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24. Kapitel.
Briefe

»Nur wenige Minuten hab' ich heute frei, meine liebe Ursel,« schrieb Franzi, »aber ich will gleich wenigstens den Anfang zu einem Brief machen, wenn er dann auch in Absätzen fortgesetzt werden muß.

»Fräulein Elsner hat recht: das Konservatorium nimmt den ganzen Menschen in Anspruch! Jetzt bekomme ich eigentlich erst einen Begriff davon, was die Musik bedeutet, was für ernste Arbeit zum Dienst der Hohen, Holden gehört, wenn wir wirklich eingehen wollen in ihr Reich.

Da ist nicht bloß das Klavierüben – mehrere Stunden Technik täglich, bis man zu dem Schönen kommt – da sind unsere theoretischen Ausarbeitungen, Musikgeschichte, Italienisch – ja, Urselchen, ich bin ein rechtes Schulkind wieder geworden, aber so glücklich, so glücklich dabei! Und wenn ich einmal sage, daß ich für nichts anderes Sinn habe als für meine Musik, dann sei Du doch nicht eifersüchtig, sondern denke nur, daß Du immer dazu gehörst. Denn was hätte die edle Fürstin, die nun alles für mich gibt, von mir armem Wurm geahnt, wenn Du nicht so mutig vorgegangen wärst? Und darum schulde ich Dir so gut meine Zukunft wie der hohen Frau.«

*

»Hier mußte ich gestern abbrechen, aber heute habe ich etwas mehr Zeit, da treibt es mich gleich wieder zu Dir. Ich habe heute was Besonderes erlebt!

Frau Professor Gerstenberg, die erste Gesanglehrerin am Konservatorium, bat mich, in einer Stunde ihr zu Hilfe zu kommen, da ihr ständiger Begleiter krank sei. Ich erschrak zuerst, ging aber doch mutig mit, weil Frau Professor sagte, ich sei unter den Schülerinnen, die mein Klavierlehrer als tauglich zum Begleiten vorgeschlagen habe. ›Und,‹ fügte sie hinzu, ›ich bat Sie, weil ich Sie gern leiden mag!‹ – Denk, Ursel, von der großen Frau überhaupt beachtet zu sein!

Zuerst begleitete ich nun Übungen, die sehr leicht waren, dann kamen Lieder und Arien. Vier Damen teilten sich in die Stunde, alle paar Minuten hörte ich eine andere. Schöne Stimmen, nur sang eine greulich falsch! Das heißt jetzt übertreib' ich; solche, wie Du nun denkst, werden wohl gar nicht angenommen, aber so unrein! Mir zog es immer ordentlich im Ohr dabei. Und eine konnte nicht zählen. Dabei fing ich schon an, mit Kopf und Schultern zu zucken, als müßte ich dafür aufkommen, und ich durfte doch eigentlich gar keine Meinung haben. Frau Professor war sehr geduldig und gab so klare Erläuterungen, daß ich immer dachte, danach müßte Singen ein Kinderspiel sein. Als die Stunde aus war, sagte sie freundlich zu mir: ›Sie sollen mir noch öfter helfen, das geht gut. Sie haben angeborenen Rhythmus. Können Sie auch singen?‹

›Ach ja, ein bißchen, wie jeder Mensch,‹ sagt' ich. Da lachte sie: ›Wirklich, wie jeder? Na, singen Sie mal!‹ Und sie schlug ein Heft auf und spielte eine Übung, die heute mehrmals durchgenommen worden war. Und ich, ganz keck, singe! Falsch ja nicht, wie die eine, und zählen muß ich immer, das hab' ich von Fräulein Elsner so gelernt; also ging es. Nun nahm Frau Professor ein Lied und sagte: ›Jetzt einmal dieses.‹ Und ich – wieder losgesungen! Es war ›Der Lindenbaum‹ von Schubert, den kennt man ja. Ich wunderte mich bloß darüber, daß es so laut klang; es muß da eine besondere Akustik in der Klasse sein, oder auch, ich hatte die Stimme der anderen Damen noch so im Ohr, daß ich auch unwillkürlich ein wenig ›loslegte‹, wie man hier sagt. Frau Professor drehte sich um und fragte: ›Und Sie wollen Pianistin werden? Wie alt sind Sie?‹ ›Siebzehn.‹ ›Nun, da bleiben Sie nur noch bei Ihrem Instrument; übers Jahr aber hoffe ich Sie in meiner Klasse zu sehen!'

Ursel, was sagst Du? Würdest Du auch erlauben, daß ich – am Ende Sängerin werde? Du meine süße holde Protektorin?

Na, Spaß!! Frau Professor hat's auch wohl nur im Spaß gemeint!«

*

»Heute wieder in der Singstunde begleitet. Meine Kehle machte alles lautlos mit, auch die ganze Atmung betreib' ich mit. Ich bin entzückt! Beinah' mag ich nun nicht mehr Klavier üben – aber das darf nicht sein, sei nicht bange, Ursel! Ich sagte das eben nur so! Ich spiele jetzt Bach – und da sollt' ich nicht fleißig sein? Aber das Singen – – –

Hör mal, ich hab' neulich eine Sängerin gehört, die liegt mir Tag und Nacht im Sinn. Stelle Dir vor: In der Singakademie – das ist nicht unser größter, aber eigentlich unser vornehmster Konzertsaal – kommt zwischen den weißen Säulen des Hintergrundes auf den breiten flachen Stufen des Orchesterraums herunter eine Dame. Sie schreitet nicht majestätisch, sie fliegt wie ein rosa Wölkchen herab! Mit einem dunklen Kopf und dunklen Augen, die strahlend ins Publikum grüßen, das bei ihrem Erscheinen sofort in rasenden Applaus ausbricht. Na, denk' ich, sie hat ja noch nichts geleistet! Aber dann, dann fängt sie an. Sie singt nicht ein Programm ab, – nein, sie überschüttet uns mit einem wahren Liederfrühling! Mit so viel Klang, Poesie und Seele, daß ich kleine dumme Dirn in Tränen ausbreche. Die anderen Konservatoristinnen neben mir stoßen mich an, sie lächeln, – ich aber weine. Das ist ein Gesang, ach, und das ist ein herrliches Menschenkind! – Man kann sich ja nicht vornehmen, solchen Sonntagskindern des lieben Gottes nachzueifern, denn das ist Gnade! Aber man kann sich immer wieder vorsagen: Solche Künstler gibt es, und du armer Stümper darfst nicht ruhen und rasten, bis du ihnen wenigstens die Schuhriemen lösen darfst!«

*

»Liebe Ursel, hast Du gestern nicht gedacht, Deine Franzi würde überspannt? Fürchte nichts, heute bin ich schon wieder sehr klein. Professor Mühlenz ließ mich scharf an: ›Fräulein Trautmann, seien Sie mal nicht so zerstreut; was soll ich von Ihnen denken? Wo sind Sie mit Ihren Gedanken?‹

Ach Du, natürlich bei der Sängerin. Aber ich nahm mich jetzt zusammen und beschloß, in nächster Zeit nur Klavier- und Orchestermusik zu hören. Nur! Wenn ich bedenke, daß ich bis vor kurzem nichts hörte, nichts kannte, als Fräulein Elsners liebes Spiel und meinen lieben Schloßorganisten! Was hab' ich in diesen Wochen nun schon alles gehört! Du wunderst Dich vielleicht, daß ich das alles mitmachen kann; aber das ist ja das Schöne am Konservatorium, man bekommt so viele Freibillette, die immer verschieden verteilt werden. Heute sollte ich wieder eines haben zu einem Liederabend, aber ich bat: ›Lieber zur nächsten Kammermusik.‹ ›Warum?‹ fragte Frau Professor Gerstenberg. ›Ich will mir das Herz nicht groß machen.‹ Und sie verstand. Sie strich mir lächelnd übers Haar und sagte: ›Nur Geduld, Sie Schwarzköpfchen; übers Jahr, da singen wir!‹ Ach, bei dieser Anrede dachte ich an Dich, die andere Schwarzbraune, und ich bekam Heimweh und zählte die Wochen, wie lange wir schon getrennt sind. Bald ist Weihnachten, und ich komme nicht. Hier in der Pension soll auch immer nett gefeiert werden, sagen die anderen, und vielleicht kann ich auch – –«

»Heute weiter. Ich wollte von Leontine erzählen, nach der Du neulich so angelegentlich fragtest. Oft sehen wir uns nicht; wir wohnen zu entfernt voneinander und haben beide zu wenig Zeit. Auch Leontinchen muß tüchtig heran mit Studieren; ihre Tanten, die Gräfinnen Steineck, geben sehr auf ihre Ausbildung, und Leontine klagt mir vor: ›Ach, Franzi, könntest du doch noch mit mir lernen, wie früher: das ging so schön!‹ Ja, denk' ich, sehr gern, wenn ich nur nicht selbst so viel zu tun hätt'. Die beiden Gräfinnen sind sehr gütig gegen mich. Zuerst fragten sie mich gründlich aus, da sie aus Leontinens Beschreibung der früheren Verhältnisse in Wehrburg wohl noch nicht völlig klug geworden waren. Später sagte Gräfin Diana einmal: ›Armes Kind, da sind Sie ja durch das fehlende Testament unseres seligen Vetters Wehrburg recht geschädigt.‹ Das war mir nun doch nicht recht, denn es klang mir wie eine Kränkung des gütigen Grafen, und ich sagte mit Feuer: ›Ach, gnädige Gräfin, der selige Herr hat so viel für uns getan, so lange er lebte! Wer konnte ahnen, daß er so früh und plötzlich sterben müßte?‹ Da sagte Gräfin Ludowika: ›Leontine hat schon oft gewünscht, Ihnen etwas recht Schönes zu schenken, oder für Sie zu sorgen, ehe Sie die hohe Gunst Ihrer Fürstin erfahren hatten; aber – ich muß Ihnen sagen – das Kind ist selbst nicht reich, nicht einmal wohlhabend zu nennen!‹ – Wer hätte das gedacht, Ursel! Wehrburg erschien mir immer wie ein Ort des Glanzes und der Herrlichkeit. Aber es ist doch rührend von Tini, daß sie so gegen mich gesonnen ist! Sie ist überhaupt viel netter, als früher. Jetzt hat sie sich auch wieder was sehr Hübsches ausgedacht: Sie hat ihre Tanten gebeten, Fräulein Elsner zu Weihnachten einzuladen, und ich soll dann auch immer da sein. Ist das nicht eine schöne Aussicht?«

»Ich hab' in Gedanken mit Euch eine wunderschöne Weihnachtsfeier gehalten.«

»Das Weihnachtsfest ist vorüber, liebste Ursel,« schrieb Franzi bald nachher, »und wenn ich auch manch heimliches Tränlein vergossen habe, so muß ich doch recht dankbar darauf zurücksehen; denn ich gehörte in dem ungeheuren Berlin gewiß nicht zu den Verlassenen! In der Pension hatten wir auch einen Baum geputzt, wozu wir alle etwas beisteuerten, und nachdem ich mit mehreren Pensionärinnen vom Dom zurück war (wo der Chor wundervoll sang!), wurde angezündet, und allerlei kleine scherzhafte Überraschungen kamen zu Tage. Ich wollte auch fröhlich sein, aber – es gelang nicht recht. Denn – alle Pensionärinnen hatten Pakete bekommen, nur ich nicht. Ich sagte mir wohl, daß es sich nur um eine Verspätung handeln könne, und Fräulein Zimmermann, unsere Vorsteherin, tröstete mich, es käme um acht Uhr noch eine Post – aber so lange konnte ich nicht warten. Halb acht wird bei den Gräfinnen Tee getrunken, und diese Damen, die viel auf Pünktlichkeit geben, warten zu lassen, das ging doch nicht an. Also fuhr ich zur rechten Zeit mit der Elektrischen nach der Kurfürstenstraße, und nun verging mir das Heimweh. Oder auch – es wurde erst recht lebendig! Das klingt wie Widerspruch, und ist doch so. Fräulein Elsner war angekommen, und als ich ihr liebes Gesicht sah, tauchte Schloß Wehrburg und die ganze frühere Zeit so deutlich vor mir auf – die Kindheit und – mein Vater! Wir weinten alle drei, und das war der Zoll, den wir der Heimat und der Vergangenheit brachten. Dann aber waren wir froh zusammen, und ich fühlte mich in der fremden Stadt und fern von Euch doch nicht mehr unglücklich.

Als ich spät nach Hause kam, vom Diener der Gräfinnen begleitet, fand ich in meinem Zimmer die Kiste aus Wendenburg. Ich überlegte, daß es vernünftiger wäre, ich ließe das Auspacken bis zum anderen Morgen; aber nein, diesmal siegte die Unvernunft oder vielmehr die Sehnsucht! Und als zu oberst die Tannenzweige lagen, da hab' ich noch in der Nacht all Eure Bilder damit geschmückt, kleine Wachsstockenden dazwischen gesetzt und in Gedanken mit Euch eine wunderschöne Feier gehalten!

Der gute Herr Bauer hatte sogar Christrosen mit eingepackt; wie mich das rührte! Und Du, mein Urselchen! Was soll ich nur sagen zu Deiner Bescherung? Die ist einfach großartig! Wollt Ihr mich denn völlig erdrücken, mich Arme, die nicht weiß, wie sie das jemals vergelten soll? Der schöne Spitzenkragen! Weißt du noch, wie Du damals bei der Decke sagtest: ›Ich verstehe diese Arbeit nicht.‹ – Nun hast Du mich bereits übertroffen! Und das herrliche Beethoven-Buch! Die kleinen süßen Arbeiten von Elfchen und den lustigen Vagabunden! Küsse die Kinder in meinem Namen tausendmal dafür.

Was aber soll ich sagen, daß auch Dein Bruder Axel an mich gedacht hat? Der geschnitzte Kasten ist ja wundervoll! Gib mir nur seine genaue Adresse; denn hierfür muß ich mich doch direkt bedanken, das kann ich nicht mit einer Bestellung durch Dich abmachen. In diesen Kasten werd' ich all meine Heiligtümer legen, und wenn wir uns einmal wiedersehen, werd' ich sagen – ja, ich weiß doch noch nicht, was ich sagen werde.

Nun muß ich Dir von den Festtagen weiter erzählen. Nach der langen schönen Christnacht schlief ich tüchtig aus, fuhr Mittags wieder nach der Kurfürstenstraße, wo es ein sehr feines Diner gab, und ging nachher mit meinen Lieben zum Abendgottesdienst. Nach dem Tee musizierten wir, und es war für mich eine Wonne, zu sehen, wie Fräulein Elsner teilnahm an meinen Studien, wie sie mich in allem verstand, als ich ihr mal gründlich mein Herz ausschüttete. Dann spielte sie auch wie in früherer Zeit, und obgleich ich nun inzwischen so manche Künstler gehört habe, bleibe ich dabei: Fräulein Elsner spielt wunderschön, und sie wäre eine große Künstlerin geworden, wenn jemand für sie getan hätte, was jetzt für mich geschieht!

Also, Ursel, welch eine Verantwortung hast Du auf meine Schultern gelegt, oder vielmehr in meine Hände!

Die Gräfinnen waren auch sehr erbaut von Fräulein Elsner und haben viel und eingehend mit ihr gesprochen, und das Resultat ist, daß ich wirklich wieder an Leontinens Stunden einigen Anteil nehmen soll! Es wird sich wohl machen lassen; die Gelegenheit ist doch zu günstig. Besonders in Geschichte und Literatur wünsche ich mir leidenschaftlich Fortbildung; Fräulein Elsner sagte selbst sehr betrübt, daß sie und ich ja leider zu früh auseinandergekommen wären. Und ich will Dir sagen, Ursel: Klavierspiel, Notenlesen und geschickte Finger tun's nicht allein, wenn man eine Künstlerin werden will. Ich habe einmal von einer Pianistin sagen hören: ›Sie ist eine Seiltänzerin auf ihrem Instrument, aber ein vernünftiges Wort kann man nicht mit ihr sprechen.‹ Und von einem Sänger: ›Er hat einen wunderbaren Tenor, aber er ist dumm!‹ Beides hat mich sehr erschreckt, und ich habe seitdem noch viel mehr das Bestreben, zu lernen und mich zu bilden, wo ich kann.

Früher, weißt Du, da arbeitete ich um das bißchen Geld, damit ich die ersten Stunden nehmen konnte; jetzt, wo das viele Geld immer für mich bereit liegt, muß ich mit allen Kräften arbeiten, daß ich dieser Schenkung mich auch würdig mache. Dazu helfe mir Gott!

Deine Franzi


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