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Fünftes Kapitel.
Warschau

In ganz Warschau war ein einziges Licht zu sehen. Es war blau. Seine Flamme züngelte über der grauen Granitplatte, die das Grabmal des unbekannten Soldaten bezeichnet.

Aus dem Dunkel des großen Marschall Pilsudski-Platzes kamen Schritte. Die Flamme über dem Grabmal flackerte hoch auf und warf ihr blaues Licht auf einen Mann mit Gasmaske. Er blieb einen Augenblick stehen. Die Metallteile der Maske schimmerten gespenstisch, der Schatten der Maske fiel in Gestalt einer ungeheuren Schnauze auf den Portikus des Grabmals.

Der Mann war ein Beamter des polnischen Außenministeriums. Er ging von seinem Dienst heim. In dieser Nacht hatte Warschau eine Übung zur Abwehr von Luftangriffen. In dieser Nacht las das polnische Außenministerium seine Nachrichten bei Kerzenlicht. Und in dieser Nacht, da in Warschau zur Täuschung des Feindes keine einzige elektrische Flamme brennen durfte, hatte das polnische Außenministerium aus Berlin die wichtigste Nachricht erhalten, die seit dem Krieg aus Deutschland nach Warschau gekommen ist.

Hinter zugezogenen Vorhängen, hinter Fenstern, die mit Streifen gummierten Papiers verklebt waren, las das polnische Außenamt, daß der Gesandte Joseph Lipsky in Berlin mit Adolf Hitler gesprochen habe, und daß Hitler und Lipsky dahin übereingekommen seien, daß »Deutschland und Polen in ihren gegenseitigen Beziehungen auf jede Anwendung von Gewalt verzichten«.

Die Vorhänge waren zugezogen, damit das Kerzenlicht Warschau nicht feindlichen Fliegern verrate. Die Papierstreifen waren an die Fenster geklebt, um das Einströmen feindlichen Gases zu verhindern. Der angenommene Feind war Deutschland. Aber die Botschaft, die man las, besagte, daß Deutschland und Polen versprochen hätten, nicht zu kämpfen.

Diese einfache Erklärung wurde außerhalb des europäischen Kontinents nie gebührend gewürdigt. Nur Europa weiß, was für eine Sensation sie bedeutete. Es war das erste Mal, seitdem die Polen zu einer Nation geworden sind, daß Deutschland und Polen beruhigende Worte miteinander austauschten. Jeder lebende Deutsche hat das eine oder andere Mal geschworen, er würde sein Leben darum geben, den Korridor von Polen wiederzuholen. Jeder lebende Pole hat geschworen, er würde sein Leben darum geben, den Korridor gegen Deutschland zu verteidigen. Der deutsch-polnische Krieg war derjenige Zukunftskrieg, der »unvermeidlich« genannt wurde.

Nun erklären plötzlich beide Teile, daß sie aus keinem Anlaß miteinander kämpfen werden, und heute haben sie ihr Versprechen nun zu Papier gebracht und unterzeichnet. Sie nennen es einen Nichtangriffspakt, der zehn Jahre lang in Kraft bleiben soll.

Was bedeutet dieses Versprechen? Das ist die Frage, die heute Frankreich erregt, wenn es sein Bündnissystem überblickt und dann zu Deutschland hinübersieht, das in wenigen Jahren vielleicht viel mächtiger sein mag als Frankreich allein. Frankreich weiß, daß seine Sicherheit seit dem Krieg auf drei Faktoren basiert: auf seinem Gold, auf seinen Kanonen, auf seinen Verträgen. Seine Verträge schmiedeten eine Kette um Deutschland. Nächst Frankreich selbst war das stärkste Glied in dieser Kette Polen. Der polnisch-französische Militärvertrag sieht bedingungslose gegenseitige Hilfe bei der Verteidigung vor. Dieser Vertrag wurde möglich, weil sich Polen und Frankreich in gleichem Maße von Deutschland bedroht fühlten. Nun hat Polen nach Verhandlungen, deren Heimlichkeit die Franzosen überaus beunruhigt hat, versprochen, nicht gegen Deutschland zu kämpfen. Die Franzosen sind ehrlich erschrocken und fragen: »Würde Polen jetzt Frankreich zu Hilfe kommen, wenn Deutschland Frankreich angreifen sollte?« Die Antwort hängt ganz davon ab, wie groß das Vertrauen ist, das Polen Deutschlands Versprechen, Polen nicht anzugreifen, entgegenbringt.

Joseph Beck, Oberst der polnischen Armee, ist der Außenminister Polens. Er von allen Männern könnte sagen, was Polen von Hitlers Versprechungen hält. Ich sprach ihn, bevor der formelle Pakt bekannt gegeben wurde. Oberst Beck wohnt in dem Palais eines alten polnischen Aristokraten im Herzen Warschaus. Man erreicht es durch eine Allee, auf deren Bäumen der Rauhreif glitzert. An der Tür des altmodischen Salons war es nicht mehr kalt, aber Oberst Beck rief, während er seinen Mantel ablegte, nach Sherry. Der Sherry kam, in einer Flasche, auf der der feine graue Staub eines ganzen Jahrhunderts lag.

»So, Sie machen also eine Enquête über den nächsten Krieg. Als Vorkriegskorrespondent sozusagen. Wenn Sie einen Sohn haben und er gleichfalls Korrespondent wird, wird er hoffentlich auch noch Vorkriegskorrespondent sein!«

Der Oberst ist ein hochgewachsener brünetter Mann mit markanten, kräftigen Zügen. Seine ganze Haltung sagt: »Keine Dummheiten!« Er ist in erster Linie Soldat, Diplomat erst in zweiter. Seine Sätze sind hart und gefeilt. Wie jeder Pole betrachtet er sein Land als Großmacht. Frankreich hat Lust gezeigt, das zu bezweifeln. Das behagt keinem Polen.

»Es ist sehr bedeutsam«, erklärte er, »daß man in Frankreich nichts, aber auch nicht das geringste von einer Neigung zu einer aggressiven Außenpolitik finden kann. Darum kann alles, was Polen auch unternehmen mag, um seine Beziehungen mit Deutschland zu bereinigen, lediglich mit der französischen Politik in Übereinstimmung stehen. Unsere Verträge mit Frankreich haben keinen aggressiven Charakter. Daraus folgt logisch, daß keines der Resultate, zu denen die deutsch-polnischen Verhandlungen führen mögen, von Einfluß auf die polnisch-französischen Verträge sein kann.«

Dies war die formelle Erklärung. Dahinter steht die Tatsache, daß der französische Generalstab im Anfang des Jahres 1933 darüber diskutierte, ob es klug wäre, gegen Deutschland einen Präventiv-Krieg zu führen. Polen, so wurde damals berichtet, wäre unter Umständen bereit gewesen, zu helfen, es hätte Ostpreußen, Danzig und so weiter besetzen können. Doch Frankreich marschierte nicht. Es wurde nichts aus dem Präventiv-Krieg. Sollte Polen, das sich gleichfalls als Großmacht fühlt, bloß darauf warten, ob Frankreich es sich vielleicht überlegen würde? Polens Antwort lautete: »Nein.«

Seine erste Möglichkeit, sich dem schürenden Arm Frankreichs zu entziehen, kam, als Deutschland aus dem Völkerbund austrat. Seit dem Krieg hat der Völkerbund ununterbrochen zwischen Polen und Deutschland vermittelt. Nun, da der Mittler nicht mehr da war, wandte sich Polen direkt an Deutschland und bat um eine Unterredung. Die Unterredungen wurden ohne Frankreich geführt. Jetzt kommt der Pakt und Frankreichs Besorgnis ist groß.

Denn der Pakt bedeutet, daß fünfzig Prozent der Aussichten auf einen Präventivkrieg gegen Deutschland verschwunden sind. Wenn der Präventivkrieg noch eine ferne Möglichkeit war, ist diese Möglichkeit jetzt doppelt so weit hinausgerückt. Das ist offenbar der Grund dafür, daß Deutschland den Pakt jetzt wünschte.

Der Oberst sprach mit einiger Ironie weiter: »Da Polen nicht imstande ist, einen Weltfrieden für alle zu ersinnen, da Polen nicht die ganze Welt reorganisieren kann, ergibt sich für uns die Notwendigkeit, gelegentlich auch in unseren eigenen Problemen einen Schritt weiterzukommen. Indem wir so für Polen arbeiten, arbeiten wir ebenso ehrlich für den Frieden des Kontinents.«

Er ist offenbar verärgert darüber, daß man an Polen, dem so lange vorgehalten wurde, daß es in ewigem Hader mit Deutschland sei, jetzt Kritik übt deshalb, weil es Freundschaft mit Deutschland schließt. »Jeder polnische Außenminister«, rief er aus, »hatte unter der traditionell gewordenen falschen Ansicht zu leiden, daß Polen der Mittelpunkt des europäischen Unruheherdes sei, daß die Existenz Polens den Frieden auf dem Kontinent erschwere. Das ist absolut unrichtig.

Es wurde für unmöglich gehalten, daß Polen und Rußland jemals zusammenkommen könnten, daß Polen und Danzig jemals zusammenkommen könnten, daß Polen und Deutschland auch nur miteinander sprechen könnten. Jetzt sehen Sie, was Tatsache geworden ist: ein polnisch-russischer Nichtangriffspakt, Vereinbarungen mit Danzig, und die polnisch-deutschen Erklärungen. Ich gehe so weit zu sagen, daß die Angelegenheiten in Osteuropa heute besser geordnet sind, als irgendwo sonst auf dem Kontinent.«

Vier Jahre lang war Polen einer Nuß zu vergleichen, die zwischen den Backen eines gewaltigen Nußknackers liegt. Auf der einen Seite war, voll bitterer Feindseligkeit, das ungeheure Rußland, auf der anderen Seite, heftig drohend, die potentiell größte Militärmacht des Kontinents, Deutschland. Heute hat Polen mit beiden Nichtangriffspakte. Sein Friede mit Deutschland mag ein Separatfriede sein, vom französischen Standpunkt aus ein Verrat. Deutschland hat die Sicherheit gewonnen, daß es bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Heer die volle Stärke gewonnen hat, von Polen nichts zu fürchten braucht. Aber Friede ist Friede, und auch ein Separatfriede zwischen Deutschland und Polen bedeutet eine Kriegschance weniger für die nächste Zukunft.

*

In einer der Schwadronen, die bei der letzten großen Parade in Krakau am Marschall Joseph Pilsudski im Galopp vorüberdefilierten, hielt sich ein einundzwanzigjähriger polnischer Kavallerist nur mit Mühe im Sattel. Oben kreisten dreihundert Flugzeuge, und über das Gelände fegten sechzehn Kavallerie-Regimenter. Damals war der kleine Kavallerist nicht mehr als einer von fünfzehntausend Soldaten, aber heute ist »der Große Kleine Zurawel« ein Nationalheld, dessen Ruhm mit erklären hilft, weshalb Polen der Überzeugung ist, es könne seiner militärischen Zukunft voll Zuversicht ins Auge blicken.

Als die Parade vorüber war, wurde der »Kleine Zurawel« ohnmächtig. Erst dann erfuhren seine Kameraden, daß er sich drei Tage vorher das Bein gebrochen hatte, dann drei Tage lang während des Marsches nach Krakau weiter geritten war und seine Verletzung geheim gehalten hatte, weil er unbedingt den Marschall Pilsudski sehen wollte.

Die Deutschen wissen eine ähnliche Geschichte zu berichten. Bei dem letzten großen Motorrad-Rennen in Deutschland hatte ein SA-Mann in Leipzig einen Unfall, fuhr aber den ganzen Weg nach Berlin mit gebrochenem Arm weiter und wurde erst ohnmächtig, als er das Ziel passiert hatte. Aber Nazi-Deutschland, das moderne Sparta, hat kein Monopol auf das persönliche Heldentum seiner Jugend.

Der polnisch-deutsche Krieg rangierte in dem von Kriegsangst erfüllten Europa an erster Stelle unter allen Befürchtungen. Deutschland hat seinen Hitler und seinen Hindenburg. Polen hat sie beide in einem Mann, in Pilsudski. Beide Länder haben ihre Helden in Marschallsuniform und aus den Reihen der gemeinen Soldaten. Heute haben diese beiden Länder, einstmals die erbittertsten Feinde, einen Waffenstillstand unterzeichnet, einen zehnjährigen Nichtangriffspakt.

Wie könnten 32 Millionen Polen es wagen, 65 Millionen Deutschen zu vertrauen, die es seit jeher nach polnischem Boden verlangt hat? Gibt es einen Menschen, der sich vorstellt, Deutschland könnte seine Korridor-Ansprüche aufgeben? Liegt es nicht auf der Hand, daß Hitler nur Zeit gewinnen will? Liegt es nicht auf der Hand, daß er nichts anderes will, als die Polen in ein Gefühl der Sicherheit einwiegen und sie so davon abhalten, daß sie gegen Deutschland zu Felde ziehen, bevor es mit seiner Wiederaufrüstung fertig ist?

Das sind die Fragen, die sich die Welt stellte, als Polen seine Verhandlungen mit Hitler einleitete. Hier in Warschau wissen die Polen den Waffenstillstand gut zu begründen.

Ihre Argumentation lautet ungefähr folgendermaßen: »Vor allem haben wir ein Heer von 266 000 Mann, das, dank den Munitionsfabriken der polnischen Regierung, gut ausgerüstet ist. Wir besitzen eine ausgezeichnete Luftflotte von 700 erstklassigen Flugzeugen. Unsere geographische Lage zwingt uns dazu, ein Soldatenvolk zu sein. Wir haben eine ganze Menge Kritik vom Ausland zu hören bekommen, weil wir ein Drittel unseres Budgets an das Heer wenden, aber heute, seit Hitler an die Macht gekommen ist, sind diese Kritiken verstummt. Und obwohl unser Heer auch vielleicht bei weitem nicht so groß ist wie die Armee, die Deutschland eines Tages aufzustellen imstande sein mag, denken wir stets daran, daß das polnische Heer noch nie geschlagen worden ist.

Als Hitler an die Macht gelangte, waren wir nicht überrascht. Wir wußten, daß man in Deutschland auch schon aufrüstete, bevor Hitler kam. Der einzige Unterschied ist der, daß man jetzt rascher daran arbeiten wird. Es ist durchaus richtig, daß unser Waffenstillstand Hitler nur umsomehr das Gefühl der Sicherheit geben wird, er werde nun die Zeit haben, die zur Aufrüstung notwendig ist. Aber was konnten wir tun?

Wir konnten nur eines von zwei Dingen tun: einen Präventivkrieg führen oder nicht Krieg führen. Allein konnten wir nicht Krieg führen. Frankreich rührte sich nicht. Darum konnten auch wir uns nicht rühren. Nun, da wir uns entschlossen haben, nicht Krieg zu führen, ist es da nicht besser, den Frieden mit Deutschland so sicher wie möglich auszubauen und uns so viel wie möglich für die Zukunft versprechen zu lassen?

Wir lassen uns durch Hitlers freundschaftliche Haltung nicht einlullen. Wir glauben nicht, daß Deutschland seine Ansprüche auf den Korridor aufgibt. Aber sehen wir doch einmal, wie die Lage jetzt ist, da wir von Hitler das Versprechen haben, er werde zehn Jahre lang nicht kämpfen.

Das bedeutet, daß Deutschland zehn Jahre lang aufhören muß, Korridoragitation zu treiben. Und das wiederum bedeutet, daß mit jedem Jahr, das ins Land geht, die Umwelt sich mehr und mehr an die Tatsache gewöhnen wird, daß der Korridor polnisch ist. Die deutschen Argumente werden vergessen werden. Allerdings, Hitler könnte ohne weiteres die Korridorfrage auf ein Jahrzehnt aus den deutschen Zeitungen verbannen und dann in zwei Wochen wieder eine wahre Raserei in seiner Nation entfachen. Aber dann würde die öffentliche Meinung in England und Amerika Deutschlands Ansprüchen gegenüber skeptisch sein. Wenn Deutschland aufgerüstet hat und Hitler bereit ist, die Korridorfrage wieder zu beleben, wird die Entscheidung nicht bei Deutschland und Polen allein ruhen. Die Entscheidung wird von England und Amerika getroffen werden. Darum kann ein Waffenstillstand mit Deutschland, der dazu beitragen wird, die öffentliche Meinung Englands und Amerikas auf unsere Seite zu bringen, für uns nur von Vorteil sein.«

Das ist das wichtigste politische Argument für einen polnisch-deutschen Waffenstillstand. Aber die Polen bauen auch sehr auf die Tatsache, daß ihre Bevölkerung um so viel rascher als die deutsche wächst, daß die Zeit in dieser Hinsicht für Polen arbeitet. Sie werden ermutigt durch die Schätzungen des offiziellen deutschen Statistikers Friedrich Burgdörfer, aus denen hervorgeht, daß einerseits in Deutschland die Anzahl der Männer im Militäralter zwischen zwanzig und fünfundvierzig Jahren von 12 438 000 im Jahre 1930 wohl auf 13 107 000 im Jahre 1940 steigen, dann aber auf 11 677 000 im Jahre 1960 absinken wird, während andererseits in Polen die Anzahl der Männer derselben Altersklasse von 5 222 000 im Jahre 1930 stetig auf 6 230 000 im Jahre 1940 und weiter auf 8 184 000 im Jahre 1960 steigen wird.

Nicht-polnische Kritiker jedoch neigen zu der Annahme, daß die deutschen Rüstungen in bedeutend rascherem Tempo vor sich gehen können als die polnische Bevölkerungszunahme. Wie denken die Polen über das mögliche Tempo der deutschen Aufrüstung?

Das ist eine Frage, die entscheidend für die polnische Haltung gegenüber dem Präventivkrieg gewesen sein muß. Ich befragte einen der bedeutendsten militärischen Sachverständigen in Polen. »Ich kann im Gegensatz zu anderen nicht der Ansicht sein«, erklärte er, »daß Deutschland, auch wenn es zwei bis fünf Jahre Zeit hat, daran zu arbeiten, militärisch so stark werden könnte, wie es 1914 war. Selbst fünf Jahre wären noch zu wenig.

Gewiß«, sprach er weiter, »könnte Deutschland zahlenmäßig so stark werden, wie es 1914 war. Es könnte ebenso viele Soldaten haben. Aber wie wäre es um ihre Ausbildung bestellt? Vier gute Gründe lassen sich dafür nennen, warum Deutschland in einem Zeitraum von fünf Jahren wohl kaum wirksam aufrüsten kann.

Erstens wird es lange dauern, all die verschiedenen militärischen Organisationen Deutschlands – die SA, die SS, den Stahlhelm und so weiter – zu einer wirklich einheitlichen disziplinierten Armee zusammenzuschweißen.

Zweitens muß alles versteckte Kriegsmaterial, das Deutschland besitzen mag, von minderer Qualität sein – Material leidet, wenn es versteckt wird.

Drittens sind alle sogenannten Modellwaffen, die es bekommen oder schon besitzen mag, also etliche Tanks, etliche Kampfflugzeuge und etliche schwere Geschütze, eben wirklich nur Modelle, und wenn solche Waffen im Kriegsfall von Nutzen sein sollen, muß man Tausende von ihnen haben.

Aber nehmen wir viertens an, Deutschland beginne ganz offen aufzurüsten. Was heißt das? Es heißt in erster Linie, daß das Heer sich an die große Vielfalt der komplizierten mechanisierten Waffen gewöhnen muß, die von so großer Bedeutung für die moderne Kriegsführung sind. Ich denke nicht bloß an die gemeinen Soldaten. Die gemeinen Soldaten werden in den meisten Ländern mit stehenden Heeren ohnedies nur ein oder zwei Jahre lang ausgebildet. Aber in Deutschland werden nur sehr wenige Offiziere und Unteroffiziere mit der praktischen Handhabung dieser neuen Waffen vertraut sein, auch wenn sie sie theoretisch noch so gut studiert haben. Und die Ausbildung dieser Offiziere, das will sagen, die Ausbildung der Männer, deren Aufgabe es sein wird, den gemeinen Soldaten auszubilden, wird Jahre in Anspruch nehmen.

Sehen Sie sich bloß die Luftwaffe an. Soweit den deutschen Offizieren eine Ausbildung in der Militärfliegerei überhaupt möglich war, handelte es sich nur um heimliche Ausbildung. Etwas überaus Unbefriedigendes. Nein, man braucht viel Zeit dazu, ein modernes Heer zu schaffen.«

Die Ansicht dieses einen Fachmannes ist wichtig, weil sie typisch ist für die polnische Meinung überhaupt. Wenn die Polen geglaubt hätten, daß Deutschland mit einem einzigen Nazi-Sprung auf seine alte Stelle an der Spitze der europäischen Heere rücken könnte, hätten sie vielleicht einen Präventivkrieg geführt.

Aber Polen glaubt: ein Waffenstillstand mit Deutschland werde Polen den Korridor erhalten; die größere Fruchtbarkeit der Polen werde dafür sorgen, daß die Zeit für Polen gegen Deutschland arbeitet; und, schließlich, Deutschland werde mehr als fünf Jahre brauchen, um kampfbereit zu sein. Das sind die wahren, nüchternen Gründe dafür, weshalb Hitler bei der diplomatischen Offensive, die er zur Zertrümmerung der geeinten Alliiertenfront führt, der erste Erfolg allem Anschein nach in Polen beschieden war.


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