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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Brüssel

Der junge Mann, dem unter allen jungen Männern Europas in diesem kritischen Augenblick der Geschichte des Kontinents die größte Bedeutung zukommt, trägt einen großen Namen, der vollständig sehr wenig bekannt ist: Franz Joseph Otto von Habsburg. Er ist einundzwanzig Jahre alt. Man nennt ihn Kaiser und König. Er ist Erbe einer nahezu sieben Jahrhunderte alten Krone.

Rings um das Land von Ottos Vätern konzentrieren sich die Befürchtungen Europas. An Österreichs Grenzen stehen Heere. Um sein Schicksal kämpfen die Mächtigen dieses Kontinents mit einer Heftigkeit, die jeden Augenblick zum Donnern der Geschütze führen kann, zum ersten Aufblitzen der Schüsse in dem Kriege, der das Ende Europas wäre.

Im Innern des Landes kämpft eine kleine Gruppe von Männern, Dollfuß, Fey und Starhemberg, einen verzweifelten Kampf, um die Nationalsozialisten fernzuhalten. Aber der Druck von 65 Millionen Deutschen macht sich bemerkbar. Man richtet seine Augen auf Otto von Habsburg. Ist er der Mann, mit dem die Nationalsozialisten fern zu halten wären? Könnten die Habsburger Hitler Einhalt gebieten?

Otto von Habsburg hat bis heute niemals offenbar werden lassen, was er selbst denkt. Er hat vor der Öffentlichkeit keine Erklärungen welcher Art immer abgegeben. Er hat sich so still verhalten, daß Europa, das seine Familie seit 650 Jahren kennt, heute so gut wie nichts von dem Mann weiß, der vielleicht morgen schon den Thron Österreichs besteigen und eine entscheidende Rolle im Geschick dieses Kontinents spielen kann.

Heute erklärt Otto, kein Knabe mehr, sondern ein Mann, der sich in imposanter Weise seiner Verantwortung bewußt ist, daß es seine Mission, die Mission des Hauses Habsburg sei, Europa den Frieden zu bringen. Er erklärt, er vertraue voll Zuversicht darauf, daß die Habsburgische Krone Österreich um sich scharen, das Land vor den Nationalsozialisten und damit Europa vor dem Kriege erretten könnte.

Er lehnt die Nationalsozialisten ab und verdammt ihre Philosophie mit einer Festigkeit, die eine Gewähr dafür ist, daß er ihnen niemals freiwillig Macht einräumen würde. Er glaubt, daß die Habsburgerkrone Mitteleuropa befrieden und schließlich ein wirtschaftliches Einverständnis unter seinen Staaten herbeiführen könnte, das die Prosperität wieder herstellen würde. Er ist dafür, in Österreich einen Korporationenstaat unter der Krone zu errichten.

Und schließlich, in diesem Augenblick, in dem der kühnste, nichts weiter als ehrgeizige Mann davor zurückschrecken würde, die Last der Führung auf dem am heißesten umstrittenen Schlachtfeld in Europa auf sich zu nehmen, bringt ihn ein tiefes Gefühl der Verpflichtung vor Gott dazu, zu erklären, daß er täglich bereit sei, dem Rufe Österreichs zu folgen.

Otto von Habsburg empfing mich in Audienz. Es war ganz entschieden eine Privataudienz. Er hat noch niemals ein Interview gegeben. Trotzdem wurde mir ausdrücklich gestattet, meine Eindrücke wiederzugeben, und wurde ich ermächtigt, einzelne von seinen Erklärungen zu zitieren.

Er empfängt in der Burg Ham in Steenockerzeel. Sie ist in einer zwanzigminutigen Automobilfahrt von Brüssel zu erreichen. Die vier Türme der vierhundert Jahre alten Burg steigen düster aus den Wassern des Grabens zum Winterhimmel empor. Im Burghof ist kein Lebenszeichen zu sehen. Unser Automobil hält, und eine Klingel schlägt zweimal an. Das schmucklose Holztor der Burg öffnet seine Flügel. Enge Treppen führen zu einer winzigen Halle hinauf. Die Mauern sind dick. Sie erzählen von Alter, von einem hohen Alter, aber sie sind jünger als die Dynastie, deren letzte Vertreter sie zu ihrer Zuflucht im Exil gemacht haben.

Ein Prinz könnte in einer solchen Burg wohnen. Ein Prinz aus einem Märchen. Oder ein Kaiser, der auf seine Krone wartet.

Der Prinz, der hier lebt, trat rasch vor, als Graf Czernin, der mich in einen breiten Salon geführt hatte, eine Verbeugung machte und sich zurückzog. Von dem finsteren Eindruck, den die Burg gemacht hatte, war nichts mehr zu sehen. Jugend erfüllte den Raum, eifervolle, ernste, aber frische Jugend, wie es in den Zeilen der italienischen Giovanezza heißt: »Jugend, Jugend, Lenz der Schönheit.«

Sie erfüllte einen Raum, der wenig von der Habsburger-Dynastie erzählte, aber viel von der Habsburger-Familie. Otto ist der älteste unter acht Kindern. Das jüngste ist die zwölfjährige Erzherzogin Elisabeth, die im Jahre 1922 nach dem Tode ihres Vaters, des Kaisers Karl, im Exil zur Welt kam. Die ganze Last der Erziehung fiel auf die Kaiserin Zita, Prinzessin von Bourbon-Parma, und ihr Geist war bestimmend für die Entwicklung ihrer Kinder.

Auf einem großen Klavier an dem einen Ende des Zimmers lagen Stapel von Zeitungen, österreichischen, ungarischen und deutschen Blättern. An einer Wand stand ein Radioschränkchen, in der Mitte des Raumes ein Billardtisch, dann kam ein großer Tisch und am anderen Ende ein Schreibtisch. Die Teppiche waren von rücksichtslosen Kinderfüßen abgetreten.

Das Oberhaupt des Hauses Habsburg gab mir einen festen und raschen Händedruck. Mit seinem reinen Teint und den dunklen Augenbrauen, mit den geradeblickenden Augen, den regelmäßigen Zügen und der anmutvollen Gestalt sähe er allzu gut aus, wenn er sich seiner Schönheit bewußt wäre. Sein gerade zurückgekämmtes, gelocktes Haar, das in seiner Knabenzeit blond war, ist kastanienbraun geworden. Er hatte einen feinen schwarzen Tuchanzug an, dazu ein weiches weißes Hemd mit festem Kragen und locker geknüpfter Krawatte. Sein Benehmen war gehalten, reif, liebenswürdig, höflich.

Wir saßen in Korbstühlen. Er stellte Fragen. Er stellte sie voll eifriger und kritischer Wißbegierde. Die Fragen verrieten ein ganz außerordentliches Verständnis der komplizierten europäischen Lage. Seine eigenen Bemerkungen waren offen, informiert, bescheiden. Es war kaum zu glauben, daß der Mann, der da sprach, nicht mehr als einundzwanzig Jahre zählte.

»Das Wichtigste für die ganze Welt ist selbstverständlich die Erhaltung des Friedens«, erklärte er, »aber für Mitteleuropa ist die Erhaltung des Friedens vielleicht noch wichtiger als für alle anderen Teile des Kontinents. Mitteleuropa hat unter dem letzten Krieg mehr gelitten als alle anderen Gegenden. Nicht nur infolge der Ereignisse während des Krieges selbst, infolge seiner Verluste an Menschenleben und an wirtschaftlichen Gütern, sondern auch infolge dessen, was nach dem Krieg geschah, als die Aufteilung einer großen natürlichen Wirtschaftseinheit in eine Anzahl kleinerer Einheiten zur Verarmung des ganzen Gebietes führte.

Einen zweiten Krieg kann Mitteleuropa nicht überstehen. Am allerwenigsten Österreich und Ungarn. Sie sind durch ihre Verluste auf das äußerste erschöpft worden. Noch ein Krieg überschritte bei weitem ihre Tragkraft. Beide Länder waren ohnedies schon dem Bolschewismus allzu nahe, dem latenten in Österreich, dem offenen in Ungarn. Die Erhaltung des Friedens in Europa ist also überaus wesentlich.

Die erste Bedingung zu seiner Erhaltung aber ist die Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit. Und wann begann die österreichische Unabhängigkeit gefährdet zu sein? Erst dann, als die Herrscher, die die Geschicke Österreichs 650 Jahre lang geleitet hatten, durch die katastrophalen Ereignisse, die auf das Kriegsende folgten, verjagt wurden.

Wir wissen, daß eine Restauration dessen, was in die Geschichte eingegangen ist, niemals möglich ist. Eine Restauration ist nur in dem Sinne möglich, daß sie heute beginnt und nicht dort einsetzt, wo man zehn oder fünfzehn Jahre früher aufgehört hat, sondern dort, wohin einen die Geschehnisse heute gebracht haben.

Restauration ist nicht Reaktion. Restauration bedeutet die Erhaltung dessen, was in der Vergangenheit gut war, und seine Anwendung auf die Situation, die jetzt gegeben ist. Die parlamentarische Regierung ist jetzt in Österreich tot. Sie ist an ihrer eigenen Unfähigkeit gestorben. Was immer sich auch in der Zukunft mit Österreich ereignet, dieser Faktor muß in Rechnung gestellt werden.

Das bedeutet nicht, daß eine Rückkehr zu dem absolutistischen System wahrscheinlich ist oder angestrebt wird. Auch das gehört der Vergangenheit an. Aber es gibt neue Formen der Staatsorganisation, die als Folge der neuen Bedingungen entstanden sind, unter denen die Menschen leben. Die interessanteste unter den neuen Staatsformen ist meiner Meinung nach der Korporationenstaat. Im Korporationenstaat liegen Möglichkeiten für eine Entwicklung berufsständischer und gewerblicher Repräsentation und für eine wirtschaftliche Reorganisation der Gesellschaft, die mir beide den Keim zum Erfolg in sich zu tragen scheinen.

Schließlich gibt es für den Erfolg eines Staates, für das Glück und die Prosperität seiner Bürger zwei Grundlagen: die wirtschaftliche und die religiöse. Meine Idee vom Korporationenstaat gründet sich in der Hauptsache auf das Quadragesimo Anno, die Enzyklika seiner Heiligkeit, auf die auch der Kanzler Dollfuß sich so oft bezogen hat.

Im großen Ganzen erscheint es mir völlig unmöglich, ein gesundes Regierungssystem zu haben, das nicht von der ersten Quelle aller Dinge in unserem Weltall ausgeht, ich meine, von Gott selbst. Für einen Gottgläubigen ist das natürlich ein Gemeinplatz, aber es wird heute so oft vergessen.

Dieses Prinzip bedeutet für unsere Familie, für die Habsburger, ausschließlich Verantwortung. Gewiß kann sich niemand einbilden, daß die Aussicht, die Bürde einer Regierung in einer solchen Zeit in Europa auf sich zu nehmen, erfreulich sein könnte. Nur weil ich die absolute Verpflichtung gegenüber der Aufgabe empfinde, die Gott uns zugewiesen hat, bin ich bereit, anzunehmen.«

Die Innigkeit, mit der Seine Majestät sprach, ließ keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner religiösen Überzeugungen aufkommen. Aufrichtigkeit erfüllte sein ganzes Wesen.

»Ich bin auch bereit anzunehmen«, sprach er weiter, »weil ich der Überzeugung bin, daß es nur durch die Wiedereinführung der österreichischen Traditionen in Österreich, der Traditionen, die Österreich und unsere Familie durch 650 Jahre verbanden, möglich sein wird, dem österreichischen Volk seinen ursprünglichen Platz als Erhalter des Besten in der deutschen Kultur wiederzugeben.

Der Nationalsozialismus ist nichts Deutsches. Er ist brutal. Die Deutschen sind nicht brutal von Natur. Das Deutschland, das Deutschland in der Geschichte groß gemacht hat, war das Deutschland der Kultur.

Ich habe die Überzeugung, daß es in Österreich heute viele gibt, die nur deshalb Nationalsozialisten sind, weil sie mit dem republikanischen System unzufrieden sind und sich nach etwas anderem sehnen, die aber bis jetzt gemeint haben, daß ein Wandel zum Besseren nur kommen könnte, wenn man den Revolutionären in Deutschland Gefolgschaft leiste.

Sie haben vielleicht nicht erkannt, wie nahe verwandt der Nationalsozialismus mit dem Nationalbolschewismus ist. Aber wenn man ihnen eine Möglichkeit gäbe, die überlieferten Tugenden des alten Österreich unter einer Führung wiederbelebt zu sehen, die sowohl von der Autorität der Jahrhunderte wie vom Auftrag des Allmächtigen geheiligt ist, dann würde der größte Teil von ihnen, dessen bin ich gewiß, sich dieser neuen Führung zuwenden.

Das würde in seinen Auswirkungen bedeuten, daß Österreich wieder Österreich würde, daß seine Unabhängigkeit festgegründet und damit auch der Friede in Europa erhalten wäre. Und mehr als das; denn ich bin der Überzeugung, daß dieses alte Österreich, wenn es aus der Vergangenheit alles, was gut war, wieder erhält und neu belebt wird von allem, was am Korporationenstaat gut ist, viel wirksamer als alle seine Vorgänger ein wirtschaftliches Einverständnis unter allen früheren Staaten des österreichisch-ungarischen Reiches herbeiführen könnte, und das würde sehr, sehr viel dazu beitragen, die vom Krieg geschlagenen Wunden zu schließen.

Ich spreche ausschließlich von einem wirtschaftlichen Einverständnis, aber es ist bereits allen Staaten in Mittel- und Südosteuropa klar geworden, daß ohne ein solches wirtschaftliches Einverständnis keine Erholung und kein dauernder Friede möglich ist. Und unsere Mission ist der Friede.«

Otto verwirft völlig die nationalsozialistische Rassenlehre. Er wies darauf hin, wie unmöglich es wäre, im Rahmen dieses Prinzips eine bereitwillige Zusammenarbeit welcher Art immer unter den verschiedenen Rassen Mittel- und Südosteuropas zu erreichen.

Otto von Habsburg ist Österreicher. Adolf Hitler ist Österreicher. Hitlers Habsburgerfeindlichkeit hat sich in allen seinen Schriften und in vielen seiner öffentlichen Äußerungen dokumentiert. Von allen paradoxen Ergebnissen, zu denen Hitlers Aufstieg zur Macht geführt hat, ist keines verblüffender als die Tatsache, daß die Handbewegung, mit der das Deutschland Hitlers nach Österreich gegriffen hat, die Geste gewesen ist, die die Möglichkeit einer Habsburger-Restauration wieder ins Leben gerufen hat.

Die Gegner der Habsburger erklären, daß die aus den Trümmern des österreichisch-ungarischen Reiches gebildeten Nachfolgestaaten eine Rückkehr Ottos auf den österreichischen oder den ungarischen Thron niemals zulassen würden. Die Habsburger Kreise neigen zu der Ansicht, daß Europa heute lieber das Haus Habsburg in Österreich sähe als Hitler, und daß die Meinung Europas den Sieg davontragen würde.

Ottos Persönlichkeit würde, gäbe man ihm eine Möglichkeit sich bekannt zu machen, eine Stärkung der monarchistischen Sache bedeuten. Nur wenige Restaurationsparteien haben mit ihren Kandidaten ein solches Glück gehabt. Und die Romantik müßte in Österreich ausgestorben sein, wenn Wien einem weit über seine Jahre hinaus klugen jungen Märchenprinzen gegenüber gleichgültig bleiben würde, der käme, die Krone zu nehmen, die Wien groß gemacht hat, und »Europa den Frieden zu bringen.«


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