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Norderney ist eine ostfriesische, in der Richtung von Osten nach Westen in der Nordsee, unter 50° 42' 30" nördlicher Breite und 24° 49' östlicher Länge liegende Insel, die jetzt zum Königreich Hannover gehört, einen Umfang von drei Stunden, eine Länge von 1 ½ Stunde und einen Flächeninhalt von 1/6 Quadratmeile hat. Im Südwesten dieser Insel liegt das Fischerdorf gleichen Namens, das an 180 einstöckige Häuser und gegen 700 Einwohner zählen lässt. Der Boden besieht, wie der von Wangeroge, aus Seesand, der einige Schuhe tief unter sich Kleierde wahrnehmen lässt, die unter sich wieder Sand als Urboden zeigt. Den allergrössten Theil des Bodens bilden Dünen, die an der Nordseite zur Schutzwehr gegen den starken Andrang der See eine vierfache Reihe formiren und am Westende das Dorf in sich schliessen. Nur mit vieler Mühe haben die Bewohner einen kleinen, zunächst an ihre Wohnungen gränzenden Theil des Bodens urbar gemacht, da theils die Versandung, theils die häufig wehenden Ost- und Nordwinde jedes Gedeihen der Vegetation hindern. Die freundlich aussehenden, von Backsteinen gebauten und mit Ziegeln gedeckten Häuser bilden Strassen, stehen einzeln und sind zum Theil mit urbar gemachtem Lande umgeben, auf welchem einige Gemüse, als Bohnen, Erbsen, Erdtoffeln, Mohrrüben und selbst versuchsweise etwas Getreide, gezogen werden, welche Produkte jedoch bei weitem nicht zum Unterhalte für die sehr mässig lebenden Einwohner hinreichen. Um diese kleinen Terrains produktiv zu erhalten und vor dem Versanden zu bewahren, sind sie mit Erdwällen umgeben. Ackerbau und Viehzucht können nicht getrieben werden, und kaum finden einige Kühe und Schaafe das nothwendige Futter auf den östlich gelegenen Angern. Elsen, Pappeln und Weiden, die zur Bildung herangepflanzt sind, und nur zu Sträuchern sich ausbilden, gedeihen bis zu einer gewissen Höhe, und jeder Sprössling, der weiter als 12 bis 15 Fuss über die Erde hervorragt, stirbt ab. Die Flora besteht aus See- und Sandpflanzen, als aus: Salicornia, Plantago maritima, Erythraea ramosissima, Chenopodium maritimum, Eryngium maritimum, mehreren Carex-, Fucus-, Elymus-, Arundo- und Triticum-Arten. Ausserdem findet man hier noch: Trifolium fragiferum und hybridum, Hieracium umbellatum, Sonchus arvensis, Galium verum, Rosa pimpinellifolia, Salix repens, Pyrola, Achillea millefolium, Ononis hircina, Centaurium minus und einige andere Pflanzen auf dem Anger zwischen den Dünen. (Vergleiche das sehr lesenswerthe Büchlein: »Die Seebäder auf Norderney, Wangeroge und Helgoland«, von Doctor Adolph Leopold Richter.)
Die Fauna der Insel besteht aus mehreren Arten von Seevögeln, besonders verschiedenen Möven, Seeschwalben, Strandläufern, Becassinen, Berg- und wilden Enten, Kaninchen in grosser Anzahl, welche den Jagdfreunden das Vergnügen einer eigentümlichen und seltenen Jagd in reichem Maasse gewähren. Von den Meerbewohnern sind es hauptsächlich die Delphine, Seehunde, viele Fischarten, Medusen, Seeigel, Seesterne und verschiedene Muschelthiere, die sich am Strande und in der Nähe der Insel aufhalten. Die Auster ist das ganze Jahr hindurch in Norderney zu bekommen, da sie von der ganz nahe gelegenen, ihrer trefflichen Austern wegen berühmten Insel Borkum bezogen wird, und können Liebhaber dieser eben so nahrhaften, als leicht verdaulichen Leckerei hier täglich ihr Verlangen darnach für einen mässigen Preis befriedigen.
An süssem Wasser fehlt es der Insel nicht; es ist weich und etwas in das Gelbliche spielend, aber ohne alle schädliche Beimischung. Richter räth allen denen, welche sehr an den Genuss dieses Getränkes gewöhnt sind, etwas Spirituoses beizumischen.
Was über den Charakter der Einwohner von Wangeroge gesagt ist, gilt auch von denen der Insel Norderney. Der Fremde kann hier seine Habe und Gut dreist bei offenen Fenstern liegen lassen und braucht nicht besorgt zu sein, wenn er keine Schlösser an den Thüren der Stuben und des Hauses findet. Die Bewohner sollen sehr alt werden, besonders die Männer, bei denen der Aufenthalt auf der See sehr viel zur Befestigung der Gesundheit beiträgt, wenn sie nicht verunglücken, was häufig geschieht, wie die vielen hier lebenden Wittwen beweisen. Viele leben und sterben ohne ärztliche Hülfe und bedienen sich bei vielen Krankheiten des hier wachsenden Wermuths. Merkwürdig ist es, dass sowohl auf Norderney, wie auf Wangeroge und insbesondere die Helgolander sich selten zur Heilung ihrer scropholösen Kinder, und in solchen Fällen, wo dasselbe specifisch wirkt, des ihnen so nahe liegenden Seebades bedienen. Eine Helgolanderin, Mutter eines solchen Kindes, meinte: »das Seewasser halte die Gesunden wohl gesund, aber helfe nur fremden, nicht einheimischen Kranken.« Nach Mittheilungen des Norderneyer Badearztes, des Herrn Doctor Bluhm, Nachfolger des berühmten, zu frühe verstorbenen Medizinalraths von Halem, kommt dort bei den Frauen sehr häufig der Magenkrebs vor und ist die Ursache ihres Todes. Als Grund dieser sonst so seltenen Krankheit giebt Bluhm mit Recht die Lebensart der Frauen an, insofern durch den vielen Genuss der getrockneten und gesalzenen Fische ein stets gereizter Zustand im Magen unterhalten und der hiermit verbundene grosse Durst durch Trinken starken Thees, dessen reizende Eigenschaft man weder durch Zucker noch durch Milch zu mildern sucht, gelöscht wird. Schon frühzeitig kündet sich die allmälig entwickelnde chronische Entzündung durch Magenkrämpfe, Magenschmerzen u. s. w. an, bis dieselbe endlich die krebshafte Desorganisation nach sich zieht.
Norderney kann mit Recht das vornehmste und glänzendste Seebad der Nordsee genannt werden. Der erste Gebrauch des Seebades in Norddeutschland fällt in den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. Denn obgleich in England schon um die Mitte desselben die königliche Familie Georg's II. auf Anrathen der Aerzte die Meerbäder gebraucht und der englische Arzt Russel im Jahre 1770 in seinem Werke de usu aquae marinae in morbis glandularum, das Seebad als Heilmittel empfohlen hatte, so war dasselbe dennoch in Deutschland noch in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts für die ärztliche Praxis durchaus unbekannt. Neue Erfindungen gingen damals noch im Menuetschritte von einem Lande zum andern. Auch in Südeuropa scheint das Baden in der See als Heilmittel unbekannt gewesen zu sein. Wenigstens findet sich z. B. in Göthe's italiänischer Reise keine Spur davon.
Lichtenberg war es zuerst, der im Göttingschen Kalender von 1793 den Deutschen etwas von den Einrichtungen des Englischen Seebades zu Deal erzählte und dabei die Frage aufwarf: »warum Deutschland noch kein öffentliches grosses Seebad habe?« Das älteste Deutsche Seebad ist Doberan, gestiftet im Jahre 1794, unter Leitung des auch durch seine Schriften auf diesem Felde bekannten Professors Vogel. Einige Jahre später ward Norderney zum Seebade eingerichtet, dann Helgoland und seitdem mehrten sich die Badeorte an den Küsten der Ost- und Nordsee fast von Jahr zu Jahr, doch sind die drei genannten die besuchtesten.
Norderney kann von der Küste des Continents aus zu Wasser und zu Lande erreicht werden. Das Letztere wird durch die Ebbe möglich gemacht, während welcher Zeit das Wasser so bedeutend abläuft, dass die l¾ Meilen breite Strecke zwischen der Insel und der Küste, das sogenannte Watt, auf der am höchsten liegenden Stelle fast ganz trocken gelegt wird, und die Badegäste zu Wagen und zu Pferde, und wenn sie nasse Füsse nicht scheuen, selbst zu Fuss auf die Insel mit grosser Bequemlichkeit gelangen. Wer es vorzieht, die Reise zu Lande durch das Watt während der Ebbe zu machen, wird dann vom Hylgenrydersyl aus durch einen zuverlässigen beeidigten Strandvogt, der als Wegweiser dient, die Löcher und Balgen genau kennt, und vor jeder Gefahr sichert, begleitet. Während der Fluthzeit muss man das Watt zu Schiffe passiren, und embarquirt man sich zu diesem Zweck am Fährhause zu Norddeich, eine halbe Stunde von der ostfriesischen Stadt Norden.
Die Badezeit beginnt mit dem 1. Juli und endet mit dem 15. September. Zum Baden in offener See ist der West- und Nordweststrand bestimmt, und zwar der erstere für die Damen, der letztere für die Herren. Beide Badeplätze liegen in geringer Entfernung vom Dorfe, der Herrenstrand etwas weiter als der Damenstrand, welchen letztern man von den am entferntesten gelegenen Häusern in sechs Minuten, von den nächstliegenden in zwei Minuten erreichen kann. Des ebenen, sich ganz allmälig vertiefenden Sandbodens Festigkeit ist so gross, dass ein Wagen, der während der Ebbezeit über ihn fährt, kaum eine merkbare Spur hinterlässt.
Man badet hier nur einmal täglich, zur Zeit der steigenden Fluth, weil dann der Wellenschlag das Bad am kräftigsten macht. Der Eintritt derselben ist auf einer öffentlich im Conversationshause und an den Badeplätzen angeschlagenen Tabelle angegeben und wird ausserdem täglich durch das Aufziehen von rothen Flaggen angezeigt. Da die Fluth, welche binnen 24 Stunden zwei Male mit der Ebbe wechselt, täglich um etwa 50 Minuten später als am vorhergehenden Tage eintritt, so müssen sich ganz natürlich die Badezeit und das Mittagsessen hiernach richten.
Zur Aufrechthaltung der Ordnung in der Reihefolge unter den Badenden ist die Einrichtung getroffen, dass ein Jeder bei der Ankunft am Badeplatze sein im Conversationshause gelösetes Badebillet abgiebt, seinen Namen auf eine dazu bestimmte Tafel schreibt, und eine Nummer empfängt, welche die Reihefolge bestimmt. Die Nummern werden der Folge nach laut abgerufen, sobald die Badekutsche leer ist. Um Niemand unter der Unachtsamkeit Eines oder des Andern leiden zu lassen, wird die Nummer desjenigen, welcher beim mehrmaligen Abrufen derselben nicht erscheint, sofort übergangen, und folgt sogleich die nächste Nummer. Auch ist ein Jeder gehalten, sich persönlich auf dem Badeplatze einzuschreiben, oder es auch durch einen Andern erst dann thun zu lassen, wenn er selbst auch bereits am Strande sich befindet.
Für die Damen ist die Anordnung getroffen, dass sie eine Nummer auf eine bestimmte Badekutsche erhalten, so dass etwa 3 oder 4 auf eine Badekutsche angewiesen sind; diejenige von ihnen, welche zuerst kommt, kann, wenn diese Badekutsche gerade leer ist, sie sogleich beziehen. Bei der Ankunft mehrer zu gleicher Zeit bestimmt die Reihefolge. – Selten hat man nöthig lange zu warten, da die Zahl der Badekutschen sehr gross ist. Das war freilich in dem bewegten Jahre 1830 noch nicht der Fall, in welchem, da das Schutzdach abgebrochen oder umgeweht war und die Damen oft, lange im Regen warten mussten, bis sie in eine Kutsche schlüpfen konnten, unter dem schönen Geschlecht der haute volée eine Revolution ausbrach. Einige der Dämchen hatten nämlich, aufgemuntert durch ihre Kammerkätzchen, nicht immer auf dem strengen Wege Rechtens, sich der Badekutschen bemächtigt, und sogar den grossen Nummern durch Auslöschen der ersten Zahl ihren Vorspann gewonnen. Vergebens hatte der damalige liebenswürdige Badecommissair, ein Graf Wedel, diesem Unfug zu steuern gesucht, die Badewärterinnen weigerten den ferneren Dienst und wenn man ihnen täglich eine Pistole geben wollte. Da fiel Wedel auf ein originelles Mittel. Er postirte einen alten Hirten dicht hinter der letzten Düne, welche vor dem Badestrand der Damen liegt, keinen Ludwig an Höflichkeit, keinen Paris an Bestechlichkeit, mit dem Auftrage, sobald ein Streit unter den Damen entstehe, auf den Ruf der Badewärterin von seiner Höhe herunter zu steigen und den Strandrichter zu machen. Kaum war dies Edict bekannt, so vertrugen sich die Damen wieder wie die Engel.
Den Vereinigungspunkt für die ganze Gesellschaft giebt das im südwestlichen Theile der Insel im geschmackvollen Style erbaute Conversationshaus ab, dessen 130 Fuss lange Façade in der Mitte eine Colonnade von 8 Säulen zeigt, welche die nach beiden Seiten sich ausdehnenden Flügel mit einander verbindet und eine Säulenhalle bildet, zu welcher eine breite, zu beiden Seiten mit geschmackvollen hohen Candelabern aus Gusseisen gezierte Treppe hinauf und zu dem Haupteingange der Gebäude führt. Der grosse freie Raum vor dieser Façade besteht aus grünem Rasen, den Blumenbeete, eine grosse Schaukel und ein Sonnenzeiger zieren und ein Bosquet begränzt. Das Gebäude selbst ist nur der Geselligkeit geweihet, und enthält daher gar keine Logis, mit Ausnahme der Wohnungen für einen Theil des königlichen Verwaltungspersonals in einem hintern Flügel. Der ganze übrige geräumige Theil des Ganzen umfasst einen 70 Fuss langen, 30 Fuss breiten und 19 Fuss hohen Tanzsaal, an welchen 2 eben so lange Speisesäle nebst einem Entréezimmer stossen, aus dem man in 5 andere auf der andern Seite des Vestibules gelegene geräumige Zimmer gelangt, deren Erstes als Frühstücks- und Restaurationszimmer für diejenigen dient, welche nicht vorziehen, unter der Säulenhalle, oder in der nach dem Bosquet hin gelegenen, von Weinlaub umschatteten Veranda ihren Appetit zu befriedigen.
Leider ist auch hier ein dem Hazardspiel geweihter Saal. Es ist dies um so trauriger, als sich sonst die Seebäder vor den übrigen Bädern eine verhältnissmässige Einfachheit in Einrichtungen und Lebensweise zu erhalten gewusst haben, während die Quellenbäder meist die Sammelplätze des raffinirtesten Luxus, und in vieler Hinsicht aus Gesundheits- zu Pestbrunnen der Ausschweifung geworden sind. Wer Baden-Baden unter Chabert's und später unter Benazet's Regiment, Wiesbaden u. d. m. kennt, wird sich freilich in den Seebädern und namentlich auf Wangeroge in den Naturzustand zurück gesetzt sehen. Die Spartanische Einfachheit auf Priesnitzens Gräfenberg und in dessen Kolonieen fangen bereits an, gegen den Sybaritismus der übrigen Bäder eine eben so notwendige als heilsame Reaction zu äussern, die nicht nur den letzten, sondern auch in manchen Beziehungen den Seebädern zu Gute kommen muss. So wäre auch hier z. B. eine Vereinfachung des allzureich besetzten und darum kostspieligen Mittagstisches zu wünschen. Dadurch würde nicht nur die Badegesellschaft sich mehr concentriren und zu einem für die Unterhaltung und das gemeinsame Vergnügen sehr förderlichen Ganzen sich vereinigen, sondern auch der für wirklich Leidende sehr empfindlichen Unbequemlichkeit des übermässig langen Sitzens bei Tische abgeholfen werden.
Unmittelbar an die Hinterseite des Conversationshauses, welche gegen Süden liegt und mit Obstbäumen und Wein en espulier bekleidet ist, von denen der letztere zugleich zur Beschattung einer freundlichen Veranda dient, stösst das Bosquet, dessen schattige Gänge und Sitze einen sehr angenehmen Aufenthalt für die hier zwei Male täglich zahlreich zusammenströmenden Badegäste gewähren. Des Morgens um 11 Uhr lockt die treffliche Musik des aus Prager bestehenden, stark besetzten Orchesters hierher, und des Nachmittags vertheilt sich die schöne Welt hier in vielfachen Gruppen, um den Kaffee im Freien einzunehmen und bis zur Strand-Promenadeabendstunde zu verweilen.
Eine höchst interessante Erscheinung für die Badegäste bildet zuweilen das Leuchten des Meeres, von dem man eben so wenig anzugeben vermag, als woher der eigentümliche Geruch des Meeres entsteht. Von dem Aufenthalte so vieler lebender und abgestorbener organischer Wesen im Meere lässt sich vermuten, dass demselben ausser diesen noch eine Menge animalischer und vegetabilischer Stoffe mitgetheilt werden, welche die Chemie noch nicht darzustellen vermochte. –
Von den Schriften, welche über Norderney erschienen, sind hauptsächlich zu empfehlen: Dr. Karl Mühry, über das Seebaden und das Norderneyer Seebad, welche auch bei der Ausarbeitung dieses Aufsatzes benutzt ist, und »die Seebade-Anstalten auf der Insel Norderney.« Von Dr. J. L. Bluhm, königlichem Hofmedicus zu Norderney. Bremen 1840, bei Wilhelm Kaiser, zweite Auflage.