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Drittes Kapitel.
Gdingen

Polen wird niemals den Korridor an Deutschland ausliefern. Heute hat Deutschland einen Waffenstillstand mit Polen. Aber wenn Deutschland dauernden Frieden mit Polen wünscht, wird es seine Ansprüche auf den Korridor aufgeben müssen. Wenn Deutschland den Korridor wünscht, wird es Polen besiegen müssen, um ihn zu bekommen.

Das ist zur Zeit der stärkste Eindruck, den man bei einem Besuch in der bemerkenswertesten Stadt Europas gewinnt. Diese Stadt, inmitten jenes Korridors gelegen, der seit fünfzehn Jahren allgemein als sichere Ursache des künftigen Krieges gilt, ist die einzige in Europa, die nicht von der Depression erfaßt ist, die einzige, wo mit halsbrecherischer Geschwindigkeit gebaut wird, wo der Verkehr dröhnt und die Geschäfte blühen. Und diese Stadt existierte nicht einmal, als der Korridor geschaffen wurde.

Es ist die jüngste Stadt in Europa. Sie ist der jüngste Hafen der Welt. Und schon hat er ein Dutzend großer von Alters her berühmter Häfen überflügelt.

Abgesehen von Männern der Schiffahrt und Politikern kennen heute wenige Menschen außerhalb Polens auch nur den Namen dieses merkwürdigen Ortes. Auf polnisch heißt er Gdynia. Auf deutsch Gdingen. Vor zehn Jahren wohnten hier einige hundert Fischer an der Küste, und sogar Polen und Politiker wußten nicht das geringste von dem Küstennest.

Heute steht auf der Spitze einer Klippe im Osten der Stadt ein gewaltiges Kreuz, das nachts weithin das funkelnde Licht elektrischer Lampen aussendet. Es erstrahlt über einer Stadt mit 47 000 Einwohnern. Es schimmert über einem Hafen, in dem heute mehr Güter umgeschlagen werden als in Amsterdam oder Kopenhagen, als in Le Havre oder Bordeaux, mehr als in Bremen oder Stockholm, als in Stettin oder Danzig.

Wo jetzt dieses elektrische Kreuz steht, wird ein großer Dom gebaut werden. Für Polen wird dieser Dom das Allerheiligste der Nation sein. Denn Gdingen ist die einzige Stadt, die im neuen Polen geboren ist. Polen, das nicht reich ist, hat mehr als 100 Millionen Dollar Gold für Gdingen ausgegeben. Aber das ist noch nicht einmal ein Bruchteil dessen, was Gdingen für Polen bedeutet.

Gdingen bedeutet die Entschlossenheit Polens, aus dem neugeschaffenen Land wirtschaftlich einen Erfolg zu machen. Es bedeutet Polens festen Willen, sich seinen Zugang zur See zu wahren. Vor allem aber bedeutet es die Absicht Polens, den Korridor zu behalten, jedem Polen auch nur den leisesten Gedanken auf einen Verzicht darauf unmöglich zu machen.

Als der polnische Korridor vor fünfzehn Jahren von deutschen in polnische Hände überging, geschah dies, weil Wilson sich damit einverstanden erklärte, daß Polen einen Zugang zur See haben sollte. Die Tschechoslowakei besaß keinen solchen Zugang. Die Tschechoslowakei benutzte die Häfen anderer Länder, und sie hat keinen Schaden davon gehabt. Es gibt eine ganze Menge von Argumenten, mit denen sich beweisen ließe, daß das unlösbarste Problem Europas nicht entstanden wäre, wenn man den Korridor niemals aus Deutschland herausgeschnitten hätte. Mit der Schaffung des Korridors wurde eine existierende Situation über den Haufen geworfen. Sie wurde die Ursache zu Deutschlands Hauptbeschwerde. Auch bevor Hitler zur Macht kam, gab es von den Kommunisten bis zu den Nationalsozialisten nicht einen Deutschen, der nicht schwor, früher oder später müßte der Korridor zu Deutschland zurückkommen.

Denn ohne den Korridor, erklärten die Deutschen, können wir nicht leben. Er schneidet Ostpreußen vom Reich ab. Er trennt ein Glied von unserem Leib.

Das alles war vor fünfzehn Jahren richtig. Wenn man heute auf der Klippe steht, die Gdingen überragt, muß man die Beobachtung machen, daß eine gewaltige Wandlung vor sich gegangen ist. Die Deutschen wanderten aus dem Korridor ab, als er polnisch wurde. Statistiken der Deutschen selbst besagen, daß rund neunhunderttausend Deutsche zum Teil von den Polen aus Polen ausgewiesen, zum Teil von Deutschland herausgeholt wurden, und zwar recht viele davon aus dem Korridor selbst. So ist, was einst der Bevölkerung nach deutsch war, jetzt polnisch geworden.

Und hier, wo vor zehn Jahren ein paar Fischer ihre Netze auswarfen, ist ein großer polnischer Hafen entstanden. Über ihn gehen vierunddreißig Prozent des gesamten polnischen Außenhandels.

Heute transportieren die Polen durch den Korridor in nordsüdlicher Richtung nach Gdingen und Danzig zwölf Millionen Tonnen Waren im Jahr. Das sind rund siebzig Prozent des gesamten polnischen Außenhandels. Und Deutschland transportiert quer durch den Korridor in ostwestlicher Richtung zwischen Reich und Ostpreußen nur zwei Millionen Tonnen im Jahr.

Damit haben die Polen heute eine ganz neue Situation geschaffen. Sie haben die Tatsachen geschaffen für die Beweisführung, daß der Schaden Polens größer wäre als der Gewinn Deutschlands, wenn der Korridor heute an Deutschland zurückfiele.

Aber das sind bloß die wirtschaftlichen Überlegungen. Polen sieht heute im Korridor noch etwas ganz anderes. Polen ist ein neuer Staat, herausgeschnitten aus Rußland, Deutschland und Österreich-Ungarn. Es mußte jeden Augenblick bereit sein, um seine Existenz zu kämpfen. Einen Krieg hat es bereits geführt und gewonnen, den gegen Rußland. Militärische Überlegungen müssen für Polen von größerer Bedeutung sein als für viele andere Länder.

Militärische Überlegungen bringen Warschau zu dem unerschütterlichen Entschluß, den Korridor zu behalten und Gdingen weiter auszubauen. Als im Jahre 1919 der Krieg mit Rußland ausbrach, streikten in Danzig deutsche Arbeiter und weigerten sich, Munition für Polen zu verladen. Sie sympathisierten mit den Roten. Dies war einer der Gründe dafür, daß Polen sich, sowie es sich vom Krieg erholt hatte, dazu entschloß, sich einen eigenen Hafen zu bauen.

Ein Blick auf die Karte zeigt einem einen weiteren zwingenden militärischen Grund, weshalb Polen den Wunsch hat, daß der Korridor nicht an Deutschland zurückkomme. Die Grenze Ostpreußens ist nur 110 bis 120 Kilometer von Warschau entfernt, eine Strecke, die ein rasches Bombenflugzeug in weniger als dreißig Minuten zurücklegt. Wenn Deutschland nun heute, wie ein scharfsinniger Pole bemerkte, den Wunsch verspüren sollte, zum Zweck eines Überraschungsangriffes auf Warschau Truppen nach Ostpreußen zu werfen, müßte es das auf dem Seeweg tun. Schiffstransporte sind leicht zu beobachten. Es wäre dann schwer, Warschau im Schlaf zu überraschen. Hätte aber Deutschland den Korridor wieder, so könnte es insgeheim so viel Truppen, wie es nur wollte, durch den Korridor an die ostpreußische Grenze, einen Katzensprung von Warschau, schaffen.

Aus allen diesen Gründen ist Polen heute unerschütterlich entschlossen, den Korridor zu behalten. Polen ist überzeugt davon, daß eine Aufgabe des Korridors nichts anderes bedeuten würde als eine Aufforderung zu einer neuen Zerstückelung, zu einer neuen Teilung, und damit den Tod des polnischen Staates.

Heute aber ist das Panorama Gdingens die beste Propaganda für Polen. Da unter uns ragen in die stahlgrauen Gewässer der Ostsee mehr als drei Kilometer lange Wellenbrecher hinaus. Zehn Kilometer lange Quais sind von Magazinen gesäumt, die einen Flächenraum von 122 000 Quadratmetern einnehmen.

Fünfzig Schiffe sind heute in Gdingen gedockt, und in dem alten Hafen von Danzig lagen gestern nur acht Schiffe. Danzig ist als Hafen siebenhundert Jahre alt. Gdingen ist zehn Jahre alt. Im vergangenen Frühjahr war der Warenumschlag Gdingens zum erstenmal größer als der Danzigs.

Wir gingen zum Hafen hinunter. Eisenbahngeleise durchziehen die Stadt in einem dichten Netz, auf dem der Verkehr niemals abreißt. In dem neuen Personenbahnhof hält ein Güterzug mit einer funkelnden stählernen Laufplanke, die frisch aus einer polnischen Fabrik kommt. In den letzten fünf Jahren sind jährlich 20 000 Passagiere im Hafen angekommen und abgereist. Im Jahre 1924 wagten sich 29 Schiffe in den jungen Hafen. 1932 fuhren 3610 Schiffe in Gdingen ein und aus. Im Jahr 1924 hatte der Hafen einen Gesamtumschlag von 10 167 Tonnen; 1933 betrug er mehr als sechs Millionen Tonnen. Das heißt, daß von allen großen Häfen des Kontinents nur Rotterdam, Antwerpen, Hamburg und Marseille einen größeren Verkehr aufzuweisen haben. Mehr als eine Million Tonnen jährlich kommen auf polnischen Schiffen durch Gdingen.

Man muß Gdingen mit eigenen Augen gesehen haben, um fest davon überzeugt zu sein, daß Polen den Korridor niemals ohne Kampf aufgeben wird. Jetzt haben die Deutschen versprochen, nicht gegen die Polen zu kämpfen. Sie sprechen noch davon, Gdingen zu kaufen und Polen für die Rückgabe dieses Korridors an Deutschland einen Korridor durch das Memelgebiet zu geben. Dies mag einer der deutschen Hintergedanken beim Abschluß des Nichtangriffspaktes mit Polen gewesen sein. Aber wenn man Gdingen gesehen hat, weiß man, daß ein solches Tauschgeschäft unmöglich ist.

Bei der Untersuchung der Frage »Kommt Krieg?« spielt der polnische Korridor eine eminent wichtige Rolle. In diesem Augenblick muß man sagen: wenn Deutschland hinsichtlich der Notwendigkeit, den Korridor wieder zu gewinnen, ebenso gesonnen wäre wie früher, würde der Krieg hier eines Tages unvermeidlich sein. Aber Deutschland ist nicht mehr so gesonnen. Das hat Danzig bewiesen. In Warschau ist vielleicht die Antwort auf die Frage zu finden, ob ein Krieg wegen des Korridors lediglich hinausgeschoben ist, und wenn, auf wie lange, oder ob sich nicht schließlich herausstellt, daß Hitler sich auch hier als Friedensstifter erweist.


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