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Sechstes Kapitel.
Prag

»Sie haben den Versuch gemacht und verspielt.«

Der vierundachtzigjährige Präsident der Tschechoslowakei, Thomas Garrigue Masaryk, beendete mit einem ironischen Lachen seine Ausführungen über die Möglichkeiten, daß Deutschland wieder Krieg führen könnte, um seine alldeutschen Ziele zu verwirklichen.

»Sie haben verspielt«, wiederholte er. »Das sollte genügen.«

Der Staat des Präsidenten ist in ganz eigenartiger Weise sein Staat. Er hat ihn tatsächlich geschaffen. Der bejahrte Philosoph und Staatsmann ist der Washington der Tschechoslowakei, buchstäblich der Vater seines Landes. Heute hat seine Nation, sein Kind, das Gefühl, sie habe vom Pan-Germanismus Hitlers mehr zu fürchten als jeder andere Staat.

Denn sie hat in Hitlers Buch »Mein Kampf« gelesen: Anmerkung des Verlages: Adolf Hitler, Mein Kampf. 20. Auflage. 1933. 205. bis 214. Tausend. Ungekürzte Ausgabe in einem Band. Seite 767: »Heute zählen wir achtzig Millionen Deutsche in Europa! Erst dann aber wird jene Außenpolitik als richtig anerkannt werden, wenn nach kaum hundert Jahren zweihundertfünfzig Millionen Deutsche auf diesem Kontinent leben werden, und zwar nicht zusammengepreßt als Fabrikkulis der anderen Welt, sondern: als Bauern und Arbeiter, die sich durch ihr Schaffen gegenseitig das Leben gewähren.«

»Heute zählen wir Deutsche 80 Millionen in Europa«, die 65 Millionen in Deutschland müßten mit den anderen vereint werden, und in »kaum hundert Jahren werden 250 Millionen Deutsche auf diesem Kontinent leben, und zwar nicht zusammengepfercht wie Kulis«.

Dann denken sie an die Bevölkerung der Tschechoslowakei, die knapp 14 Millionen zählt, darunter 3 Millionen Deutsche.

Schon hat der deutsche Teil der Tschechoslowakei mit solchem Stimmaufwand die Sezession und die Vereinigung mit dem Reich gefordert, daß die nationalsozialistische Partei durch eine Verordnung aufgelöst wurde.

Aber die Tschechen sehen sich auch noch die Karte an. Ihre 140 000 Quadratkilometer liegen so unglücklich, daß automobilisierte deutsche und ungarische Truppen sich innerhalb von vier Stunden im Zentrum der Tschechoslowakei treffen und das Land in zwei Teile teilen könnten. Die Tschechen erklären, sie hätten nur eine Minorität von 691 000 Staatsbürgern ungarischer Nationalität. Ungarn jedoch behauptet, es handle sich um mehr als eine Million, und die Ungarn sind womöglich noch erpichter als die Deutschen auf eine »Gebietsrevision«.

Sollte Osterreich nationalsozialistisch werden, so wäre die Tschechoslowakei nahezu vollständig von Feinden eingeschlossen und, das allerschlimmste, von jedem direkten Zugang zu Jugoslawien abgeschnitten, dem einzigen Mitglied der Kleinen Entente, dessen Heer stark genug ist, um seinem Alliierten überhaupt von Nutzen zu sein.

Das sind düstere Aussichten für diesen jungen Staat, der in seinem sechzehnten Lebensjahr steht. Präsident Masaryk sieht alle Schatten. Aber er sieht auch die Lichtseiten.

Fünf Salons liegen vor dem Empfangsraum des Präsidenten in der prächtigen alten Prager Burg. Im Jahr vor Masaryks Geburt bombardierten die Geschütze der Burg die Stadt Prag, um einen Aufstand tschechischer Patrioten gegen die Habsburger zu unterdrücken. Heute hat der weißhaarige Burgherr nichts Triumphierendes an sich. Er sieht aus wie ein Philosoph, der von der Höhe seiner vierundachtzig Jahre die Möglichkeiten eines Krieges überdenkt.

»Vergessen Sie nicht«, rief er in seinem langsamen, korrekten Englisch aus, »daß Hitlers Regierung erst ein Jahr alt ist. Man kann nicht wissen, wie sie sich entwickeln wird. Der liebe Gott nahm sich sechs Tage Zeit, um Himmel und Erde zu schaffen. Er war allmächtig. Er hätte es in einer Sekunde tun können. Und doch brauchte er sechs Tage dazu, und als er fertig war, war er müde und mußte sich am siebenten Tage ausruhen.

Wie können Sie von Hitler erwarten, daß er es besser macht?« Er lächelte. »Deutschland mit seinen fünfundsechzig Millionen Menschen ist nächst Rußland die größte Nation in Europa. Sie in der durchgreifenden Weise zu reorganisieren, wie Hitler es sich vorsetzt, ist eine gigantische Aufgabe, die nicht über Nacht bewältigt werden kann. Es geht auch nicht in einem Jahr. Und wenn es geschafft ist, kann alles ganz anders aussehen wie heute. Diese fünfundsechzig Millionen Menschen haben Verstand. Wir wollen einfach abwarten und sehen, wie ihr Verstand arbeitet. Die Deutschen sind im Grunde alle Professoren. Das heißt, sie werden denken. Sie könnten nicht leben, ohne zu denken, und dieses Denken wird auch zu Resultaten führen.«

Das war einer der optimistischen Töne. »Aber Hitler«, fuhr er fort, »bedeutet lediglich die Fortsetzung einer Bewegung, die schon im vorigen Jahrhundert begann, als der Pan-Germanismus sich zum ersten Male in Österreich erhob. Sein Programm, alle deutschsprechenden Menschen Europas in einem gewaltigen deutschen Reich zu vereinen, ist eine der ältesten Konzeptionen der modernen Politik. Die Amerikaner wissen so wenig von Europa, daß sie leicht die historischen Hintergründe aus den Augen verlieren. Amerikanische Freunde von mir, die mich hier aufsuchen und von Hitler sprechen, scheinen sehr besorgt zu sein. Aber ich sehe dieser Entwicklung seit zu vielen Jahrzehnten zu, um beunruhigt zu sein.

Gewiß, in all diesen Jahrzehnten war der Pan-Germanismus nicht mehr als eine Bewegung. Nun ist diese Bewegung in den deutschen Staat eingebaut. Und die ganze Bewegung basiert, wie der deutsche Staat von heute, auf der Vorstellung, daß die Deutschen ein Herrenvolk seien – ein Geschlecht von Herrschern. Es ist eine ernsthafte Angelegenheit, wenn fünfundsechzig Millionen Menschen in dieser Richtung geführt werden.« Ein ironisches Funkeln leuchtete in den Augen des Präsidenten auf. Dann wurde seine Stimme härter.

»Sie sagen: ›Heute herrscht Frankreich über Europa, aber wir werden Europa beherrschen.‹ Sie sprechen davon, daß sie Land brauchen, Gebiet brauchen. Was bedeutet dann das? Gibt es einen Fleck Landes, gibt es ein Gebiet in Europa, das nicht bereits bewohnt ist? Sie sprechen davon, nach dem Osten vorzustoßen. Aber was bedeutet das? Polen und Rußland? Sie sprechen von Kolonien. Und was bedeutet das? Afrika? Und wenn, was bedeutet es für die Staaten, die dort ihren Kolonialbesitz haben?

Sie sehen, die Deutschen sind ein ernstes Problem für ganz Europa. Aber wir können nichts besseres tun als abwarten und es studieren. Sie sollten meine Bibliothek über den Hitlerismus sehen. Und wenn man die deutsche Revolution studiert, darf man sich nicht durch die Phänomene irreführen lassen, die in ihren heftigen Tagen mit ihr einhergehen. In jeder Revolution werden die Menschen erregt, werden sinnlose Handlungen ausgeführt. Gab es nicht genug solcher Handlungen in der französischen Revolution, in der amerikanischen Revolution? Die Hitler-Revolution ist eine wahrhaft große Revolution.

Aber wenn man«, sagte der Präsident seufzend, »die Angelegenheit jetzt betrachtet, kann man aus einem Trost schöpfen: Hitler hat zweimal verkündet, daß er auf Elsaß-Lothringen verzichtet. Kann man ihm glauben? Nun, er hat es zweimal verkündet! Was bleibt also an Streitgründen mit Frankreich? Das Saargebiet? Das kann geregelt werden. Natürlich – der Versailler Vertrag! Ich gehöre nicht zu den Leuten, die glauben, daß Verträge dazu gemacht werden, daß man sie bricht.

Allerdings, die Deutschen sind einmal durch Belgien marschiert und haben einen die Neutralität garantierenden Vertrag zu einem Fetzen Papier gemacht. Holland und Belgien, vor allem Antwerpen, waren Gegenstand der alldeutschen Wünsche. Es ist richtig, das war ein Teil des alldeutschen Programms. Sie haben den Versuch gemacht und verspielt. Das müßte als Antwort genügen.«

»Was für Auswirkungen«, fragte ich, »hat der Aufstieg Hitlers zur Macht auf die Innenpolitik der Tschechoslowakei gehabt?«

»Die deutsche nationalsozialistische Partei bei uns wollte uns einen Teil unseres Gebietes nehmen und ihn Deutschland geben. Nun, wir haben die Partei aufgelöst. Demokratie bedeutet nicht, daß man jeden Raufbold, der daherkommt und einem einen Schlag versetzen will, ungestraft laufen läßt. Die Demokratie muß zurückschlagen. Hat Ihre amerikanische Demokratie nicht gegen die Abspaltung des Südens gekämpft? Die Demokratie kann in einer kritischen Periode vor der Notwendigkeit stehen, zu kämpfen. Aber daß sie angegriffen wird, heißt noch lange nicht, daß sie geschlagen ist oder geschlagen werden wird.«

»Und der Krieg?« fragte ich.

»Ich glaube nicht, daß ein Krieg kommt«, antwortete der Präsident langsam und nachdenklich. »Den Wunsch, Krieg zu machen, mag es irgendwo geben. Ich weiß, daß es kriegslustige Menschen gibt. Aber wo ist das Geld zur Kriegführung? Alle Länder der Welt haben hungrige Bevölkerungen. Wie kann ein Land, welches es auch sein mag, ein Heer zur Kriegführung ernähren?«

»War Europa denn 1914 so reich?«

»Natürlich viel reicher als heute. Denken Sie doch an den Geldwert, wie er gesunken ist. Sehen Sie sich Ihren eigenen Dollar an.

Ja«, sagte er, »ich weiß, daß einige Menschen kriegslustig sind, aber sie haben kein Geld, und das ist ein starkes Argument gegen den Krieg.«

Das Argument des Präsidenten klang mehr nach Hoffnung als nach Überzeugung. Ihre wahre Hoffnung setzt die Tschechoslowakei auf ihre Verträge, sie setzt sie auf ihren festen Glauben, daß die durch Hitler aufgeworfenen Probleme Probleme für ganz Europa sind, und daß weder Frankreich noch England es sich leisten können, die kleinen Staaten untergehen zu lassen. Das weiß der Präsident.

»Wir tun unser Bestes«, schloß er, »alle Friedensfreunde zusammenzubringen. Wir müssen vorbereitet sein, und zwar nicht nur mit unserem Heer. Wir müssen in unseren Überzeugungen vorbereitet sein. Das ist das Wichtigste. Und unsere Überzeugung ist: Friede!«

*

Der klügste Außenminister in Mitteleuropa ist der Meinung, daß dieser alte Kontinent eine fünfzigprozentige Chance, aber auch nicht mehr, hat, dem Krieg in der nächsten Zukunft zu entgehen. Doch wenn der Krieg nicht innerhalb von fünf Jahren kommt, wird er seiner Ansicht nach überhaupt nicht kommen.

Eduard Benesch, mit Präsident Masaryk Begründer der Tschechoslowakei, ist um vierunddreißig Jahre jünger als sein verehrungswürdiger Chef. Der Präsident sagt, es werde keinen Krieg geben, weil »kein Geld da ist«, aber Benesch sagt, die Chancen dafür und dawider seien gleich groß.

So drückte er sich selbst aus. Der kleine Mann, der seinem Außenamt auf den Konferenzen Europas mehr Geltung und Bedeutung verschafft hat, als die Ministerien viel größerer Staaten haben, gestikulierte energisch mit seinem Daumen, während er, eine Stunde vor Abgang des Zuges, der ihn wieder einmal in eine verbündete Hauptstadt bringen sollte, an seinem Schreibtisch saß. Er trug eine braune Strickweste, er hatte unendlich viel zu tun, und im Vorzimmer warteten Generäle, aber er lächelte, sagte, er hätte eine Menge Zeit, und faßte in dreißig Minuten seine Ansichten über die Zukunft Europas zusammen. Man fühlte, daß er seine wahren Ansichten äußerte.

»Die Chancen sind gleich groß.« Er legte die Faust auf den Tisch und bewegte den ausgestreckten Daumen. »Ich denke dabei an einen Zeitraum von fünf Jahren. Damit will ich sagen, wenn der augenblickliche Zustand nationaler Hochspannung, der jetzt in Deutschland zu beobachten ist, fünf Jahre dauern sollte, dann würden die Chancen für einen Krieg größer sein.

Aber die politische Geschichte und die Geschichte der Diktaturen lehrt, daß diese Art nationaler Hochspannung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so lange anhalten wird. Außerdem machte jede Diktatur, wie wir gesehen haben, eine Entwicklung durch. Ich bin gar nicht so sicher, daß das Deutschland, das wir in fünf Jahren sehen werden, dasselbe Deutschland sein wird wie heute.«

»Ist es aber nicht richtig«, fragte ich, »daß die Erfahrung gelehrt hat, daß diese Art der politischen Organisation, die von Lenin erfunden worden und von Mussolini und Hitler übernommen worden ist, die dauerhafteste Regierungsform ist, die man in modernen Zeiten erdacht hat?«

»Wieso?« fragte der Minister.

»Nun, mit so schweren Schlägen, wie sie in Rußland überstanden worden sind, hat keine andere Regierung zu kämpfen gehabt; mit zwei Hungersnöten, einem Bürgerkrieg, einem verlorenen Interventionskrieg und einem verlorenen Krieg mit einer anderen Nation.«

»Ja«, stimmte Herr Benesch zu, »aber das Wichtigste an der russischen Regierung ist die Entwicklung, die sie durchgemacht hat. Heute wird im Ausland nicht mehr vom Kommunismus gesprochen. Es gibt keine Agitation mehr, nichts mehr von all den Dingen, die der Umwelt die größte Angst vor dem Sowjet-Regime eingejagt haben. Und das ist ja gerade das, was ich von den Diktaturen behaupte. Sie entwickeln sich. Und eben weil sie sich entwickeln, behaupte ich, wenn der Krieg nicht innerhalb von fünf Jahren kommt, bestehen Aussichten dafür, daß Deutschland sich in seinen nationalen Zielen und seinem Geist in einem solchen Ausmaß gewandelt haben wird, daß der Krieg schließlich vermieden werden kann.«

»Wird Deutschland in diesen fünf Jahren völlig wieder aufgerüstet sein?«

»Das ist nicht so sicher«, rief der Minister und machte mit seinem Daumen eine Bewegung nach unten. In diesem Punkt war Herr Benesch vorsichtig. Aber er glaubt nicht an die Möglichkeit eines »Präventivkrieges«.

»Die alliierten Länder«, versicherte er, »waren auf einen Präventivkrieg nicht vorbereitet. Sie waren moralisch nicht vorbereitet. Nur wenige Männer in den alliierten Ländern waren es. Die Völker nicht. Ein Präventivkrieg kommt also nicht in Frage. Die einzige Alternative ist eine wirksamere geeinte Front auf Seiten aller friedliebenden Völker Europas.«

Ich fragte, ob er durch die polnisch-deutsche Annäherung beunruhigt wäre. Er erwiderte: »Ich glaube nicht, daß auf die Dauer eine Bresche in die Front geschlagen werden wird.«

Aber es existiert die österreichische Frage. Was geschähe mit der Tschechoslowakei, wenn Österreich nationalsozialistisch, wenn es de facto ein Teil Deutschlands würde?

»Sind Sie Österreichs wegen beunruhigt?«

»Nicht im mindesten«, antwortete er zuversichtlich. »Sehen Sie, ununterbrochen hat man gesagt, Österreich sei vor allem eine tschechoslowakische Frage. Man sagt: Ihr werdet eingekreist werden. Ihr werdet zu Tode gewürgt werden. Gar keine Rede.

Es ist einfach so: man brauchte lange Zeit, um sich klar zu machen, was die richtigen Proportionen der österreichischen Frage sind. Man brauchte lange, um einzusehen, daß Österreich in erster Linie eine europäische Frage ist, in zweiter eine italienische, in dritter eine mitteleuropäische, in vierter eine französische, und erst in fünfter und letzter Linie eine tschechoslowakische Frage.«

»Aber alle Welt sagt, wenn Österreich nationalsozialistisch wird oder das Habsburgerregime kommt, werden Sie marschieren.«

»Nein. Wir werden tun, was Italien und Frankreich tun. Oder lassen Sie mich es so sagen. Wir werden die Fragen den Großmächten, und zwar insbesondere Italien und Deutschland überlassen. Ich bin bereit, der Führung des Herrn Mussolini zu folgen, und es wird uns freuen, wenn er das Problem mit Deutschland bereinigt.« Der Minister lachte ganz unverhohlen vergnügt. Die tschechischen Demokraten sind keine Diktatur-Freunde, und es bereitete ihm ein äußerst lebhaftes Vergnügen, daran zu denken, wie peinlich es für die Schwarzhemden und die Braunhemden wäre, wenn sie einander zu nahe treten müßten.

Eine gute Folge für sein Land sieht jedoch Außenminister Benesch an Hitlers Aufstieg zur Macht. Er meint, dadurch seien der Verteidigungswille des Landes bestärkt und die Nation geeint worden.

»Die Hitler-Revolution hat den Anstoß zur Einigung in der Tschechoslowakei gegeben«, erklärte er. »England wurde ein geeintes Land nach Jahrhunderten voller Kämpfe, Frankreich nach der französischen Revolution, Italien nach dem Risorgimento und Mussolinis Marsch auf Rom, und Deutschland nach dem Aufstieg Preußens unter Friedrich dem Großen, dem Krieg mit Österreich, dem französisch-preußischen Krieg von 1870 und schließlich nach Hitler.

Die tschechoslowakische Nation, im Geiste stets geeint, fand die formale Einigung jedoch erst nach dem Weltkrieg; damit wir uns unserer Einheit voll bewußt würden, bedurfte es aber der Entwicklung der letzten Jahre in der europäischen Politik, die mit der Errichtung der beiden Diktaturen in Italien und Deutschland endete.

Die Zeit arbeitet für die Tschechoslowakei. Das gilt für alle neuen Länder. Je länger sie im Frieden leben, desto größer wird ihre Aussicht, weiter zu leben. Die Welt muß sich an sie gewöhnen und sie als etwas Gegebenes akzeptieren.

Aber ich bin trotz allem der Überzeugung, daß die Regierungsformen in Europa für die Frage Krieg oder Frieden wichtiger sind als man im allgemeinen annimmt. Diktaturen sind in Angelegenheiten des Prestiges, der Ehre und des Erfolges überaus empfindlich. Diktaturen sind sehr unbeständig. Sie schwanken im Winde. Wir sind Demokraten. Demokratische Staatsmänner sind fest im Volk verwurzelt. Sie wissen, was vorgeht. Der Boden unter ihnen ist fest und birgt keine Überraschungen.

In diktatorisch regierten Ländern kann man nie wissen, was das Volk denkt, man kann, solange die Diktatur nicht vorüber ist, nicht wissen, was wirklich vorgeht. Deshalb sind Diktaturen auch immer stark bis zu den letzten fünf Minuten.« Der Daumen richtete sich auf, und der Minister lachte wieder.

»Ich glaube, die Demokratie wird wieder einmal die vorherrschende Staatsform werden. Benachbarte Diktaturen kräftigen stets die Demokratie in den Ländern, wo wirtschaftlich und politisch gesunde Zustände herrschen. Wir in der Tschechoslowakei sind gekräftigt worden. Trotz der gegenwärtigen Lage in Europa baue ich auf den endlichen Sieg der Demokratie.

Sie sehen, ich bin Optimist. Es ist meine Aufgabe, jede Eventualität in Rechnung zu stellen. Wir müssen auf den Krieg vorbereitet sein; wir müssen auf den Frieden vorbereitet sein. Wir sind vorbereitet auf beides.«

Die Tschechoslowakei hat von allen alliierten Staaten die ungünstigste militärisch-geographische Lage. Heute hat sie fünfundsechzig Millionen nationalsozialistische Nachbarn. Morgen kann sich, wenn Österreich nationalsozialistisch wird, diese Zahl auf zweiundsiebzig Millionen erhöht haben. Sie hat innerhalb ihrer eigenen Grenzen drei Millionen militanter Deutscher, von denen viele nach der Vereinigung mit dem Reich schreien. Sie hat zum Nachbarn Ungarn, das jetzt einen erneuten wilden Propaganda-Angriff zur Wiedergewinnung der Slowakei führt.

Aber die Tschechoslowakei hat ihre gegenseitigen Verteidigungsverträge mit Frankreich, Rumänien und Jugoslawien. Sie hat das kleinste aber bestausgerüstete Heer der Kleinen Entente. Sie hat die Skoda-Werke, die größte Munitions-Fabrik in Mitteleuropa. Und schließlich hat sie Benesch. Er ist für die Erhaltung des Friedens von größerem Wert als das Heer. Jedoch, er schätzt die wahren Chancen fünfzig zu fünfzig ein.


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