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28. Kapitel.
Komteßchen Leontine

Als der Unterricht am Konservatorium für die Osterzeit geschlossen war, eilte Franzi am ersten freien Tage nach der Kurfürstenstraße, um ihrer Freundin Leontine von allen Erlebnissen der letzten Zeit zu erzählen. Nach Wendenburg hatte sie natürlich ausführliche Berichte gesandt, sowohl an ihre Mutter wie an die liebe Ursula, bei denen sie für alles das feinste und herzlichste Verständnis voraussetzen durfte; aber ihr lebhafter Sinn, ihre Neigung, sich mitzuteilen, trieb sie auch in besonderen Zeiten zu der Kindheitsgespielin, obwohl sie sich da auf manche Enttäuschung gefaßt machen mußte.

Leontine v. Wehrburg konnte es nie begreifen, daß man ein Studium mit allem, was dazu gehörte, anders auffassen konnte, als eine lästige Quälerei. Und gar diese Leidenschaft für die Musik bei ihrer Franzi begriff sie durchaus nicht. Als diese im Februar die unfreiwilligen Ferien hatte, ihres angegriffenen Halses wegen, war sie von Leontine nur darum beneidet worden und hatte es ihr durchaus nicht klar machen können, wie sehr sie unter jedem Stillstand in ihrem Studiengang litt.

»Stillstand ist Rückschritt,« hatte sie gesagt; aber Leontine hatte nur lachend versichert, ihr käme es gar nicht drauf an, mal »zurückzuschreiten«. Die Tanten hielten jedoch unerbittlich auf den regelmäßigen Fortgang ihrer Stunden, »und krank bin ich ja leider nie!« hatte Leontine seufzend hinzugefügt. Da war aber Franzi sehr böse geworden, hatte sie an die Kinderzeit erinnert, wo Tini ein zartes kränkliches Geschöpf gewesen war, und sie ermahnt, doch dankbar zu sein, daß sie so viel kräftiger und frischer, ordentlich vollwangig und hübsch geworden wäre.

Dazu hatte dann Leontine gelacht und war ein wenig besänftigt worden, denn es war ihr heimlicher Kummer, daß sie sich so häßlich fand. Sie hätte ihrer schönen Franzi gleichen mögen; die große Nase und das mattblonde Haar, das ihr Spiegelbild aufwies, gefielen ihr niemals, besonders zu der Zeit, als sie obendrein noch blaß und mager war. Darum hatte sie sich besänftigt, als Franzi sie »verschönert« fand; daß aber der Grund davon, ihre bessere Gesundheit, sie zu größerem Fleiß anfeuern sollte, das sah sie doch nicht ein.

»Ich werde niemals eine Gelehrte,« behauptete sie, »und das ist ja wohl auch nicht nötig für eine Gräfin Wehrburg!«

Hierzu hatte Franzi geseufzt, aber nichts gesagt. Diese Überhebung der kleinen Freundin schmerzte sie immer und doch fühlte sie sich nicht berufen, gerade darüber etwas zu sagen, weil ihr gegenüber nie ein Standesunterschied betont wurde und auch die Tanten, die Gräfinnen Steineck, sie mit immer gleicher Güte und wirklicher Teilnahme behandelten.

Als Franzi heute in der Kurfürstenstraße ankam, machte der kleine Diener Peter beim Türöffnen ein sehr vielsagendes, fast geheimnisvolles Gesicht, daß Franzi unwillkürlich munter fragte: »Nun, Peter, was ist denn los; Sie haben ja eine riesig wichtige Amtsmiene?«

»Ach, gnä' Fräulein, es ist so gut, daß Sie kommen. Unser Komteßchen ist gar nicht ordentlich – und Besuch haben wir auch –«

»Wie – ist Komteßchen krank?« unterbrach Franzi erschrocken.

»Nun – krank nicht gerade, aber unglücklich,« sagte Peter mit Nachdruck. »Komteßchen weinen immerzu –«

Aber da flog eine Tür auf und Leontines Stimme rief heftig: »Was unterstehen Sie sich, Peter? Sie haben zu melden und weiter nichts!« Damit zog sie Franzi an der Hand ins Zimmer, immer fortscheltend: »Und du stehst auch da und läßt dir von dem dummen Burschen was vorschwatzen, statt –«

»Aber Tini, sei doch nicht so heftig! Komm, laß dich anschauen; du hast ja rote Augen!«

»Ach, ich weine auch immerfort!«

»Na, da hat Peter doch recht!«

Diesmal achtete die kleine Gräfin nicht mehr auf die Erwähnung des Dieners, den sie immer mit ihrem Zorn beehrte, sondern fiel ihrer Freundin um den Hals.

»Dieser schreckliche Graf, den ich Onkel nennen soll! Dieser – dieser – der uns von Wehrburg verjagt hat – der in unserem Schloß wohnt – dem alles, alles gehört! Und mir nichts!«

Alles dies wurde schluchzend hervorgestoßen und Franzi konnte kaum zu einer Unterbrechung gelangen. Sie hielt die Aufgeregte nur fest im Arm, streichelte ihr Haar und bat leise: »Scht, scht, Tini, still doch!«

Aber Tini war nicht still, sie sprudelte und schluchzte in einem fort, und endlich begriff die Freundin: der gegenwärtige Besitzer von Wehrburg, der neue Majoratsherr, war nach Berlin gekommen, hatte die Cousinen, die Gräfinnen Steineck, aufgesucht und sich, wie es schien, auch eingehend und teilnahmvoll um die Tochter seines Vetters, dessen glücklicher Erbe er ja geworden, bekümmert. Das aber hatte das unverständige Kind nicht erfreut, sondern geradezu aufgebracht.

»Ich begreife dich nicht,« rief Franzi, als sie endlich zu Wort kam. »Du müßtest dich doch freuen, einmal ausführlich von der lieben alten Heimat zu hören!«

»Es ist meine Heimat nicht mehr! Ich bin daraus vertrieben worden!«

»Leontine, wie ungerecht! Du tust gerade, als wäre dieser Graf ein Räuber –«

»Ist er denn etwas anderes?«

»Während du doch weißt, daß alles in der Welt nach festen Gesetzen hergeht,« fuhr Franzi ernst fort.

»Aber diese Gesetze sind manchmal schrecklich,« rief Leontine wieder ungestüm. »Wenn ich nicht unglücklicherweise ein Mädchen wäre, sondern meines Vaters Sohn, dann säße ich noch heute auf Wehrburg, statt in diesem öden Berlin. Und du mit mir! Nie, nie hätte ich dich fortgelassen – nie hättest du Geld verdienen brauchen, nie wärst du Sängerin geworden –«

»Das wäre aber schade, Tini!«

»Nie hättest du diese Ursula gefunden, die dich mir wegnimmt. Ach, warum bin ich ein Mädchen und nicht Majoratsherr von Wehrburg!«

Franzi sah bekümmert auf die Erregte und sagte dann ernsthaft: »Es wird deinem Vater gewiß auch ein betrübender Gedanke gewesen sein, dir die geliebte Heimat nicht erhalten zu können. Darum hat er doch gewiß in anderer Weise gut für dich gesorgt.«

Da fuhr Leontine wieder auf: »Das ist es eben! Dieser schreckliche Graf behauptet, für mich sei gar nicht gut gesorgt worden. Es klingt, als wollte er meinen Vater anklagen! Aber das soll er nur noch einmal wagen, dann zeig' ich ihm, wer ich bin!«

Sie ballte die Hand und sah so zornig aus, daß Franzi lächeln mußte.

»Liebes Herz,« sagte sie sanft, »ich glaube, du hast das alles nicht richtig verstanden.«

Leontine wurde plötzlich etwas kleinlaut und meinte: »Das kann auch sein; aber – wenn sie immerfort von Zinsen und Dividende und Kapital und Amortisieren reden, wenn der Graf von ›Industrie auf den Gütern‹ redet und von ›landwirtschaftlichen Genossenschaften‹ – wer kann das verstehen? Ich nicht!« beharrte sie trotzig. »Ich habe das früher nie gehört; mein Vater sprach von Jagd und Pferden, höchstens mal von Kornpreisen, obgleich er auch immer seufzte, wenn der alte Inspektor mit saurer Miene ankam. ›Na, Dorn,‹ fragte er dann, ›hat der Weizen nicht ordentlich gelohnt?‹ – Ja, wie ich sage, von so was sprach er wohl manchmal seufzend, aber sonst immer lieber von was anderem! Auch von dem, was in der Zeitung stand, was in den fremden Ländern vorging und in den großen Städten, und an den Fürstenhöfen – oh, mein Papa war sehr klug; aber von so greulichen Dingen, wie dieser Graf Otto, sprach er nie! Und ich weiß auch gar nicht, ob ich das vornehm finden kann!«

Da war es wieder! Franzi seufzte.

Aber Leontine fuhr unbeirrt fort: »Und weißt du, was das schlimmste ist, was ich ihm gar nicht verzeihen kann? Denk dir, er hat den Tanten vorgeredet, ob sie mich nicht das Seminar besuchen und zum Examen vorbereiten lassen wollten; es könnte doch nötig sein, daß ich einmal selbst für meinen Unterhalt zu sorgen hätte! Denke dir, ich Gouvernante! Gräfin Leontine Wehrburg!«

Diesen Gedanken fand auch Franzi ziemlich ungeheuerlich, aber nicht darum, weil ihre Freundin eine Gräfin war, sondern weil sie gerade jetzt wieder sah, wie unfertig die doch kaum um ein Jahr jüngere Leontine noch immer war, wie unreif in ihrem Denken und ihren Vorstellungen, wie unbeherrscht in ihrem äußeren Wesen! Ach nein, darüber konnte wohl noch manches Jahr vergehen, da mußten vielleicht noch weit schwerere Schickungen und tiefgreifende Einflüsse in das Leben des jungen Mädchens kommen, bis dieses im stande sein würde, Kindern zum Vorbild zu dienen!

Leontine verstand Franzis Schweigen, aber auf ihre eigene Weise.

»Nicht wahr, du findest doch auch das Ansinnen des Grafen unerhört?« fragte Leontine.

Franzi wurde einer Antwort überhoben, denn Peter meldete respektvoll: »Der Herr Graf sind wieder da und die jungen Damen werden gebeten, in zehn Minuten zum Tee zu kommen.«

»Es ist gut,« sagte Leontine kurz; doch als der Diener gegangen war, brach sie wieder los: »Da haben wir's! Nun kommt er noch einmal, und die Geschichte geht von vorn an! Nun kannst du es miterleben und mir nachher sagen, ob du ihn nicht auch greulich findest, diesen – diesen –«

Sie suchte nach einem Ausdruck, der ihr bezeichnend genug schien, aber Franzi faßte sie ohne weiteres beim Kopf und sagte: »Erst wollen wir dich ein wenig frisieren, das scheint mir nötiger! Was für ein kleiner Pudelkopf bist du doch gleich, wenn du dich so aufregst! Bei jedem einzelnen Wort steigt dir ja wohl ein Härchen zu Berge? Und diese Schleife – halt doch – alles sitzt schief und locker!«

Leontine lachte, hielt still und ließ sich von Franzi bedienen. Das liebte sie, und Franzi wußte es. Dann wurde das quecksilberne Persönchen ruhig, und in leidlicher Haltung betrat sie einige Augenblicke später mit ihrer Freundin den Salon.

Dort erhob sich hinter dem Teetisch der Tanten ein sehr großer stattlicher Herr mit graublondem Bart und scharfgeschnittenen Gesichtszügen. »Die große Nase hat er auch, aber sonst erinnert er gar nicht an unseren lieben verstorbenen Grafen,« dachte Franzi blitzgeschwind, während sie sich anmutig verbeugte. Der Graf musterte bei der Vorstellung das fremde junge Mädchen mit raschen, scharfen Blicken, wandte sich im Gespräch aber vorläufig nur an Leontine.

»Ich hoffe, du hast dich besonnen, Leonie, und entschließt dich heute, mich Onkel zu nennen,« begann er in einem Ton, der scherzhaft klingen sollte, aber doch etwas Strenges hatte.

Leontine aber spielte noch weiter den Trotzkopf und antwortete kurz: »Ich heiße gar nicht Leonie!«

»Nicht? Gibt's hier bei euch gar keine Abkürzungen? Nun denn – Le–on–ti–ne, ich hoffe, du machst deinem Onkel Otto das Vergnügen, ihn ins Theater zu begleiten – mit deiner Freundin,« fügte er mit einer leichten, höflichen Wendung gegen Franzi hinzu.

»Ich bedaure sehr, aber wir danken,« entfuhr es Leontine kurz und keck.

»Leontine!« rief Gräfin Diana entrüstet. »Antwortet man so auf ein überaus freundliches Anerbieten?«

»Und gleich im Namen der Freundin mit!« bemerkte der Graf halb spottend, halb belustigt. »Das ist immer etwas voreilig, Le–on–ti–ne; denn du kannst nicht wissen! – Oder wie ist es, mein Fräulein, würden Sie mir auch ohne weiteres einen Korb geben?«

Franzi, in ihrem Schreck über Leontinens Benehmen, entgegnete lebhaft: »Herr Graf sind sehr gütig! Tini hat sich übereilt und meint es sicherlich nicht so –«

»Doch!« warf Leontine ein, Franzi aber nahm einfach ihre Hand mit sanftem Druck und fuhr fort: »Ich weiß, daß Tini sich schon lange einen Theaterbesuch wünscht, seit ich ihr neulich von Lohengrin erzählte, und sie wird Ihnen sehr dankbar sein, wenn wir zusammen das Vergnügen haben dürfen.«

»Nein,« rief Tini trotz aller Warnungen, »ich mag kein Almosen! Wenn ich immer hören muß, daß ich arm bin, daß mein lieber Vater nicht gut für mich gesorgt hat, daß ich lernen soll, mein Brot verdienen – als Gouvernante – als Kammerjungfer vielleicht – dann will ich auch nicht ins Theater gehen, nicht mitgenommen werden von solchen, die es besser haben, die – mein – Wehrburg haben!«

Nach dieser, in haltloser Erregung hervorgesprudelten Rede stürzte Tini aus dem Zimmer, Franzi voll Schrecken hinterdrein.

Die Zurückbleibenden sahen einander bestürzt an. Gräfin Ludowika rang still die Hände und bekam feuchte Augen, Gräfin Diana sagte mit hochrotem Gesicht: »Ich fürchte, Vetter Otto, du beurteilst unser Erziehungstalent recht ungünstig. Diese Leontine macht uns heute ja geradezu Schande!«

»Und doch ist sie nicht immer so,« fiel Gräfin Ludowika sanft ein. »Ihr Herz ist gut, sie hat nur ein unbegreiflich rasches Temperament!«

»Ist sie etwa beschränkt?« sagte der Graf betroffen. »Es ist doch sonst kaum möglich, daß ein siebzehnjähriges Mädchen solche Vorurteile hegt. Sie tut ja, als hätte ich sie um ihr gutes Recht gebracht!«

»Beschränkt,« wiederholte Gräfin Diana, »ist wohl nicht das Richtige, obgleich ihr das Lernen in manchen Unterrichtsfächern Schwierigkeiten macht. Es ist übrigens etwas besser geworden, seit Franzi Trautmann einige Stunden mit ihr teilt.«

»So, die habt ihr dazu herangezogen? Das ist recht! Die scheint ein angenehmes, freundliches Mädchen zu sein.«

»Sie ist außerordentlich!« sagte Gräfin Ludowika mit Begeisterung, und auch Gräfin Diana pflichtete bei: »In der Tat, ein ungewöhnlich begabtes Mädchen, das es wohl verdient, daß ihre Fürstin ihr Schicksal in die Hand nahm.«

Der Graf horchte auf und ließ sich in Kürze den Lebensgang der kleinen Wehrburger Gärtnerstochter erzählen. Er hatte wohl kaum wieder an sie gedacht, nachdem damals bei seinem Einzug in Wehrburg die Anerbietungen, die er der Familie Trautmann machte, abgelehnt worden waren, was er ärgerlich für ein »Hochhinauswollen dieser Leute« gehalten hatte.

Heute ließ er sich nun mit Interesse von Franzi erzählen, und wenn er auch im Grunde der Überzeugung blieb, daß er in seiner Lage damals nicht anders handeln konnte, so empfand er doch eine wohlwollende Teilnahme für das junge Mädchen, das jetzt wieder den Salon betrat, jedoch ohne die kleine Komtesse und selbst in deutlich sichtbarer Erregung.

»Ich bitte noch einmal für Tini um Verzeihung,« sagte sie mit ihrer warmen Stimme. »Sie ist so unglücklich, daß ich Mühe genug hatte, sie zu beruhigen. Jetzt macht sie sich nur ein wenig zurecht; dann kommt sie, wenn gnädige Gräfin erlauben, und dankt auch dem Herrn Onkel für seine freundliche Absicht.«

Ludowika wollte aufstehen und der Nichte zu Hilfe eilen, doch Diana hielt sie zurück. »Wir dürfen es ihr nicht zu leicht machen, liebe Schwester,« sagte sie streng. »Laß das Kind nur von selbst kommen!«

Der Graf wandte sich indessen an Franzi. »Ich darf also noch auf zwei liebe junge Gäste für den Abend hoffen? Ihnen muß doch die Oper besonderen Genuß bereiten, da Sie sich im Gesang ausbilden, wie ich höre.«

»Außerordentlichen Genuß!« bekannte Franzi lebhaft.

»Sie waren neulich im ›Lohengrin‹?«

»Ja, durch die Güte meiner Gesangslehrerin, die mich mitnahm.«

»Ah,« sagte der Graf lächelnd, »und Sie waren nicht so hochmütig wie meine Nichte, die nichts annehmen will? Sie scheuen sich nicht, jemand zu danken, der Ihnen Freundliches erweisen will?«

Franzi errötete unter seinem forschenden Blick, dann sagte sie mit ernster Offenheit: »Ich darf nicht, Herr Graf! Ich bin auf Güte und Hilfe angewiesen, wenn ich in die Laufbahn hineinkommen will, die ich mir ersehnt habe und in der ich vielleicht etwas leisten kann. Allein kann ich's nicht. Das alte Sprichwort: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!‹ hat meine Mutter uns immer so gedeutet: ›Wenn du alle deine Kräfte einsetzest, so darfst du die Hilfe von Menschen in Fällen, wo dein Können nicht mehr reicht, annehmen ohne falsche Empfindsamkeit, ohne Demütigung, denn der Himmel hat vielerlei Wege, zu geben und zu helfen!‹«

»Bravo!« sagte der Graf. »Alle Achtung vor Ihrer Mutter! Und Ihnen alles Gute, liebes Kind! Von Herzen wünsche ich das.«

Er reichte Franzi die Hand, und diese fühlte sich nachträglich beinahe eingeschüchtert. Hatte sie nicht eben zu viel gesprochen? Hatte sie hier Meinungen und Ansichten auskramen dürfen? Ach, sie war wohl erregt durch die vorhergegangene Szene mit Leontine, durch die Erinnerung an Wehrburg und schließlich war sie wohl auch ein klein wenig empfindlich geworden bei der scherzhaften Frage des Grafen. Er hatte da einen Punkt berührt, der trotz ihrer eben geäußerten Worte sie doch mitunter schmerzte.

Daß sie so viel annehmen mußte!

Es lag in ihrer frischen kräftigen Natur ein solcher Trieb zur Selbstbetätigung, daß sie früher in ihren Vorstellungen vom Leben immer bei sich gedacht hatte: »Ich könnte Bäume ausreißen! Ich möchte tausend Arme zu rühren haben, und mein Tag sollte vierundzwanzig Stunden zählen, ohne die Nacht, in der man nichts tun kann. Ich möchte aus eigener Kraft recht viel, viel erreichen!«

Jetzt kannte sie schon viel mehr vom Leben, von seinen Schwierigkeiten und Gefahren; jetzt hatte sie's schon an sich selbst erfahren, daß aller gute Wille, alles heiße Streben nicht immer ausreicht, daß wir uns helfen lassen müssen.

Aber dennoch! So oft hören zu müssen: »Ja, Sie, Fräulein Trautmann, Sie können wohl lachen! Eine Fürstin zur Schutzpatronin zu haben!« Oder: »Sie haben schon wieder ein Billett von Frau Gerstenberg? Beneidenswerte!«

Oder: »Sie sind schon wieder eingeladen bei den Gräfinnen Steineck – ja, sind Sie denn aller Welt Schützling?«

Ja, solche Reden konnten Franzi zuweilen peinigen, und doch – der Gedanke an eine kindische Auflehnung, wie die kleine Gräfin eben gezeigt hatte, wäre ihr nie gekommen.

»Sie sind so still geworden,« sagte Gräfin Ludowika freundlich in ihre nachdenkliche Stimmung hinein, und der Graf meinte, nach der Uhr sehend: »Wenn Leontine nicht bald kommt, wird es zu spät fürs Theater.«

»Sie traut sich gewiß nicht herein,« meinte Gräfin Ludowika bekümmert; aber da gerade ging die Tür auf, und anfangs zögernd, dann mit festem Schritt kam Leontine heran, küßte zuerst ihrer Tante Diana die Hand mit einem leisen: »Verzeih!« und wandte sich hierauf an den Grafen: »Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich habe Wehrburg so lieb gehabt und habe – oft solch Heimweh danach, – daß ich nicht wußte – was ich tat, als ich so unhöf– – so ungezogen gegen Sie war!«

Es kam stockend und unter heißem Erröten heraus, aber Franzis frohes Zunicken machte ihr Mut, die schwere Abbitte zu vollenden. Und sie hatte sich nicht umsonst bezwungen. Der Graf legte einen Arm um ihre Schultern und sagte weicher, als man ihm bis dahin hätte zutrauen können: »Um deiner Heimatliebe willen sei dir alles verziehen, mein Kind. Ich hoffe, du gewinnst noch so viel Zutrauen zu mir, daß du nicht nur heute abend, sondern auch einmal auf länger mein Gast sein magst. Davon sprechen wir ein andermal! Jetzt macht euch fertig – sieh, wie deine liebe Freundin sich schon freut! – und kommt in den ›Freischütz‹!«

Gräfin Diana wollte protestieren, daß Leontine für ihre Ungezogenheit nicht nur Verzeihung, sondern auch schließlich noch ein Vergnügen haben sollte; aber der Graf bat: »Liebe Cousine, heute lassen wir Gnade vor Recht gehen! Um meinetwillen!«

Leontine sah noch nicht gerade freudig aus, aber sie hatte kein Widerwort mehr, und als Tante Ludowika eifrig meinte: »Aber Kinder, da müßt ihr noch etwas mehr essen vor dem Theater, es wird ja spät!«, da gehorchte sie auch ohne weiteres und nahm von allem, was die sorgsame Tante ihr anbot. Dann wurden die jungen Mädchen in Mäntel und Schale gehüllt, Peter mußte eine Droschke herbeiholen, und dann ging's im Saus durch die hellen belebten Straßen bis zum Opernhause.

Während hier der Onkel den Kutscher ablohnte und die jungen Mädchen einen Augenblick wartend in dem andrängenden Menschenstrom standen, sagte Leontine plötzlich mit großen Augen: »Ich weiß nicht, ich fühle mich so benommen, Franzi; ich kann dies alles gar nicht verstehen! Gestern denk' ich: Du bist ganz arm, du mußt dir dein Brot verdienen, und wenn du kein Examen machen kannst – wozu du wahrscheinlich zu dumm bist – dann mußt du Kammerjungfer werden oder so was – und nun auf einmal fahr' ich wie in einer Märchenkutsche durch Berlin und hier in diese feenhafte Welt hinein – –«

»Denke, es wär' ein schöner Traum,« sagte Franzi, glücklich darüber, daß Tini wieder auftaute, und da reichte auch schon der Graf ihnen beiden den Arm und führte sie mit einem fröhlichen »Kommt, Kinder!« in das Opernhaus hinein.

Es wurde nun ein wahrhaft herrlicher Abend! Franzi, welche die wunderschöne Freischützmusik ja längst kannte, genoß jede einzelne Szene, jede Arie, jeden Chor mit dem besonderen Entzücken, welches das Verständnis gibt. Ihr kamen diese Gestalten, obwohl sie sie zum ersten Male auf der Bühne sah, alle wie längst vertraut vor; sie nahm der Agathe fast die Worte von den Lippen und mußte sich hüten, nicht hörbar mitzusummen!

Leontine aber genoß völlig naiv. Sie behauptete ja immer, durchaus unmusikalisch zu sein, bettelte so lange, bis man ihr die Klavierstunden erließ, aber diese Melodienfülle umschmeichelte sie doch auch. Und diese Gestalten, diese reizenden Bühnenbilder, das war wirklich zum Lachen und Weinen! Das war ja der Wehrburger Wald – sie glaubte ihn rauschen zu hören und seine Wipfel im Mondlicht flimmern zu sehen!

In der ersten Pause war Leontine am lebhaftesten von den dreien, und sie war so allerliebst in ihrer Freude und Bewunderung, daß der Graf dachte: »Nein, beschränkt ist sie nicht! Aber Ludowika hat recht mit dem ›raschen Temperament‹. Sie hat sehr viel Temperament, und das muß gebändigt und in rechte Bahnen gelenkt werden.«

So beschäftigte er sich weniger mit der ihm seit seiner Jugend bekannten und vertrauten Weberschen Oper, als mit Betrachtungen über seine beiden jungen Gäste und mit freundlichen Plänen für sie.

Am nächsten Tage erhielt Franzi einen Brief mit der Stadtpost, der einem einzigen Jubelschrei glich. Leontine schrieb:

»Franzi, wir fahren nach Wehrburg, Du und ich! Onkel Otto nimmt uns mit – morgen schon! Du mußt sofort Deinen Koffer packen und morgen um zehn Uhr am Stettiner Bahnhof sein. Ist es nicht himmlisch? Ich bin beinahe schon aus der Haut gefahren vor Entzücken, habe die Tanten halbtot gedrückt und sogar Onkel Otto, der gestern noch mein Feind war, einen Kuß gegeben! Nun alles weitere mündlich; ich habe gar keine Zeit, noch so viel zu tun! Der dumme Peter wird den ganzen Tag hin und her gehetzt, daß er noch rötere Ohren hat als sonst! Mach' Du nur auch, daß Du fertig wirst, und sei zur rechten Zeit an der Bahn. Es umarmt Dich

Deine glückliche Tini.«

Auch Franzi schwindelte es bei dem stürmischen Ton dieser Benachrichtigung und vor der Aussicht, die sich ihr eröffnete. Nach Wehrburg kommen! Die Heimat wiedersehen, worauf sie nie gehofft hatte! Welch ein Glück, daß gerade Ferien waren, daß der Graf nicht zu einer anderen Zeit gekommen war, wo sie einer so verlockenden Einladung doch nicht hätte folgen dürfen. Jetzt durfte sie, dem Himmel sei Dank!

Während sie noch einmal den Brief überlas, dachte sie vergnügt: »Wieder ganz Leontine! In ihrer Liebe und Freude wieder völlig gebieterisch. Keine einzige Frage an die Freundin: ›Kommst du, willst du mitkommen? Magst du die Einladung des Grafen annehmen?‹ Einfach: ›Du mußt.‹«

Ja, sie lächelte über Leontinens Ungestüm, aber sie seufzte auch leise über diesen immer wieder hervortretenden herrischen Zug. Wenn sie dagegen an ihre sanfte Ursel dachte! Wie ging ihr das Herz auf! Aber sie hatte auch Tini lieb, gewiß; es war dankbare Anhänglichkeit und unauslöschliche Erinnerung an die Kindheit, was sie mit dieser verknüpfte, daneben eine Art von sorgender Liebe, fast ein gewisses mütterliches Gefühl mit der Verwaisten.

Mit solchen Gedanken und Empfindungen beschäftigt, packte Franzi ihre Sachen zusammen, von allen in der Pension Zurückbleibenden beneidet um diesen Ferienaufenthalt, diese Erfrischung nach dem so anstrengenden Winter für alle in Berlin ihrer Arbeit Lebenden.

Ostern fiel spät in diesem Jahr, man konnte schon auf ein paar Frühlingstage rechnen. Zwar fiel ein leiser Regen, als sie am nächsten Morgen auf dem Stettiner Bahnhof anlangte, aber das war ein warmes Rieseln, bei dem Franzi nur dachte: »Der klopft an die Knospen, danach wird's schöner!«

Leontine und ihr Onkel waren schon da, Franzis Fahrkarte war auch bereits gelöst und die Besorgung ihrer Sachen wurde ihr freundlich abgenommen.

Sie wußte kaum, wie sie ihren Dank für alles ausdrücken sollte, aber der Graf fiel ihr gleich in die vor Bewegung stockende Rede und sagte liebenswürdig: »Es ging gar nicht ohne Sie, Fräulein Trautmann; die widerspenstige Leontine wäre nicht allein mit mir gefahren! Sie brauchen aber deshalb nicht so erschrocken auszusehen, als wäre dies der einzige Grund meiner Einladung. Nein, ich glaube, Sie sehnen sich ebensosehr nach einem Wiedersehen mit der alten Heimat, wenn Sie auch nicht mit Händen und Füßen um sich schlagen, wie meine Nichte.«

Franzi sah ihn dankbar an, freute sich aber doch, daß Leontine, die zum letzten Male an Peter, der ihr Handgepäck trug, herumkommandierte, diese letzte Bemerkung nicht gehört hatte; ihre gute Laune hätte darunter leiden können.

Von quecksilberiger Lebhaftigkeit blieb sie fast während der ganzen Eisenbahnfahrt; aber als sie die Station vor Wehrburg erreicht hatten, der Wagen und die altbekannte Livree des Kutschers auftauchten, da verstummte sie. Wie im Traum stieg sie aus und faßte still Franzis Hand.

Auch diese schaute sich schweigend mit glänzenden Augen um, als die Gegend mit jedem Augenblick bekannter und heimischer wurde, und beide waren froh, daß der Onkel mit dem Kutscher allerlei wirtschaftliche Fragen erörterte und sich nicht um die Mädchen kümmerte.

Es war nicht mehr der alte Jobst, der sie früher so manches Mal gefahren hatte, es war nur noch ein ebensolcher Rock, der da vorn auf dem Kutschersitz thronte. Und ebenso war es, je näher sie Schloß Wehrburg kamen, scheinbar die alte Heimat noch und – war es doch nicht mehr! Wo mochte die Veränderung liegen?


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