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Als Louis Barthou sich vor vierzig Jahren in sein Büro im französischen Ministerium für öffentliche Arbeiten begab, las er im Temps etwas über sich selbst. Er wurde »der jüngste Minister Frankreichs« genannt. Damals zählte er einunddreißig Jahre.
Zwanzig Jahre später brachte Louis Barthou, französischer Ministerpräsident, ein Gesetz durch, demzufolge die Militärdienstzeit auf drei Jahre verlängert wurde. Ein Jahr später brach der Krieg aus, und Frankreich wußte Barthou Dank.
Heute ist Louis Barthou als Einundsiebzigjähriger zum achtzehntenmal französischer Minister geworden, diesmal Minister des Äußeren, und zwar in einem Augenblick, in dem viele Anzeichen so manchen Beobachter dazu gebracht haben, Vergleiche zwischen 1934 und 1914 zu ziehen.
Kein Franzose ist heute berufener als er, die Möglichkeiten für Krieg oder Frieden auf diesem Kontinent abzuschätzen. Er stand auf dem Achterdeck, als vor zwei Jahrzehnten der Kriegssturm aufzog. Und er hat wieder Frankreichs diplomatisches Steuer in den Händen, während der Horizont sich verfinstert und die Sturmflaggen gehißt sind. Er will nicht den Frieden voraussagen.
Als Louis Barthou, Mitglied der französischen Akademie, reich an Ehren, diesmal ein Amt annahm, das ihm wenig Ehre mehr, aber ein gewaltiges Anwachsen seiner Sorgen bringen konnte, las er nicht im Temps, sondern in einem deutschen Lexikon, daß »Herr Barthou durch sein Gesetz der dreijährigen Militärdienstzeit zu der Zahl derer gehöre, die in erster Linie für den Ausbruch des Krieges verantwortlich sind.«
»Das ist falsch«, rief der Minister aus, der in dem mit Wandteppichen behängten Arbeitszimmer des Quai d'Orsay saß, wo seine Vorgänger von Tayllerand bis Briand über die Probleme des letzten und des nächsten Krieges nachgedacht haben. »Das Gesetz zur dreijährigen Militärdienstzeit war ebenso wenig eine Kriegsprovokation, wie unsere jetzigen Vorbereitungen zur Verteidigung eine Kriegsprovokation sind. Es war einfach eine Maßnahme des Selbstschutzes.
Wir erfuhren, daß die Deutschen ihre Effektivstärken gewaltig vergrößerten. Uns blieb nichts anderes übrig, als mit einer Vergrößerung der unseren zu antworten. Ich für meine Person habe keine Ursache, mich dessen zu schämen, daß ich die Verteidigungsfähigkeit meines Landes verbessert habe, umsomehr als die Ereignisse, zu denen es später kam, bewiesen haben, wie verzweifelt notwendig diese Verteidigungsmaßnahmen waren.
Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, an dem Zustandekommen eines Gesetzes mitgearbeitet zu haben, das im letzten Grunde vielleicht Frankreich vor der Niederlage bewahrt hat.«
Er rieb sich den Bart und blickte mit klaren Augen durch seine randlose Brille. Präsident Barthou ist wahrscheinlich von den sechs früheren französischen Ministerpräsidenten in Gaston Doumergues Starbesetzung der Figur nach der Kleinste, aber der Temperamentloseste ist er ganz entschieden nicht.
»Aber Herr Präsident, wäre es denn dann nicht besser gewesen, das Gesetz schon früher einzubringen, sagen wir 1912?«
»Ah nein, im August 1913 wurde das Gesetz angenommen. Und das war auch der früheste Augenblick dafür. In einem demokratischen Land wie Frankreich, das von seinem Parlament geleitet wird, muß das Volk von der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme überzeugt sein, bevor es sie akzeptiert. Früher hätte das Volk sie nicht akzeptiert. Es hätte jede Regierung gestürzt, die einen darauf abzielenden Versuch unternommen hätte.«
Der Minister sagte es nicht ausdrücklich, aber es ist Tatsache, daß gerade in dieser Hinsicht viele Personen von Gewicht in Frankreich die stärkste Parallele mit der Situation 1913/14 sehen. Die französischen Soldaten dienen heute ein Jahr. Der Franzose hält es für eine unbestreitbare Tatsache, daß die Deutschen ihre »Effektivstärke vermehren«. Aber die öffentliche Meinung Frankreichs ist heute für eine Ausdehnung der Dienstzeit auf nur achtzehn Monate ebenso wenig vorbereitet, wie sie es im Jahre 1912 für das Dreijahres-Gesetz gewesen wäre.
Im Gegenteil, Herr Barthou erklärte mit Nachdruck: »Ich glaube nicht, daß die achtzehnmonatige Dienstzeit schon notwendig ist. Wir sind vorbereitet. Wir wollen keinen Krieg. Wenn er kommt, findet er uns vorbereitet.«
Aber in anderer Hinsicht hält Herr Barthou die Ähnlichkeiten zwischen 1914 und 1934 für äußerst bedrohlich. »Im letzten Jahr«, sagte er, seine Brille abnehmend und sich mit beiden Ellenbogen auf den Tisch stützend, »habe ich für eine unserer politischen Wochenschriften einen Überblick über die europäische Situation geschrieben. Darin vertrat ich mit aller Entschiedenheit die Ansicht, daß es wenigstens im Jahre 1934 keinesfalls zum Krieg kommen würde. Ich muß sagen, daß ich die von mir in diesem Artikel vertretene Ansicht nicht mehr aufrecht erhalten kann.
Warum? Was ist der Grund dafür? Um es mit einem Wort zu sagen: Österreich. Es besteht eine überaus auffallende Analogie zwischen der Lage Österreichs 1934 und der Lage Serbiens 1914. Serbien war damals vom österreichisch-ungarischen Reich bedroht. Rußland bestand darauf, daß die Unabhängigkeit Serbiens nicht verletzt werde. Dieser Konflikt führte zum Weltkrieg. Heute wird Österreich in seiner Unabhängigkeit von Deutschland bedroht. Auf der anderen Seite sind die Großmächte und die Kleine Entente, die auf der Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit bestehen. Die Parallele zwischen Österreich und Serbien ist beunruhigend, ja, man möchte fast sagen, bestürzend. Auf jeden Fall macht sie es unmöglich, auch nur für dieses Jahr 1934 positiv vorauszusagen, daß es nicht zum Krieg kommen werde.
Aber«, rief er und fuchtelte mit seiner Brille herum, um vor voreiligen Schlußfolgerungen zu warnen, »nichtsdestoweniger ermutigt mich ein Umstand zum Glauben, zur Hoffnung, daß es auch 1934 keinen Krieg geben werde. Ich denke an die letzte diplomatische Note, die im Zusammenhang mit der österreichischen Frage der deutschen Regierung von den Regierungen Großbritanniens, Italiens und Frankreichs überreicht wurde.
Es war eine kurze Note. Sie enthielt eigentlich nur zwei Sätze. Aber meiner Meinung nach war sie das wichtigste diplomatische Ereignis seit Jahren. Denn sie bewies die Solidarität dieser drei Mächte in einer Angelegenheit, die von vitaler Wichtigkeit für den Frieden Europas ist.
Sie erinnern sich, daß jede dieser drei Mächte vorher einzeln Vorstellungen bei der deutschen Regierung gemacht hatte, in denen sie ihr Interesse an der Aufrechterhaltung der österreichischen Unabhängigkeit bekundete. Diesmal aber handelten sie gemeinsam. Gewiß, ich habe kein positives Zeichen von Berlin beobachtet, aus dem zu schließen wäre, daß die Haltung der deutschen Regierung sich infolge dieser gemeinsamen Aktion geändert hätte. Aber trotzdem neige ich stark zu dem Glauben, daß diese Aktion bereits jeden abenteuerlichen Schritt von Seiten Deutschlands unwahrscheinlich gemacht hat.
Überdies ist, und das ist meine große Hoffnung für die Erhaltung des Friedens, diese Solidarität, die Großbritannien, Italien und Frankreich in der österreichischen Frage bewiesen haben, auch in der Entwaffnungsfrage gezeigt worden und wird in ihr Tag für Tag bestätigt. Erhalten wir uns diese Solidarität, und die Frage, ob Krieg oder Frieden, wird rein akademisch bleiben.«
Nun reckte sich der kleine Minister in seinem Stuhl und machte die bedeutsame Bemerkung: »Wenn es auf der ganzen Welt einen Mann gibt, der heute den Frieden will, dann ist es Hitler. Wie seine Lage in der Zukunft sein mag, wenn die deutsche Aufrüstung einmal die Empfindungen seines Volkes geändert hat, zu welchen Folgen die innere Entwicklung in Deutschland führen mag, das kann niemand sagen. Aber heute, glaube ich, müssen wir Hitlers Worten glauben: er will nicht den Krieg.
Wir, die wir den Krieg erlebt haben, wissen nur allzu gut, was er bedeutet. Es ist nicht anzunehmen, daß Menschen, die dieses Erlebnis gehabt haben, seine Wiederholung wünschen.«
»Und das Saargebiet, Herr Präsident? Würde nicht ein Gefahrenpunkt entfernt werden, wenn die Saarfrage durch ein Abkommen zwischen Frankreich und Deutschland bereinigt würde?«
»Da«, rief er, »liegen auch meiner Meinung nach Explosivmöglichkeiten. Es sind Entwicklungen möglich, die jede Voraussage über die Wahrscheinlichkeit einer Erhaltung des Friedens zu Schanden machen können. Aber die Lage Frankreichs ist klar. Wir haben das oft genug wiederholt. Die Saarfrage ist nicht eine französisch-deutsche Frage. Es ist eine Frage, die alle Signatare des Versailler Vertrages betrifft. Die Verwaltung des Saargebietes, die Veranstaltung der Volksabstimmung ist Sache des Völkerbundes, und zwar des Völkerbundes allein. Frankreich hat keine andere Wahl, als die Regelung der Saarfrage so hinzunehmen, wie der Vertrag sie vorsieht.«
»Und die Habsburger, Herr Präsident? Würde Frankreich einer Restaurierung der Habsburger in Österreich zustimmen?«
»Die französische Lage«, antwortete der Minister vorsichtig, »ist so, daß wir einfach an der Aufrechterhaltung der österreichischen Unabhängigkeit interessiert sind. Aber wir haben unsere Verträge mit der Tschechoslowakei und mit Jugoslawien. Deren Opposition gegen die Restaurierung der Habsburger ist sehr stark. Wir können sie nicht außer acht lassen.«
Die Ansichten, zu denen der französische Minister des Auswärtigen auf Grund seiner heutigen Beobachtungen im Verein mit seinen vierzigjährigen Erfahrungen von der europäischen Politik gekommen ist, sind zusammengefaßt die folgenden:
1. Der Krieg ist nicht wahrscheinlich, aber möglich, sogar noch 1934.
2. Hitler will jetzt nicht den Krieg, aber die Ereignisse können alle, wie stark auch ihre Friedenssehnsucht sein mag, überrumpeln.
3. Der größte Gefahrenpunkt ist Österreich, der zweitgrößte das Saargebiet.
4. Der Friede kann nur durch die Solidarität Frankreichs, Englands und Italiens gerettet werden.
Der französische Minister des Äußeren leidet weder an Kriegsangst noch an Friedensblindheit. »Ich würde«, bemerkte er abschließend, »gern etwas aus einem Essay von Herbert Spencer zitieren, da Sie die Frage stellen: ›Kommt Krieg?‹ Spencer leitet diesen Essay mit dem Satz ein: ›Nur das Unvorhergesehene geschieht.‹ Da das, was geschehen wird, das Unvorhergesehene sein wird, kann ich nicht den Versuch wagen, es voraussehen zu wollen.«
*
Es wird keinen »Präventivkrieg« geben. Frankreich wird nicht, um einen Krieg zu verhüten, von dem es meint, es könnte ihn morgen gegen Deutschland verlieren, einen Krieg anzetteln, von dem es meint, es könnte ihn heute gewinnen.
Das ist die wichtigste, für den Frieden sprechende Feststellung, die gegen Ende dieser Reise, die durch alle mit Frankreich verbündeten Länder und in die französische Hauptstadt selbst geführt hat, mit aller Unbedingtheit gewagt werden kann.
Die Gründe dafür, daß eine derartige Prophezeiung bei voller Kenntnis der Gefahren des Prophezeiens überhaupt gewagt werden kann, sind:
1. Die profunde Friedensliebe, die heute das französische Volk beherrscht.
2. Die französischen Befestigungen.
3. Der polnisch-deutsche Nichtangriffspakt.
4. Die ungewisse Haltung Italiens.
5. Die unmißverständliche Haltung Englands gegen einen solchen Krieg.
6. Die Fortschritte, die Deutschland bereits auf dem Wege zur Aufrüstung gemacht hat.
Der französische Wunsch nach Frieden ist etwas ganz anderes als Pazifismus. Ein französischer sozialistischer Professor sagte mir: »Lieber einen deutschen Gouverneur in Paris als einen Krieg.«
Das ist Pazifismus, radikaler, kompromißloser Pazifismus. Aber es ist nicht der Geist Frankreichs. Jeder andere Franzose, dem gegenüber diese Äußerung zitiert wurde, rief aus: »Der Mensch steht ganz allein. Sie könnten in ganz Frankreich keine tausend Männer finden, die sich auf diesen Standpunkt stellen würden.«
Das andere Extrem vertrat ein hervorragender französischer Publizist, der ausrief: »Präventivkrieg! Unmöglich! Es tut mir leid, es tut mir ungemein leid, es sagen zu müssen, aber das kommt nicht in Frage.«
In der Mitte, als Vertreter der kleinen Gruppe von Franzosen, die sich ihre Meinung auf Grund guter Informationen bilden, stand ein Mitglied der Regierung, das erklärte: »Wir wissen, daß Deutschland aufrüstet. Wir wissen, daß seine potentielle Kriegsstärke größer ist als unsere. Wir wissen, daß es nicht lange dauern kann, bis Deutschland uns militärisch überlegen ist, wenn es seine potentielle Stärke in wirkliche Rüstungen umsetzt. Und wir wissen auch, daß es, sobald es uns überlegen wird oder sich für uns überlegen hält, noch größere Forderungen an uns stellen wird.
Wir wissen auch, daß einmal eine Zeit kommen muß, in der diese Forderungen so groß sein werden, daß sie nicht erfüllt werden können. Es wird einen Moment geben, in dem Frankreich wird ›Nein‹ sagen müssen. In diesem Augenblick wird der Krieg beginnen, und wenn er unter solchen Umständen beginnt, bedeutet das, daß der Krieg Frankreich so sehr im Nachteil finden wird, wie er heute Deutschland fände.
Logischerweise müßten wir also jetzt Krieg führen. Aber wir können nicht. Denn das französische Volk als Gesamtheit hat keine Ahnung davon, was die deutsche Gefahr bedeutet. Die öffentliche Meinung Amerikas und Englands ist durch ihre Zeitungen viel besser informiert worden als die französische öffentliche Meinung. In ganz unklarer Weise, irgendwo weit hinten in ihrem Bewußtsein, ahnen die französischen Massen, daß an der anderen Seite des Rheins ein größeres, stärkeres Deutschland im Erstehen begriffen ist, und ab und zu überkommt sie ein Gefühl des Unbehagens, aber sie sind noch nicht erschrocken genug, um ihren Glauben daran aufzugeben, daß man die Sorgen des morgigen Tages dem morgigen Tag überlassen soll.«
Diese Interpretation der Haltung, die die französischen Massen einnehmen, ist allgemein. Sie glauben, daß ihre Befestigungen genügen, um sie zu beschützen. Ein auswärtiger Beobachter jedoch, ein Neutraler, hat bemerkt, daß der Historiker in hundert Jahren vielleicht feststellen wird, der Niedergang Frankreichs beginne mit dem Bau dieser stählernen Mauer an seiner Ost- und seiner Nordgrenze. Denn die Mauer hat es dem französischen Soldaten unmöglich gemacht in Betracht zu ziehen, daß er über die Mauer hinausgehen könnte. Sie hat das französische Heer auf die Dauer zu einem Defensivinstrument gemacht.
Hat sie die Luftstreitkräfte auch zu etwas streng Defensivem gemacht? Die beste Autorität zur Beantwortung dieser Frage ist General Joseph Denain, der erste Berufssoldat, der Luftfahrtminister ist.
General Denain bewohnt funkelnagelneue Räume in dem funkelnagelneuen Luftfahrtministerium in der Avenue Victor. Mehr als ein ganzer Häuserblock wird von dem Gebäudekomplex eingenommen, in dem die Militärfliegerschule, das Fliegermuseum und das Ministerium untergebracht sind. Es sind die modernsten Gebäude in Paris. Mit ihren geraden Linien erinnern sie an die deutsche Architektur.
Ein betagter französischer Sergeant führte uns zum Fahrstuhl, aber der Fahrstuhl funktionierte nicht. Endlich fuhr er los, aber das Licht brannte nicht. Wir fuhren im Dunkeln hinauf.
Im sechsten Stockwerk hat der Minister seine Büros. Es ist ein großer Raum mit einem Atelierfenster, einer zweigeteilten Decke, eine Säule nicht ganz in der Mitte und Stahllampen. Es ist so modern wie das französische Militärluftfahrtprogramm.
General Denain, der Zivil trägt, ist ein großer, brünetter, schwarzhaariger Mann voll Höflichkeit, aber auch voll Reserve. Er hörte sich einen Bericht über die Befürchtungen an, von denen man in Deutschland gesprochen hat, die Befürchtungen, daß die französische Luftflotte eines Tages der Abrüstungsdebatte praktisch ein Ende setzen könnte, indem sie Deutschland überfliegt und, nach einer Aufforderung an die Einwohner, sich in Sicherheit zu bringen, die deutschen Munitionsfabriken, Flugzeugwerke und Stützpunkte vernichtet, welche die Franzosen gemäß dem Versailler Vertrag als ungesetzmäßig betrachten.
»Das«, bemerkte er, »hört sich an wie ein schlechter Witz. Ich kann mir nicht vorstellen, daß auch nur ein ernsthafter Deutscher eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen könnte. Ein großes und stolzes Land wie Deutschland könnte eine solche Handlung nur mit einer Kriegserklärung erwidern. Wir wollen keinen Krieg.
Die französische Luftflotte ist da, um Frankreich zu verteidigen, und keineswegs, um jemand anzugreifen. Wir bemühen uns jetzt, sie zu verbessern. Für den Fortgang der Reorganisation halten wir die Qualität für viel wichtiger als die Quantität. Unser Bestreben geht nicht nach mehr Flugzeugen, sondern nach besseren.«
Der General wollte über das Stadium, das die deutsche Aufrüstung in der Luft aller Wahrscheinlichkeit erreicht hat, keine Meinung äußern, aber eines sagte er: »Je mehr Flugzeuge Großbritannien baut, desto lieber ist es uns. Und, wenn ich so sagen darf, ich neige zu der Ansicht, daß es Großbritannien umso lieber sein muß, je mehr und je bessere Flugzeuge wir bauen. Ich bin von ganzen Herzen einverstanden mit dem Propagandafeldzug, den Lord Rothermere für die Verbesserung der britischen Luftflotte führt. Unsere Interessen in dieser Hinsicht sind gemeinsam.«
Ich fragte den General, ob er glaube, daß im nächsten Krieg ein stillschweigendes Einverständnis darüber herrschen werde, die Städte des Feindes nicht zu bombardieren, oder ob die Luftflotten die feindlichen Hauptstädte, um die Zivilmoral zu brechen, angreifen und so alle für den Zukunftskrieg vorausgesagten Schrecken wahr machen würden.
Er antwortete: »Die französische Luftflotte ist nicht da, um Zivilisten anzugreifen, aber wenn wir angegriffen werden, werden wir mit gleicher Münze bezahlen.«
In der Tat setzt die französische Verteidigungsstrategie einen deutschen Luftangriff auf Paris voraus. Alle größeren, in der Nähe von Paris gelegenen französischen Munitionsfabriken und Werke, die in Munitionsfabriken verwandelt werden können, sind von der Regierung gezwungen worden, Parallelniederlassungen weit südlich von Paris zu errichten, damit für den Fall einer Zerstörung der Pariser Fabriken die Arbeit in den im Süden gelegenen Werken innerhalb von achtundvierzig Stunden aufgenommen werden kann. Es ist auch bekannt, daß die Regierung bis in die letzte Einzelheit ausgearbeitete Pläne in Bereitschaft hat, um die Regierung im Augenblick des Kriegsausbruches von Paris nach einem Punkt im Innern des Landes zu verlegen.
General Denain übernahm das französische Flugwesen zu einer Zeit, in der es kein Geheimnis war, daß sein Material zum größten Teil veraltet war. Der Dreijahresplan des Generals sieht eine nahezu völlige Erneuerung der vorhandenen Ausrüstung vor: Einführung von Schwerölmotoren, überdimensionierte Maschinen, Propeller mit veränderlicher Neigung, zusammenlegbare Landungsapparatur. Die Kosten werden rund achtzig Millionen Dollar im Jahr ausmachen. »Es ist beabsichtigt«, erklärte er, »der französischen Luftflotte zu ermöglichen, daß sie jeden erdenklichen Angriff zurückschlagen kann. Wir werden nicht angreifen, aber auch keinen Angriff gegen uns zulassen.«
Die Erklärungen des Generals tragen, auch wenn man in Rechnung stellt, daß ein Minister selbstverständlich genötigt ist, den Hauptton auf die Verteidigung zu legen, zur Bestätigung des französischen Gesamtbildes bei. Kein Präventivkrieg.
Auf jeden Fall hat der Abfall Polens, auch wenn Frankreich den Wunsch gehabt haben sollte, den Präventivkrieg zu führen, die Aussichten darauf nahezu völlig zum Verschwinden gebracht. Denn wenn es auch möglich ist, daß Polen Frankreich Hilfe leistet, wenn Deutschland Frankreich angreifen sollte, bei einem französischen Angriff auf Deutschland könnte Polen kaum mitarbeiten. Überdies wird die Haltung, die Italien Frankreich gegenüber einnimmt, erst dann durchweg freundschaftlich sein, sobald oder wenn die Nationalsozialisten Österreich erobern. Die Engländer sind aus moralischen und egoistischen Gründen nicht geneigt, einen Präventivkrieg um Frankreichs willen zu führen. Und schließlich hat man auf allen Seiten erkannt, daß Deutschland nach einem Jahr des Regimes Hitler ein viel zäherer Bissen ist als vorher und daß jeder Versuch, »Sanktionen« gegen das Reich zu ergreifen, einen ganz ausgewachsenen Konflikt bedeuten würde.
General Denains Beobachtungen sprechen gleichfalls für die Schlußfolgerung, zu der die meisten Beobachter gelangt sind, daß nämlich die nächste Entwicklung in Europa sehr wohl zu freier Hand für Deutschland und starkem Aufrüsten in Frankreich und England führen mag. Mit anderen Worten, kein Krieg, aber die Vorbereitungen darauf.