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Neunzehntes Kapitel.
Saarbrücken

Das Saargebiet ist ein Fleckchen Landes, das sieben Zehntel vom Gebiet des kleinsten amerikanischen Staates, Rhode Islands, einnimmt. Es liegt zwischen Frankreich und Deutschland. Es hat 16 Milliarden Tonnen Kohle und 823 000 Einwohner. Im Jahre 1935 wird es für oder gegen Hitler abstimmen. Der Ausfall der Abstimmung kann darüber entscheiden, ob Europa früher oder später in den Krieg ziehen wird.

Wenn es für Hitler stimmt, wird es über das Saargebiet nicht zu einem Krieg kommen. Fällt die Abstimmung gegen Hitler aus, so könnte das Saargebiet in der Liste möglicher Kriegsgründe auf diesem Kontinent an die erste Stelle rücken. Die Chancen scheinen, wenn man sie heute in der Hauptstadt des Saargebietes abschätzt, zu mehr als neunzig Prozent dafür zu sprechen, daß die Mehrheit der Bevölkerung für Hitler stimmen wird. Aber nicht nur die Wahl selbst birgt die Möglichkeit ernsthafter Beunruhigungen. Schon der Wahlfeldzug kann sich als gefährlich erweisen.

Er hat eben eingesetzt. Eine gewaltige Hakenkreuzfahne flattert vor einem Haus in der Hauptstraße Saarbrückens. In einem Fenster dieses Hauses blickt Adolf Hitler aus einem Bild herab, das ihn wie einen Heiligen darstellt. In einer Buchhandlung daneben ist eine Zeichnung ausgestellt, die ihn wie den Teufel darstellt. Scharen aus dem nationalsozialistischen Lager tauschen finstere Blicke mit Scharen aus dem gegnerischen Lager.

Die Nationalsozialisten nennen ihre Gegner Verräter. Die Feinde nennen die Nationalsozialisten Bestien. Heute sind sie bereit, einander zu Krüppeln zu schlagen. Wenn der Wahltag kommt, können sie bereit sein, einander totzuschlagen. Wenn das Morden beginnt, können französische Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung herbeigeholt werden. Wenn französische Truppen kommen, wenn französische Truppen schießen müßten, was würden dann die Deutschen tun? Von allen geplagten Männern in Europa sind heute die Behörden im Saargebiet die Besorgtesten.

Die »Saarfrage« hat aufgehört, eine französisch-deutsche Frage zu sein. Man muß eine Reise in dieses kleine Gebiet machen, um zu erkennen, daß der Konflikt hier lediglich ein interner deutscher Konflikt ist. Es ist ein Konflikt um Hitler.

Die Schöpfer des Versailler Vertrages wußten nichts von Adolf Hitler. Als die Paragraphen, die das Saargebiet betreffen, zu Papier gebracht wurden, war der Mann, der jetzt Deutschlands Kanzler ist, ein abgemusterter Gefreiter, der sich in München umtat, um einen kleinen Halt für seine politische Betätigung zu finden.

So schrieben also die Vertragsschöpfer, weil das deutsche Heer die Kohlenbergwerke in Nordfrankreich zerstört habe, müßten die Kohlenbergwerke des Saargebietes an Frankreich kommen. Das Saargebiet solle für fünfzehn Jahre aufhören, ein Teil Deutschlands zu sein. Es solle Zoll- und Währungseinheit mit Frankreich erhalten. Es solle von einer Kommission des Völkerbundes regiert werden. Die Bergwerke sollten mit einem Buchwert von 300 000 000 Goldmark zu der Summe gerechnet werden, die Deutschland Frankreich für Wiedergutmachungen schulde. Nach Ablauf der fünfzehn Jahre solle die Bevölkerung abstimmen. Wenn sie für die Wiedervereinigung mit Deutschland stimme, solle Frankreich die Gruben Deutschland zu einem Preise zurückverkaufen, der von einem französischen, einem deutschen und einem neutralen Sachverständigen festzusetzen sei.

Jedem Menschen, der zur Zeit des Vertragsabschlusses im Saargebiet gelebt, und heute das Alter von zwanzig Jahren erreicht hat, solle die Frage vorgelegt werden: »Willst du, daß das Saargebiet bleibe, was es ist, unter Völkerbundsregierung und in Zollunion mit Frankreich?« Oder: »Willst du, daß das Saargebiet ein Teil Frankreichs werde?« Oder: »Willst du, daß das Saargebiet an Deutschland zurückkomme?«

Bis zum Januar 1933 stand das Ergebnis dieser Volksabstimmung außer Frage. Im ganzen Saargebiet gibt es vielleicht 8000 französische Grubenangestellte und hier und da einige andere französische Familien. Die einzige Sprache, die man hört, ist das Deutsche. Architektur, Küche, Atmosphäre, Menschen sind entschieden deutsch. Zehn Automobilminuten weiter servieren die Hotels in Frankreich Tournedos und Wein. Hier servieren sie Kalbsbraten und Bier. Von Saarbrücken zur französischen Grenze ist es ein Schritt, aber dieser Schritt birgt in sich die ganze Entfernung zwischen Romanischem und Germanischem.

Bis zum Januar 1933 galt es als feststehende Tatsache, daß 95 % der Bevölkerung für Deutschland stimmen würden. Frankreich wußte das. Es erwartete nicht, das Saargebiet zu behalten. Im Jahre 1930 hatte Stresemann, der Briand dazu bestimmt hatte, das Rheinland vor der Zeit zu räumen, ihn auch dazu überredet, auf das Saargebiet zu verzichten. Aber Stresemann starb. Und drei Jahre später kam Hitler. Augenblicklich spaltete sich die hundertprozentig deutsche Bevölkerung des Saargebietes längs einer Hitlerlinie.

Heute macht niemand von Bedeutung im Saargebiet Propaganda dafür, es französisch zu machen. Aber Tausende propagieren dafür, daß es unter der Völkerbundsherrschaft bleibe. Es sind atheistische Sozialdemokraten, fromme Katholiken, Gott lästernde Kommunisten, orthodoxe Juden – alle, die etwas zu verlieren haben, wenn sie Bürger des Dritten Reiches werden. Vor Hitler hätten 90 % von ihnen für Deutschland gestimmt. Heute wollen sie auch nichts von Frankreich wissen. Ihre Stimmen werden weniger für den Völkerbund sein als gegen Hitler.

Ihre Propaganda ist hitzig und erbittert. Sie ist aber um nichts hitziger und erbitterter als die Propaganda der Hitler-Anhänger für die Wiedervereinigung des Saargebietes mit Deutschland. Die Nationalsozialisten haben einen gewaltigen Vorteil für sich: »Verräter«, schreien sie der Opposition zu.

Auf der Hakenkreuzseite sind fünfzehntausend junge Männer, die in Deutschland gewesen und in den Arbeitsdienstlagern ausgebildet worden sind. Am Wahltag werden ihrer schätzungsweise fünfundzwanzigtausend sein.

Die Hakenkreuzseite ist geeint. Die Gegenseite, die Opposition gegen Hitler, ist vielfältig und zerrissen wie seinerzeit in Deutschland. Die Hitler-Anhänger, die unter dem Namen der Deutschen Front marschieren, bedienen sich der kühnen Propaganda, die sich im Vaterland als so erfolgreich erwiesen hat. Sie erklären gerade heraus: »Wir werden neunundneunzig Prozent der Stimmen bekommen.« Die Hitler-Gegner erklären bescheiden: »Wir haben Aussichten darauf, die Majorität zu bekommen.«

Zwischen diesen beiden, zusammen mehr als 80 000 Menschen umfassenden Lagern, die einander täglich tödliche Drohungen entgegenschleudern, stehen nur die 1000 Mann Polizei, die die Völkerbundskommission zur Verfügung hat, und die Majestät, die Macht oder, wenn man so will, der Bluff des Völkerbundes. Und was würde geschehen, wenn die Nationalsozialisten Österreich eroberten? Könnten 1000 Polizisten, die zu sechzig Prozent Nationalsozialisten sind, die Nationalsozialisten an der Saar halten?

Nicht nur Hitler, sondern sicherlich der Völkerbund selbst und wahrscheinlich auch der größte Teil Europas mit Ausnahme Frankreichs würde es begrüßen, wenn das Saargebiet heute Deutschland übergeben, die Rechte der politischen Minderheiten sichergestellt und die untergeordnete wirtschaftliche Frage des Erwerbungspreises der Gruben geregelt würden. Hitler hat das gefordert. Vizekanzler von Papen, der Reichskommissar für das Saargebiet, hat erklärt, wenn das Saargebiet vom Völkerbund nicht freigegeben werden sollte, würde das eine ernsthafte Bedrohung des Friedens sein.

Das liegt auf der Hand. Deutschland würde sich niemals mit einem Verlust dieses offensichtlich deutschen Gebietes abfinden. Von allen Mißgriffen des Versailler Vertrages hat keiner sich als so reich an Explosivmöglichkeiten erwiesen wie die Saarregelung. Seiner Zeit schien sie eine vernünftige Möglichkeit zu sein, Frankreich für seine zerstörten Kohlengruben zu entschädigen. Heute scheint sie eine latente Gefahrenquelle erster Ordnung zu sein. Sie beschwört die Möglichkeit eines Krieges herauf in einem Augenblick, in dem Frankreich nach allen Seiten bekundet hat, daß es keinen Krieg wünsche. Wenn es eine Provokation für den sogenannten »Präventivkrieg« wünschte, könnte es sich eine solche im Saargebiet über Nacht schaffen. Sie könnte aber auch gegen seinen Wunsch kommen.

Das Saargebiet ist zu 60 % katholisch. Wenn seine Bevölkerung durch irgend eine Wendung des Schicksals, zum Beispiel etwa wegen eines erhöhten Drucks auf die Katholiken im Reich, schließlich doch gegen Deutschland stimmen sollte, wären die Folgen nicht abzusehen. Es wäre, wie ein Diplomat sich ausgedrückt hat, eine Katastrophe. Die Sozialdemokraten sagen, wenn Deutschland das Saargebiet bekomme, werde es sich seiner als eines Sprungbrettes nach Elsaß-Lothringen bedienen. Hitler andererseits hat erklärt, wenn die Saarfrage bereinigt sei, bleibe kein Streitpunkt zwischen Deutschland und Frankreich übrig. Das muß noch abgewartet werden, aber es ist klar, daß die Abstimmung nur zu sehr früher Zeit von Vorteil für Frankreich hätte sein können, zu einer Zeit, in der es das Saargebiet an Deutschland gegen irgend eine Konzession hätte verhandeln können.

Heute ist das Saargebiet noch eine Karte im französischen Spiel, aber die Karte ist kein Trumpf mehr. Deutschland ist praktisch sicher, eine Mehrheit bei der Abstimmung zu bekommen. Trotzdem würde Hitler gern der Möglichkeit aus dem Wege gehen, daß eine beträchtliche Anzahl von Deutschen außerhalb des Machtbereichs der Instrumente, über die das Dritte Reich zu Zwecken der politischen Überredung verfügt, gegen ihn stimmen könnte. Ihm wäre das Prestige lieb, das Saargebiet früher wieder zu gewinnen, als der Vertrag vorsieht.

Die Hitler-Gegner würden gern ihre Kraft beweisen, und sie sowohl wie die Franzosen würden gern dem Prestige Hitlers einen Schlag versetzen. Kein Ergebnis könnte den Endkampf zwischen Frankreich und Deutschland entscheidend beeinflussen. Die Franzosen scheinen um eines Stecknadelstiches willen, den sie ihrem Gegner zufügen könnten, bereit zu sein zuzulassen, daß eine wirkliche latente Kriegsursache sich zu einer Drohung für die ganze Welt auswachse. Sie sagen, sie können die politischen Minderheiten im Saargebiet nicht den Braunhemden der SA auf Gnade und Ungnade ausliefern. Aber das ist ein Problem, das Sache des Völkerbundes sein wird. Die Sonderkommission des Völkerbundes arbeitet bereits an dem Hitler vorzulegenden Vertrag, in dem er das Leben und die Gesundheit seiner politischen Gegner garantieren würde. Welche Garantien aber auch gegeben werden, wenn das Dritte Reich die Regierungsgewalt übernimmt, wird das Saargebiet sicherlich einen erneuten Strom von Flüchtlingen nach Frankreich entsenden.

Gestern war Danzig das Sorgenkind des Völkerbundes. Heute ist es das Saargebiet. Aber die beste Hoffnung auf die Erhaltung des Friedens hier bietet das Beispiel Danzigs. Dort hat Hitler gezeigt, daß er seine SA in der Hand behalten kann. Damit hat er das polnische Heer von Danzig ferngehalten. Seine Macht über die SA hier kann vielleicht das französische Heer dem Saargebiet fernhalten. Das ist eine Aussicht, eine gute Aussicht. Die einzige Garantie für den Frieden hier wäre aber eine Regelung vor der Volksabstimmung. Diese könnte nur im Rahmen einer allgemeinen deutsch-französischen Verständigung kommen. Die Wahrscheinlichkeit spricht nicht für eine solche Regelung. Die Saarabstimmung scheint heute mit ziemlicher Sicherheit ein Meilenstein mehr auf dem Weg zu Unruhen zu sein.


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