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32. Kapitel.
Musikfest

In diesem Jahr begnügten sich die Wendenburger nicht mit dem natürlichen Frühlingsschmuck und dem Chor der Luftsänger! Sie schmückten ihre Stadt mit Kränzen und grünen Pforten und forderten alles, was singen konnte, zum musikalischen Turnier.

»Zum Kampf der Wagen und Gesänge,
Der auf Korinthus' Landesenge
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibikus, der Götterfreund.«

deklamierte Elfchen Dahland, die inzwischen zum Schiller anschwärmenden Backfischlein herangewachsen war, und als man sie fragte, wen sie sich denn als Ibikus dächte, antwortete sie unverzagt: »Franzi Trautmann! Es kann ja auch mal eine Götterfreundin sein!«

Papa lachte herzlich hierüber und ließ sich das »zum Kampf der Wagen« insofern als Warnung dienen, daß er seinen bekannten Droschkenkutscher einfach für die ganze Dauer des Musikfestes verpflichtete; denn Papa war in dem Festkomitee, und das will etwas sagen!

Fünfhundert Sänger sollten untergebracht, Stadt, Bahnhof und Festräume ausgeschmückt, Abendunterhaltungen und Frühkonzerte, Rundfahrten auf dem See und Gänge durch die Sehenswürdigkeiten der Stadt veranstaltet werden, – und dann die eigentliche Hauptsache: die Verhandlungen mit den Künstlern!

Kennt jemand den ergötzlichen Moserschen Schwank »Das Stiftungsfest«? So abgehetzt wie die Helden desselben, die verschiedenen Vorstände der Gesangvereine mitsamt ihren Vereinsdienern, war Papa Dahland auch um diese Zeit, und er sagte einmal: »Dem Himmel sei Dank, Ursel, daß du nicht mitsingst und nicht jede Reunion oder Italienische Nacht mitmachst; da ist doch ein fester Punkt im Hause, auf den man sich verlassen kann!«

»Und ich?« fragte Mama mit lächelndem Staunen, »was bin ich denn?«

»Ja, du, meine liebe Frau, dir möchte ich alles aus dem Wege räumen, was dich anstrengen könnte; du siehst ja schon so blaß und zart aus, daß ich's gar nicht mit ansehen kann. Und ich weiß auch, was dich drückt! Aber nur Mut, nur Mut!«

Mama sorgte sich um Axel. Seit mehreren Monaten befand er sich auf einer »Ausreise« mit der »Ariadne«. Aus Hongkong waren noch gute Nachrichten gekommen und die Rückkehr für den Mai in Aussicht gestellt. Dann noch zwei Briefe von der Heimreise aus, aber jetzt fehlte jedes Lebenszeichen. Zur Zeit der Frühlingsstürme war Mama in einer beständigen Unruhe; nun waren die freilich vorbei, ohne daß irgend böse Dinge geschehen waren, aber mußte das Schiff nicht jetzt schon zurück sein? Waren Briefe verloren gegangen?

Diese Sorge war der einzige schwarze Punkt in diesen sonst so lichten festlichen Tagen, und Mama war wirklich etwas angegriffen von mangelndem Schlaf und allem tapferen Zusammennehmen, und sie freute sich doppelt über Ursels umsichtige Tätigkeit im Hause.

Sie hatten auch Gäste aufgenommen, zwei Logierzimmer für zwei Damen und einen Herrn waren in Stand gesetzt, und von früh bis spät war für diese zu sorgen. Zuerst war der Kaffeetisch sehr rechtzeitig herzurichten, denn die Gäste pflegten früh zu erscheinen. Beim Musikfest darf man sich nicht nur unterhalten, sondern muß sich tüchtig anstrengen und vor allen Dingen pünktlich sein!

Um neun Uhr mußte man schon immer zur Probe in der Festhalle auf der lieblichen grünen Halbinsel eintreffen, welche die Fremden, die aus allen Teilen des Landes zusammengeströmt waren, mit Entzücken betraten. Auf dem großen Platz vor dem Festhause standen gerade die Kastanien in rotleuchtender Blüte, dazwischen schlangen sich Girlanden mit der prangenden Inschrift: »Willkommen zum Musikfest!«

Und hierher »wallten« all diese Tage lang Ströme festlich gestimmter Menschen.

Als Franzi zur ersten Probe kam, im Wagen und mit einem Vorstandsherrn zur Seite, fuhr sie an dem kleinen Schaufenster des Frauenvereins vorbei, wo die Handarbeiten auslagen, und wieder dachte sie beschwörend: »Willegis, Willegis! denk, woher du kommen bist!« Und bei dem Vergleich zwischen damals, als sie ihre Spitzendecke hier ausstellte, um das Geld für die Musikstunden zu verdienen, und heute – wurden ihr die Augen feucht.

Da fragte der junge Offizier neben ihr teilnehmend: »Gnädiges Fräulein bekommen wohl Kanonenfieber?«

Nun mußte Franzi doch lachen, und in leidlich gefaßter Haltung kam sie beim Festhause an.

Ursel war nicht da. Man hatte ihr erzählt, das erste Durcheinander, die Schlacht um die Plätze und all die äußeren Angelegenheiten, wäre für den Unbeteiligten nicht erfreulich, und von den Sängern hätte man noch wenig.

Ursel war auch Vormittags zu Hause so nötig. Mittags gab es immer ein richtiges Diner, die kleine Tafel sollte hübsch geschmückt sein, und selbst durfte man nicht müde und abgehetzt erscheinen, wenn die angestrengten Sänger von der Probe zurückkamen und gepflegt werden mußten. Nach Tisch sorgte sie dann für möglichste Ruhe im Hause, damit die Sänger schlafen konnten, dann schickte sie ihnen Kaffee aufs Zimmer, bot Plätteisen an, um etwa im Koffer gedrückte Sachen aufzufrischen, und stellte die kleinen Brüder als Läufer zur Verfügung, wenn Besorgungen zu machen waren.

Genug, es war ein Musterquartier bei Dahlands, und Ursels freundliche Sorge wurde auch von den Fremden laut genug anerkannt. Sie tat ja auch alles so gern, freilich mit dem heimlichen Zugeständnis, daß sie damit ihre Unruhe beschwichtigte! Denn im Grunde teilte sie Mamas Sorge um Axel, und – Franzis Schicksal erregte sie doch auch aufs tiefste. Diese trat hier mit großen Künstlern von Ruf in die Schranken, es konnte viel davon abhängen.

Frau Trautmann war auch, ihrer sonstigen festen einfachen Natur entgegen, in einer ängstlichen Erregung. Es schien ihr schon zu viel Ehre und Verantwortung für ihre Tochter, auf diesem Fest zu singen.

Herr Bauer aber war außerordentlich heiter gestimmt, sehr stolz auf seinen schönen Konzertplatz, den natürlich Franzi gestiftet hatte, und höchst freigebig mit Blumen. Die junge Sängerin konnte schon Morgens in der Probe mit den herrlichsten Rosen erscheinen, und der Festkavalier zerbrach sich den Kopf, wer ihm denn wohl immer zuvorkäme!

Wilhelm Trautmann war auch unter den Sängern, denn selbst das kleine Nest, in dem er jetzt an einer Privatschule angestellt war, hatte seinen Gesangverein, und die Handvoll Steinberger war nicht zu verachten, sondern gehörte zu den begeistertsten Chorsängern.

Endlich war's so weit, daß nach all den vorbereitenden Tagen das Fest mit der Trompetenfanfare eröffnet wurde. In der Hofloge waren die höchsten Herrschaften erschienen – und nun nahm eines der gewaltigen Händel-Werke seinen Anfang.

Die fünfhundert Sänger, von den verschiedensten Dirigenten vorbereitet, einigten sich mit dem Orchester unter dem Zauberstab des Festdirigenten, und in mächtigen Wogen kam der erste Chor dahergebraust. Und der Heldentenor des »Josua« schmetterte in den Saal, machtvoll und ernst traten Alt und Baß hinzu, und dann hob eine junge goldene Sopranstimme an.

Die erste Befangenheit sah man ihr gerne nach, man fühlte doch gleich, daß sie Gutes leisten würde. Und als sie bis zu der Arie gelangt war:

»O hätt' ich Jubals Harf' –«

da wartete man kaum des Orchesters letzten Ton ab, und es brach jener brausende Beifall los, wie man ihn wohl nur auf Musikfesten kennt.

Franzi Trautmann war in aller Mund und Herz!

Nach Schluß des Konzerts lagen sich in der Garderobe die beiden Schwarzbraunen in den Armen, dann stieg Ursel einfach mit in den Wagen der Sängerin, und der diensttuende Kavalier fühlte sich wieder einmal grausam überflüssig!

Am zweiten Tage gab's den »Achilleus« von Max Bruch. Heute hatte die Altistin das Feld, und Franzi war in einer kleineren Partie beschäftigt. Diesen Tag genoß sie in anderer Weise; sie liebte das Werk und bewunderte Frau Jagemanns hochvollendete Kunst. Sie selbst trat gern zurück und ruhte sich etwas für den folgenden Tag aus, der noch genug Anforderungen stellte.

Ehe aber dieser Tag anbrach, kam im Dahlandschen Hause ein Augenblick allerhöchster Spannung.

Die Rätin saß nach dem Konzert allein und ziemlich erschöpft in ihrem Zimmer, während alle anderen beim Fest geblieben waren. Da klingelte es, und ein Telegramm wurde gebracht.

Einen Augenblick hielt sie regungslos das ihr in der Hand fast brennende Blatt und wagte es nicht zu öffnen. Dann riß sie es mutig auf und las:

»Komme heute 9,30.
Axel.« –

An der Erleichterung, die sie nun ganz und gar durchdrang, fühlte die Rätin erst, wie groß ihre Angst zuvor eigentlich gewesen war, und einen Augenblick schien es, als wollte sie noch hinterher schwach werden. Aber dann raffte sie sich schnell auf; für Axels Empfang mußte gesorgt werden, und sie war allein zu Hause, selbst Line war zum »Zusehen« beurlaubt.

Aber mit welcher Wonne stieg Mama jetzt die Treppe auf und ab, alle vorige Müdigkeit vergessend! Sie konnte zwar Axel nicht seine eigene »Bude« zurechtmachen, denn die wurde als Herrenlogierzimmer mitbenutzt; er mußte sich diese Nacht unten in Mamas kleinem Wohnzimmer mit dem breiten alten Sofa begnügen – schade, schade! Er war gewiß so ruhebedürftig – – zwei Tage später hätte er mit aller Bequemlichkeit einziehen können, als Hauptperson des Hauses, und doch! Welch ein Segen, daß er heute schon kam! Nun wurde das Fest auch noch für Mama ein Fest!

Die Kissen und Decken waren nun bereit, das hergezauberte Schlafzimmerchen recht einladend geworden, nun noch schnell in die Speisekammer. Für diesen Abend hatte sie auf niemand gerechnet, denn alle waren zur Italienischen Nacht in einem Konzertgarten, selbst Ursel hatte sich überreden lassen. Es war also gar nicht gedeckt, denn Mama hatte sich selbst aus der Speisekammer versorgen wollen, war aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen.

Nun rüstete sie noch mit Wonne ein Abendtischchen für zwei Personen, und kaum war alles zurechtgesetzt, da schlug die Hausglocke an, genau so, wie Axel immer klingelte. Und er war es!

»Meine liebe Mutter,« sagte er endlich nach der ersten, von überwältigender Freude stummen Begrüßung, »find' ich dich wirklich daheim? Ich fürchtete schon, ins leere Nest zu kommen! Die Stadt ist ja in einer festlichen Aufregung, überall wogt das Volk; ich dachte, kein Mensch wäre zu Hause.«

»Ich bin auch ganz allein.«

»Und hast du meine Depesche bekommen?«

»Ja, mein Junge, ich war gerade vom Konzert nach Hause zurückgekehrt, früher als wohl irgend jemand.«

»Aus Ahnungsvermögen, lieb' Mutterherz?«

»Vielleicht! Wer kennt die geheimen Stimmen und ihre Macht? Seit wann bist du zurück, Axel?«

»Gestern abend spät in Kiel angekommen. Ich dachte kaum, heute schon reisen zu können. Meinen Brief aus England hast du doch erhalten?«

»Nein, seit fast drei Wochen nichts!«

»Aber das ist ja schrecklich! Arme Mama!«

»Nun ist ja alles gut, Axel, nun komm herein und laß dich ordentlich ansehen. Ein wenig mitgenommen kommst du mir vor.«

»Na, 's geht, Mama; es war nicht immer nur ein Spiel auf dieser Reise.«

»Und nicht mal dein eigenes Zimmer, dein altes Bett kann ich dir geben!« klagte Mama, »wir haben das Haus voll von Gästen.«

»Kann ich mir denken; die Zeitungen sind ja voll vom Musikfest zu Wendenburg und von der Gastlichkeit seiner Bewohner. Es war das erste, was ich auf heimischem Boden las. Wen habt ihr denn? Logiert die große Sängerin Franzi Trautmann etwa auch bei euch?«

»Logiert die große Sängerin Franzi Trautmann etwa auch bei euch?«

»Nein,« sagte Mama lächelnd, »wir haben nur Chorsänger; Franzi war nicht zu bewegen. Sie wird täglich in Galaequipage von der Gärtnerei abgeholt, bei ihrer Mutter wollte sie bleiben!«

»Braves Mädel! Also noch nicht der Kopf verdreht?«

»Keineswegs! Aber Axel, du wirst morgen staunen, das heißt wenn du Lust hast, ins Konzert zu gehen.«

»Aber natürlich, Muttchen; ich bin ja so froh, daß ich nicht alles verpaßt habe, sondern noch vor Torschluß eintreffen konnte.«

»Und ich erst, Axel! Ich konnte bis jetzt zu keinem reinen Genuß kommen und mochte doch die Kinder nicht kränken. Ursel ist selig, wie du dir denken kannst.«

»Natürlich! Können denn die Schwarzbraunen noch Schritt halten miteinander? Ist die andere unserer Kleinen nicht weit voraus?«

»Ich weiß nicht – – es ist so eigen mit den beiden. Natürlich ist Franzi die Bedeutendere und Entwickeltere; aber man denkt nicht daran, wenn man sie mit Ursel zusammensieht, so vollkommen ist die Einigkeit, so reizend zart ihr Umgehen miteinander.«

»Du, Mama, unsere Schwarzbraune ist auch von uns früher unterschätzt worden.«

»Vielleicht, Axel, aber jetzt nicht mehr; du wirst sehen, was für eine Persönlichkeit Urselchen im Hause geworden ist.«

»Sie ist aber auch nicht bloß nett und gut, sie ist ein feines Köpfchen! Ich seh's aus ihren Briefen.«

Mama sah strahlend dazu aus; wie groß war doch jetzt auch die geschwisterliche Einigkeit!

»Aber nun iß auch, mein Junge, und dann sieh dir deine Schlafstätte an, ob es wohl so geht für diese Nacht.«

»Ach, Mutter, wie sollt's nicht gehen! Herrlich wird sich's ausruhen im Elternhaus!«

Als mitten in der Nacht der Landgerichtsrat mit Ursel und seinen Gästen nach Hause kam, waren alle erstaunt, die Rätin noch auf zu finden. Gerade sollte sie zärtliche Schelte bekommen, da blieb dem Papa das Wort in der Kehle stecken vor Mamas glücklichem Ausdruck.

»Ist etwa – ja – ich seh's dir an, du hast Nachricht von Axel!«

Mama nickte nur, und als die Fremden mit ihren Lichtern verschwunden waren, zog sie ihn, den Finger an den Mund legend, an die Tür des kleinen Wohnzimmers.

Papa sah hinein – da lag er ja, der Sohn, der langvermißte, heimlich umsorgte, und schlief den gesunden festen Schlaf der Jugend.

In stummer Rührung standen Vater und Mutter am Lager, aber er merkte es nicht.

»Blaß,« sagte Mama endlich, »mager, nicht wahr?«

»Aber sehnig, kräftig! Beruhige dich nur! Na, das wird ein Fest geben, Mama, das geht über alle Musik, was?«

Dann erfuhr Ursel die große Neuigkeit, und auch sie meinte: »Dies setzt unseren schönen Festtagen die Krone auf!«

Wie freute sich Mama noch am anderen Tage, daß sie ihren Jungen die ersten Stunden so völlig für sich gehabt hatte. Denn nun wurde man doch gleich wieder rettungslos in den Trubel des Festes gezogen.

Der dritte Tag war wie immer der Höhepunkt. Alle Mitwirkenden fühlten sich in der Festhalle schon wie zu Hause und mochten gar nicht daran denken, ihren Platz auf dem Podium nun aufgeben zu müssen.

Alle Zuhörer aber hatten sich in die Musik eingelebt, unter den Künstlern ihre Lieblinge erkoren und wollten sich dankbar beweisen. Große Körbe voll Blumensträußchen sah man in dem Gang vor dem Saale stehen, damit sollten die Gefeierten nach dem Singen überschüttet werden.

Aber eines war diesem Dank des großen Publikums vorausgegangen: die Auszeichnungen des Landesfürsten. Morgens in der Probe war ein Hofbeamter mit verschiedenen geheimnisvoll versiegelten Päckchen erschienen. Davon war eines zuerst dem Herrn Hofkapellmeister überreicht worden, dann jedem der Sänger auch eines.

Das Orchester hatte Tusch geblasen, und die Zuhörer hatten geklatscht. Und nun erschienen zum Konzert die Dekorierten, die Herren mit dem roten Ordensband um den Hals, die Damen mit der goldenen Medaille.

Auch Franzi trug am Ausschnitt ihres duftig weißen Kleides das goldene Ehrenzeichen, das die Mutter ihr kaum hatte anlegen können, so sehr hatten ihre Hände gezittert. Herr Bauer aber hatte gemeint, diesmal dürfe sie keine Blumen daneben stecken, sie könnten die Medaille verdecken!!

Ursel wußte nichts davon, denn sie hatte wieder nicht in die Probe gehen können, weil sie sich doch Axel widmen wollte.

Nun saß sie zwischen ihm und Wilhelm, der heute nichts mehr zu leisten hatte, in der zwölften Reihe des großen Saales. Noch näher heran hatte sie nicht gewollt, aus Furcht, es könnte Franzi stören.

Die schien sie heute noch gar nicht entdeckt zu haben, sie sah so gedankenvoll und ernst aus, als drücke sie das Ehrenzeichen. Elfchen, die mit all ihren zahlreichen Freundinnen für Franzi schwärmte, hatte schon heimlich deklamiert:

Die goldne Kette gib mir nicht.
Die Kette gib dem Kanzler!

Sie meinte: Franzi sieht aus, als wollte sie das sagen.

Das Orchester spielte nun zuerst eine schöne festliche Eingangsmusik, dann schmetterte der Tenor eine Heldenarie, Frau Jagemann trug eine hochdramatische Gesangsszene vor, und wie die majestätische Erscheinung der großen Altistin wieder abgetreten war, stand auf dem bekränzten Platz des Dirigenten, der jetzt nichts mehr zu tun hatte, hoch über der Menge, die schlanke junge Gestalt im weißen Kleide, der schon so manches Herz entgegenschlug.

Sie sang als Erstes: »An die Musik« von Schubert.

Ursel weinte lautlos hinter dem vorgehaltenen Programm. Franzi hatte gesagt: »Wenn du die letzten Worte des ersten Liedes hörst, dann denke, meine Ursel, ich spreche mit dir.« Und nun hörte sie diese letzten Worte, die in dem Liede der holden Kunst galten: »Ich danke dir!«, und sie wußte, was die Freundin damit sagen wollte.

Das Publikum schien nach dem innig ergreifenden Vortrag auch einen Augenblick den Atem anzuhalten, als möchte es die weihevolle Stimmung nicht stören; aber dann mußte es doch klatschen, wie sollte es sonst seinen Beifall äußern?

Nun folgte Lied auf Lied. Die Künstler wechselten ab, der Applaus steigerte sich, die Blumensträußchen flogen, und die Sänger konnten des Grüßens und Sichverneigens nicht genug tun.

Franzi hatte nun auch längst ihre Freunde entdeckt, und es schien, als sänge sie von Lied zu Lied schöner. Sie hatte in richtiger Erkenntnis ihrer Stellung zu den anerkannten, großen Künstlern mehr schlichte als großartige Sachen gewählt; aber sie sang mit einem Ausdruck, als dächte sie immer, wie sie schon als Kind zu Ursel gesagt hatte: »Musik ist – sie sei ernst oder traurig oder lieblich – immer groß! Und Singen ist Glück!« setzte sie wohl jetzt noch hinzu.

Sie schloß mit dem Liede:

»Wenn die wilden Rosen blühn,«

und trotz allen Jubelns in den Worten:

»O du schöne, du schöne Rosenzeit!«

wurden manchem Zuhörer die Augen feucht.

Axel Dahland saß merkwürdig blaß und in sich gekehrt da; er war vielleicht der einzige, der keine Hand zum Applaus rührte. Er konnte sich nicht so schnell in den Übergang finden. War das noch die Jugendfreundin, die da oben stand, geschmückt und gefeiert, war das noch die kindlich frohe, reizende Schwarzbraune?

Im Gedränge am Schluß des Konzertes verlor er sich sacht von den Seinigen. Er wollte nicht zu denen gehören, die sich jetzt ums Podium scharten, um noch einen Blick von den Künstlern zu erhaschen oder sich ihnen gar vorzustellen.

Er war der erste zu Hause, und als Ursel kam, überfiel sie ihn förmlich mit Vorwürfen.

»Wo bist du hingeraten? Wir haben uns fast die Augen nach dir ausgeguckt, Franzi auch! Sie kann es übelnehmen, daß du sie noch gar nicht begrüßt hast.«

»So?« fragte Axel trocken, »ist sie so?«

»Wie denn: so?« wiederholte Ursel gereizt. »Sie ist lieb und treu und anhänglich und denkt bei allem Ruhm doch am meisten an uns, ihre Freunde. Nun kannst du sie vor Abend nicht sehen, denn jetzt ist sie mit allen Künstlern und Dirigenten bei Hofe zur Tafel befohlen. Heute abend gehen wir aber alle zu Ball!«

Axel lachte und umfaßte seine eifernde Schwester. »Ihr seid alle wie ausgetauscht, gar nicht wieder zu kennen. Ich muß mich wahrhaftig erst drein finden – das geht nicht so schnell. Franzi wird mir wohl wieder gut.«

Nun war der Abend des letzten Festtages gekommen. Das Hoftheater strahlte in hellstem Glanz, und Wagen auf Wagen fuhr vor das Portal. Geschmückte Gestalten schlüpften heraus, nur in leichter Vermummung, denn an einem solchen Frühlingstag zu Ball zu gehen, war ja eine Ausnahme.

Der große Zuschauerraum mitsamt der Bühne war in einen einzigen Ballsaal verwandelt, in dem es sich wundervoll tanzen lassen mußte! Auf der Bühne waren auch Lauben von grünem Gezweig errichtet, mit Ruhebänken darin, ein Springbrunnen verbreitete erfrischende Kühle, und das elektrische Licht lag beinahe wie Mondschein auf diesem anmutigsten Teil des Saales.

In den Logen saßen solche Festgäste, die mehr zusehen, als sich am Tanz beteiligen wollten; vom ersten Rang führte die breite teppichbelegte Treppe herab, auf der die allerhöchsten Herrschaften jetzt erschienen und unter den Klängen der Musik ihren Rundgang im Saal hielten. Damit war der Ball eröffnet, und der Raum, der eben noch für die Fürstlichkeiten frei gehalten war, schloß sich schnell mit den sich drehenden Paaren.

Es sah von eben aus, als hätten sie gar keinen Platz zum Tanzen; aber sie mußten das doch nicht finden, denn alle sahen belebt und vergnügt aus.

Ursula saß auch noch oben und sah zu, später wollte sie hinunter gehen, erst mußte sie Franzi beobachten. Leider saß auch Axel neben ihr, was sie wieder nicht begriff. Er mußte doch sofort ein Haupttänzer sein und sich bei Franzi von niemand zuvorkommen lassen!

Aber – Franzi tanzte heute mit Hofherren! Wirklich, einer nach dem anderen kam zu der jungen Sängerin. Da war ein Prinz, ein Verwandter des regierenden Hauses, jetzt ein Kammerherr, ein Flügeladjutant, nun folgten die anderen Offiziere.

Ursel sah ihren Bruder an, der stand denn auch mit einem Ruck auf und sagte: »Komm, Schwesterchen; gibst du mir den ersten Tanz?«

»Sehr gern, aber nur eine Tour.«

Jetzt waren sie unten, und das glänzende Gewühl schien Ursel beinahe beängstigend. Aber Axel führte sie mit sicherer Hand hindurch, und sie tanzten.

»Sehr gut,« lobte Axel, wie sie pausierten, »weißt du wohl noch, Ursche, wie ich Tanzstunden so sehr nötig für dich fand?«

»Ja, du nanntest mich immer ›krumm wie ein Fiedelbogen‹. Aber jetzt geb' ich dir Urlaub, ich setz' mich da zu Mama und Frau v. Sontheim; nun engagiere andere Damen. Erkennst du Vicky?«

Axel verbeugte sich schon vor Ursulas Kränzchenfreundin und machte eine Runde mit ihr. Dann stand er endlich vor Franzi.

»Endlich!« sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, »Axel, – Herr Kapitänleutnant?«

»Sie erkennen sogar meinen Rang?« fragte Axel.

»O natürlich, ich weiß genau, wie viel noch bis zum Admiral fehlt!« sagte sie schelmisch; er aber erwiderte etwas ernst: »Ich hingegen weiß gar nicht, was Ihnen noch fehlt zu dem, was Sie erreichen wollten. Auch weiß ich nicht, wie ich Sie nennen soll.«

»Franzi, denk' ich,« sagte sie einfach und herzlich, und dann tanzten sie.

»Welche Freude,« fing sie in der Pause gleich wieder an, »daß Sie noch während des Festes hierher kamen. Ihre arme liebe Mutter konnte ja zu gar keinem Genuß kommen.«

»Wirklich? Ließ Mama sich die Sorge um mich so sehr merken?«

»Nein, eigentlich war sie sehr tapfer, wollte niemandem das Vergnügen stören; aber ich hab's doch gemerkt, und ich fand es begreiflich.«

Ein Herr kam jetzt und erbat eine Extratour von der Sängerin, Axel mußte sie ihm abtreten; wie sie zurückkam, sagte sie munter: »Wissen Sie, Axel, wer das war?«

»Nein. Was sehr Bedeutendes?«

»Der ›Steuermann‹ von damals, von Ursels und meiner märchenhaften Bootfahrt mit dem ›Schwan‹ des Erbprinzen.«

»Ah! Und der Erbprinz – ich meine, unser allergnädigster Landesfürst?«

»O, der war auch sehr huldvoll beim Diner! Als ich meinen Dank aussprach für – hier, haben Sie schon gesehen, Axel?« unterbrach sie sich, verschämt auf ihren Orden zeigend, »da sagte seine Hoheit: ›Das ist meine Erwiderung für die wilden Rosen vom Rohrwerder!‹ War das nicht ein hübscher Scherz?«

»Sehr hübsch, Franzi, mit solchen Aufmerksamkeiten kann nun ein armer Jugendfreund natürlich nicht wetteifern!«

»Ach Unsinn, Axel! Der Fürst kann mich ja unmöglich mehr gekannt haben; man hat ihm wohl ein bißchen von mir erzählt, damit er etwas mit mir reden könnte, außer von Musik.«

Axel hielt es zwar nicht für unmöglich, daß man ein so reizendes Mädchen wie Franzi Trautmann im Gedächtnis behält, auch wenn man ein Prinz ist, aber er freute sich über ihre harmlose unverdorbene Art, die noch so weit entfernt war von dem Selbstbewußtsein einer »Berühmtheit«, wie er sie sich in Gedanken vorgestellt hatte.

Sie war nur glücklich über ihre Aufnahme auf diesem Fest in der Heimat, und das konnte und durfte sie sein, glücklich und dankbar!

Jetzt trafen sie auf Ursel und Wilhelm, die auch getanzt hatten, und die vier setzten sich auf eine der grün umbuschten Bänke auf der Bühne.

»Jetzt könnte meinetwegen dieser ganze Festtrubel wie ein Spuk verschwinden,« meinte Franzi, »und wir könnten unter wirklichen Bäumen, im wirklichen Mondschein sitzen. Man hat sich doch noch so viel zu erzählen, wobei diese Umgebung nur stört.«

»Wie wär's denn morgen mit einer Wasserfahrt, wie in alter Zeit?« schlug Axel vor, und Franzi ging freudig darauf ein.

»Morgen darf ich wieder alles, diese Tage mußte ich mich ja so grenzenlos schonen. Nicht mal reden durft' ich, so viel ich wollte, nicht wahr, Ursel? Aber man gehört dann nicht sich selbst, man gehört dem Ganzen und muß seine Pflicht tun. Denn Singen ist nicht nur ein Spaß, wie so viele Menschen im Zuhörerraum denken und von den leicht erworbenen Lorbeeren der Sänger sprechen; Singen ist auch eine Arbeit – wenn auch eine schöne – und es gehört gerade so viel Ernst und Selbstzucht dazu, wie zu jedem anderen recht aufgefaßten Beruf! Wollt ihr's glauben?«


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