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13. Kapitel.
Was der Schloßorganist sagte

Am Tage nach dieser ersten Ferienpartie, die so ganz anders ausgefallen war, als man gedacht hatte, gab es noch immer viel zu reden, zu erklären und zu staunen.

Als die Kleinen von Ursulas Abenteuer hörten, machten sie große Augen. Elfchen beschloß heimlich, sich künftig auch zu verirren, und Robert versicherte: »Ich komm' nu auch immer zu spät!« – »Weil man dann mit'm Prinzen fährt!« fügte Bertram hinzu.

Nachdem die Kleinen sich noch angelegentlich erkundigt hatten, ob er eine Krone aufgehabt habe, und Ursel bereitwillig noch immer mehr erzählt hatte, spielten sie den ganzen Tag: »Verlassen auf der Insel.« Sie standen am Strand mit weit ausgestreckten Armen und schrieen um Hilfe, so jammervoll, daß mehr als einmal jemand erschrocken in die Kinderstube gestürzt kam, wo ihm dann bedeutet wurde: »Scht, scht, wir warten auf das Prinzenschiff!«

Ursula ging natürlich Nachmittags zur Schloßgärtnerei. Sie ahnte, daß Franzi nach dem gestrigen Vergnügen sich heute vielleicht besonders anstrengen müsse, um etwaige Versäumnis einzuholen; vielleicht konnte sie ihr etwas helfen.

Wie erstaunt war sie daher, Franzi mit einem Buch anzutreffen! Kaum konnte sie ihre Begrüßung mit der Frage einleiten: »Nun, wie ist's bekommen, das große Erlebnis!« da rief Ursel schon: »Was hast du – eine verbundene Hand!?«

»Ja, denk dir,« sagte Franzi kleinlaut, »ich hab' mich geschnitten, und so furchtbar, daß ich nicht arbeiten kann.«

»Aber Franzi! Wie kam das?«

»Ach, beim Kartoffelschälen. Weißt du, es gibt jetzt so besonders viel Arbeit – das Mädchen muß auch mit im Garten helfen – da nahm ich mir vor, nach dem gestrigen himmlischen Tage heute wie toll zu schaffen, damit Herr Bauer nur nicht ärgerlich wird über meine Vergnügungen, wie ihm schon mein Klavierspiel immer nicht ganz recht ist! Also steh' ich heut recht früh auf und mach' mich ans Kartoffelschälen, damit Mine, die gestern bis spät Abends anderes zu tun gehabt hatte, sich heute nicht dabei aufhalten sollte. Und die Kartoffeln – kannst dir wohl denken, daß es nicht wenige sind für unseren Tisch! – also, ich mach' mir mein Messer recht schön scharf und schäle und schäle – immer flinker, so wie die Gedanken tanzten, und ich stellte mir vor, wenn der Prinz sähe, was für ein Aschenbrödel er gestern in seinem stolzen Schwanenboot gehabt hatte – da fuhr mir das Messer in die Hand, und so, daß ich ganz kalt wurde vor Schreck!«

»O Franzi, Franzi!«

»Natürlich war's nachher nicht so schlimm; wenn's nur erst zu bluten aufgehört hat, beruhigt man sich schon. Aber die Verletzung ist gerade auf der bösesten Stelle, zwischen Zeigefinger und Daumen, das heilt nicht, wenn ich die Finger nicht ganz fest zusammengebunden lasse. Anfassen kann ich also nichts!«

»Welche Geduldsprobe, meine arme fleißige Franzi!«

»Ja, und heute war Klavierstunde; ich bin natürlich gleich hingegangen, um mich abzumelden, sicherlich für eine volle Woche.«

»Das tat Herrn Fritze gewiß leid.«

»Sehr; ich sag' dir, er wurde ordentlich ein bißchen zornig! ›Da hat man sich nun ausgedacht, Sie in den sogenannten Ferien gehörig vorwärts zu bringen – nun machen Sie so was! Klavierspielerinnen müssen ihre Hände eben schonen.‹ Ich sagte: ›Aber Herr Fritze, das kann ich leider nicht‹, und erzählte ihm das von den Kartoffeln; da wurde er ganz wild. ›Ist es erhört? Sie müssen die Kartoffeln schälen für die ganze Gärtnergesellschaft? Das ist ja wohl beinahe 'n Scheffel!‹ Ich lachte und sagte, so viele wären's gerade nicht, und ich müßte es auch nicht tun; ich hätte es nur gern gewollt, weil so sehr viel Arbeit sei augenblicklich, und Herr Bauer mir doch so manche freie Stunde gönnte. ›Manche freie Stunde,‹ brummte Herr Fritze, ›damit ist es, glaub' ich, nicht weit her. Ihre Hände reden doch deutlich davon!‹«

Franzi unterbrach sich, ein wenig seufzend. »Es ist ja wahr, meine Hände sehen jetzt greulich aus, und sind nicht immer so gelenkig, wie sie sein sollten.« Sie schlug mit der linken Hand einen kleinen Kreis und fuhr dann fort: »Daß Herr Fritze es aber sehr gut mit mir meint, das hab' ich heute recht gesehen. Er hörte nämlich nun auf zu brummen und sagte: ›Wenn ich über Sie zu bestimmen hätte, mein liebes Kind, so unterbliebe alles Kartoffelschälen und alle Gartenarbeit, auch das viele Nähen – ich sehe ja Ihren zerstochenen Zeigefinger – und Sie bekämen Zeit und Gelegenheit zu ernstlicher Ausbildung.‹ ›O Herr Fritze,‹ sagt' ich da, ›ich lerne ja so viel bei Ihnen, und wenn diese dumme Fingergeschichte nicht gekommen wäre, hätte ich auch genug Zeit zum Üben. Sie sagten doch selbst zuerst, mit zwei Stunden täglich wären Sie zufrieden.‹ ›Ich sagte das? – vielleicht anfänglich. Ja, Kind, jetzt denk' ich aber anders. Haben Sie denn niemand, der etwas für Sie tun könnte? Ich möchte Sie so gern aufs Konservatorium bringen!‹ Du kannst dir denken, Ursel, ich war starr! Mein kühnster Wunsch hier ausgesprochen! Also hält er es doch für der Mühe wert, daß ich mich ernstlich diesem Berufsstudium hingebe – aber ach, es ist ja nicht daran zu denken!«

Franzi, die allzeit Mutige und Frische, sah ganz trübselig drein, und Ursula, ganz benommen von all dem Gehörten, sagte: »O du, da hätten wir ja den schönsten Wunsch bereit gehabt, wenn der Prinz uns gefragt hätte!!«

Franzi lächelte. »Meinst du, daß ich daran nicht dachte, als ich das gestern von den drei Wünschen sagte?! – Aber nein, mit so was darf ich mich gar nicht aufhalten. Das hätte einen Prinzen wohl nicht gerührt! Und überhaupt – ach, still davon! Ich kann bei Herrn Fritze noch sehr viel lernen, Künstlerin brauch' ich ja nicht zu werden – wenn ich nur unterrichten kann!«

»Möchtest du aber Künstlerin werden?«

Franzis Augen blitzten. »Ja! Ja! O wie gerne! Es ist ein Traum, den schon Fräulein Elsner für mich hatte. Sie selbst hat es nicht werden können, weil sie kein Geld zum Studieren gehabt hat, schon früh verdienen mußte. Wie aber sollt' ich dazu kommen? – Herr Fritze möchte aber doch gern, daß ich vom ganzen Wesen der Musik so viel wie möglich lerne, und da ich heute nicht spielen konnte, hat er mir eine Theoriestunde gegeben – und hier, diese Bücher. Ist das nicht fein?«

Ursel sah ehrfürchtig in das aufgeschlagene Buch und meinte: »Ich verstehe kein Wort davon.«

»O, das lernt man aber, es ist furchtbar interessant, hör mal!« und sie las eine Regel vor.

Aber Ursel machte ein unglückliches Gesicht und bat: »Laß, Franzi, ich versteh' das wirklich nicht.«

O, Herr Fritze, wenn diese dumme Fingergeschichte nicht gekommen wäre, hätte ich ja auch Zeit genug zum Üben.

Franzi lachte. »Na, dann sieh dir dieses Buch hier an, das Leben Johann Sebastian Bachs.«

»Ja, von berühmten Männern les' ich zu gern.«

»Ach, und dies ist wunderschön, oft rührend. Und von all den musikalischen Söhnen – dies Leben und Weben in Musik! Der Friedemann Bach interessiert mich am meisten – und dann hier das reizende Lied – Fräulein Elsner sang es – paßt es nicht so recht auf uns beide?

Willst du dein Herz mir schenken,
So fang' es heimlich an,
Daß unser beider Denken,
Niemand erraten kann!«

Ursel sah die Freundin wieder voll Entzücken an, bejahte, daß es auf sie beide passe und bat: »Sing doch weiter, es klingt so hübsch! Ach, Franzi, Sängerin könntest du gewiß auch werden.«

»Ach geh, bewahre! Singen kann jeder!«

»Nicht jeder, ich zum Beispiel nicht.«

»Du! Was könntest du wohl, nach deiner Meinung, du Bescheidenste von allen!« rief Franzi zärtlich, und Ursel, halb beglückt, halb von ihrem Ehrlichkeitsdrang getrieben, beharrte: »Aber singen kann ich wirklich nicht. – Und nun erzähl weiter von Herrn Fritze.«

»Viel ist nicht mehr zu sagen; wir haben ausgemacht, daß ich so lange Theorie treiben soll, bis ich wieder spielen kann. Also in der Musik lerne ich doch etwas in dieser Zeit; es ist nur so schlimm mit meinen anderen Pflichten.«

»Laß mich dir helfen!«

»O Urselchen, wo denkst du hin, was würden deine Eltern sagen, wenn ich dich hier anstellte!«

»Freuen würden sie sich. Ganz gewiß. Mein Papa will gern, daß ich frisch und braun werde, wie du.«

Und sie erzählte die Äußerung des Landgerichtsrats. Franzi hörte still zu.

»Deine Eltern sind prächtige Menschen!« sagte sie dann sinnend, »du mußt sehr glücklich sein, Ursula.«

Wieder dachte diese an ihr unglückliches Tagebuch und schämte sich. Sie begriff auch jene Stimmung gar nicht mehr, so sehr hatte die letzte Zeit sie verändert.

»Also gib mir was zu tun!« nahm sie nach einer Pause ihre Bitte wieder auf, und Franzi sagte: »Willst du denn im Garten pflücken helfen? Es sind Unmengen von reifen Himbeeren da, die keinen Tag mehr hängen dürfen. Mutter ist schon dabei, weil die Leute es nicht bewältigen können.«

»Ich geh' also zu deiner Mutter und helfe, und du – was tust du?«

»Ich werde die kleinen Bauers lesen lassen, damit ich mich nicht den ganzen Tag zu schön bei meiner Musik amüsiere.«

»Also müssen wir uns trennen, aber ich denke an dich, Franzi, und an unser Märchen von gestern. Ach, hätten wir doch einen Wunsch frei gehabt!«

Nicht aus dem Sinn kam ihr der Gedanke, und während sie so emsig pflückte, daß ihr Gesicht glühte, gingen ihr alle möglichen Erwägungen im Kopfe um.

Frau Trautmann wunderte sich über ihre Schweigsamkeit und fürchtete, daß das anders gewöhnte Mädchen doch diese Arbeit sehr ungern täte, wenn sie auch Franzi zuliebe sich dazu erboten hätte. Sie suchte also Ursel zu überzeugen, daß ihre Hilfe nicht länger nötig sei; aber sie erreichte damit nur, daß Ursel desto eifriger arbeitete und dagegen Frau Trautmann beschwor, sich zu schonen bei der Hitze. Das Ergebnis der beiderseitigen Rücksichtnahme aber war, daß sie immer einträchtig am selben Strauch pflückten und auch in lebhafte Unterhaltung gerieten.

Auch Frau Trautmann hatte, wie vorhin Franzi, Worte des Dankes und der Wertschätzung für Ursulas Eltern. Dadurch kam sie auf ihr eigenes Elternhaus zu sprechen, auf ihres Vaters Vorzüge und endlich auf die Ähnlichkeit ihres Sohnes mit dem kaum noch gekannten Großvater. In der Freude ihres Herzens erzählte sie dann auch von Wilhelms in Aussicht stehendem Besuch und der Freundlichkeit des Obergärtners.

Ursula hörte alles voll Interesse, aber als sie endlich mit den Himbeeren für heute fertig war, kehrten ihre Gedanken gleich wieder zu Franzi zurück, über deren Schicksal sich ja heute durch den alten Schloßorganisten ganz neue Möglichkeiten aufgetan hatten. Wenn – sich nur jemand fände, der seine Hand dazu bot, aus diesen Möglichkeiten Wahrheit zu machen!

Wer konnte es sein? Wer konnte helfen?

An ihre eigenen Eltern dachte Ursel nicht. Sie war schon verständig genug, um zu wissen, daß ein Beamter mit sechs Kindern nicht ohne weiteres noch die Ausbildung eines fremden siebenten Kindes mit übernehmen konnte, auch wenn er in auskömmlichen Verhältnissen lebte. Sie hatte öfter sagen hören: Reich sind wir nicht, wenn wir auch gerade keine Sorgen haben, wir müssen an die Zukunft unserer Kinder denken.

Also hier mußten ganz andere Mächte eingreifen, sagte sich Ursel. Von Stipendien für Studierende hatte sie wohl gehört. Gab es etwas Ähnliches für Mädchen, die eine Kunst erlernen wollten? Gab es – konnte man nicht – war eine Möglichkeit –

Plötzlich kam's wie ein Blitz über Ursel: Ein Gedanke! Der ließ sie nicht wieder los, sondern nahm völlig Besitz von ihr.


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