkennt im weiten Ocean helle Punkte? Ein alter Schiffer steht da, schneeweissen Haares; aber mit dem Auge des Falken eine Wette ausbietend: er erkenne die »Clementine«. Keiner gewahrt einen Punkt am Horizonte; die Menge lacht ihn aus, Andere schütteln das Haupt. Es vergehen einige Minuten, und man sieht den Hafenmeister dem Alten beifällig die Hand reichen. Noch eine Weile, und mehrere Stimmen ertönen: ein Schiff segelt an! Nun dauert's nicht lange, und der ganze Trupp des versammelten Seevolks ruft wie aus einer Kehle: ein Schiff, ein Schiff! Bei dem Fernrohre erschallt's: die »Clementine!« – Auf einmal heisst's: noch andere Schiffe seien im Ansegeln; man erkennt nun auch den »Theodor Körner«, die »Meta«, den »Gustav« und den »Pfeil«, der sie alle überholt. Fünf Schiffe, kaum der Vollendung ihrer Hinreise nahe gewähnt, kehren gesegnet heim zum sichern Hafen. O, Leben und Jubel die Fülle! – Unterdess ist von der Mutterstadt das Dampfschiff Bremen angekommen. Hunderte entsteigen ihm in schmucke Böte. Alles stürzt dahin, die Ankömmlinge zu mustern. Rheder und vornehme Auswanderer sind darunter. Zwei Muster, hohen geistigen Blicks, vergeistigt mehr noch durch den Ernst der letzten Fahrt im Vaterlande, treten an's Land; hier in der Fremde liebend geleitet und empfangen von Bekannten und Freunden, die sie früher nie gesehen: es sind die von Maltitz, bekannt genug in deutschen Landen, Vater und Sohn. –
Es ist Abend geworden. Man hat ferne Fahrzeuge erblickt; aber keins kam näher. Nun deckt Finsterniss den Strom, das Meer. Bald erhebt sich ein Sturm, vielleicht drohet ein Orkan. Leuchten fliegen dem Hafen entlang; ein Lootsen-Kutter muss hinaus in die Nacht. Dort sieht man Leute geschäftig, ihr Schiff zu rüsten; eilig, doch mit der Ruhe des Todes im Antlitz. Es sind die Männer, die nie eines Sarges bedürfen, denn von Geschlecht zu Geschlecht sterben sie im Meer; und das wissen sie. –
Andere Scenen erscheinen, wenn der Morgen graut. Der Wind ist günstig geworden und der »Copernikus« will die Anker lichten. Seine Passagiere, des langen Harrens ungeduldig, stehen erwartungsvoll auf dem Verdeck. Sie müssen hinunter, weil sie die Zurüstung der Segel hindern. Aber eine Mutter am Ufer ruft noch nach ihrem Sohne, ihn zu umarmen. – Das Schiff ist nun glücklich aus dem Hafen geholt; es gelangt weiter, die Segel schwellen sich; hundert Tücher entflattern dort in den Lüften, noch einmal den Abschieds-Gruss zu winken. Da stehn sie am Lande truppweise; sie erwiedern den Gruss mit ihren Tüchern; Thrähnen entstürzen ihren Augen. Weiter und weiter geht das Schiff; ihm folgen vom Lande nur noch stumme Blicke, stille Wünsche. Die Umstehenden verlieren sich. Doch ein Einzelner ist bis zuletzt geblieben; schweigend geht nun auch er seines Weges, einsames stilles Feld suchend. –
Von jenem Schiff dort, es ist die »Elise«, die Prächtige, dem Hafen schon glücklich entkommen, hört man wildes Geschrei. Es lag auf der Rhede, des günstigen Windes gewärtig, als ein Boot sich ihm nahte, Polizei-Offizianten ihm zuführend. Das Signalement eines Steckbriefes in der Hand, mustern sie auf dem Deck die Auswanderer. Ein Mann, allbeliebt in ungeahnter Verstellung bei den Gefährten zur Reise, wird erkannt, den Armen der Gattin und Kinder entrissen, und als politischer Vergehen Beschuldigter einsam zurückgeführt im Boote. –
In alle jene Bilder, die sich in stets veränderten Zügen unserm Blicke darbieten, mischen sich die charakteristischen Nationalitäten, welche aus den Schiffsmannschaften der verschiedensten und entferntesten Länder uns entgegentreten. Russen, Engländer, Franzosen, Schweden, Spanier, Amerikaner, Holländer, Neapolitaner, Dänen, Belgier; und aus gemeinsamem deutschen Vaterlande Hamburger, Lübecker, Preussen, Oesterreicher, Oldenburger, Hannoveraner, Mecklenburger und Bremer, – Alle, trotz der Gleichheit ihres See-Lebens, von verschiedener Eigenthümlichkeit, vollenden ein Gemälde, welches gleichartig vielleicht nirgend sonst noch einmal gefunden wird. – Denn ganz anders bilden sich die Züge, wo dieselben Elemente, wie die obigen, in einer Stadt, etwa wie Hamburg, zusammentreffen. – So eine Weltstadt, grossartig in Allem, lässt in ihrem Gewühle von Hunderttausenden das Frappante jener kleinen Scenen mehr verschwinden, gleich einzelnen Diamanten im Schmucke einer Kaiserkrone. – Aber Bremerhaven, an sich beschränkt und einfach, fasst und hält diese bunten Erscheinungen zusammen, wie der leichte Goldreif die wundersamen Reflexe eines á jour gefassten Edelsteines.