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25. Kapitel.
Die Schwestern

An einem schönen Frühlingstage ging auf dem Bahnsteig zu Wendenburg ein junges Mädchen auf und nieder, eifrig nach dem erwarteten Schnellzug ausspähend. Sie war groß und schlank gewachsen, trug sich leicht und gerade, wenn auch bescheiden, in ihrem feinen blaugrauen Frühlingskleide. Ein blauer Hut saß auf den schwarzen glänzenden Zöpfen, die um den Kopf gelegt waren, und beschattete ein zartgefärbtes, nicht mehr mageres Gesicht, in dem die Augen das Schönste waren, dunkle sanfte Sterne, in denen aber heute eine gewisse Erregung zu lesen war, die sich zugleich mit der Wangenfarbe noch erhöhte, als jetzt der Pfiff der Lokomotive ertönte. Aus einem geöffneten Fenster des einfahrenden Zuges grüßte eine schöne blonde Erscheinung, und gleich darauf eilten Ingeborg und Ursula Dahland aufeinander zu.

»Ursel, bist du's denn wirklich? Täusche ich mich nicht?« rief die Ankommende in unverhohlenem Staunen und umfaßte die junge Schwester, die sie jetzt an schlanker Höhe erreicht hatte.

»Ja, Inge, ich bin's, und du mußt mit mir zum Empfang vorlieb nehmen. Die Eltern –«

»Sind doch nicht krank?«

»Nein, Papa hat nur eine sehr ausgedehnte Sitzung heute –«

»Ach, das kennt man ja noch!«

»Mama war allerdings erkältet und ließ sich bewegen, zu Hause zu bleiben. Aber alle schicken dir tausend Grüße entgegen und freuen sich unbeschreiblich auf deine Rückkehr!«

»Wirklich? Wie hübsch du das sagst! Überhaupt –« Inge brach ab, da der Kofferträger herantrat und ihren Gepäckschein verlangte.

»Ich habe schon eine Droschke,« sagte Ursula, »der Träger weiß Bescheid. So komm nur, Inge. Welch schöner Reisetag! Aber dir ist gewiß der Abschied von Schweden schwer geworden?«

Inge drückte nur still ihren Arm, und dann stiegen sie ein. Hatten die Schwestern die Rollen getauscht? Die schüchterne, vor kurzem noch für unpraktisch und unbrauchbar geltende Ursula war heute um alles besorgt. Sie brachte das Handgepäck unter, zahlte den Kofferträger und gab dem Kutscher die Weisung, während die ältere Schwester still zurückgelehnt saß und träumerisch das Bild der Heimat in sich aufnahm.

Sie sprachen nicht viel während der kurzen Fahrt; aber als das Haus am Fürstenplatz in Sicht kam, richtete sich Inge auf und grüßte froh zu den Fenstern empor, hinter denen Mamas liebes Gesicht erschien. Zugleich eilte Papa, der eben nach Hause gekommen war, an den Wagen, hob mit stolzer Freude seine Älteste heraus und führte sie am Arm ins Haus, wo alsbald die Kleinen sich auf sie stürzten und sie vor allem auf den Blumenschmuck aufmerksam machten, den sie mit Ursels Hilfe um die Wohnstubentür gewunden hatten.

Froh bewegte Stunden folgten nun, in denen die verschiedensten Töne angeschlagen wurden, aber darin waren alle sich bald im stillen einig: Inge war von ihrer Nordlandsfahrt verändert zurückgekommen.

Man hatte gedacht, daß sie hauptsächlich das Wort führen und von ihren Erlebnissen berichten würde; statt dessen fragte sie viel mehr nach dem Ergehen in der Heimat, nach dem fernen Axel, ja nach Ursels Freundin. Sie hätschelte die Kleinen mit großer Zärtlichkeit und schmiegte sich gelegentlich still an Mama.

Alle empfanden eine gewisse Spannung bei diesem veränderten Wesen, das gewiß nicht zum Nachteil war, aber doch an der sonst so strahlenden, siegesgewissen Inge fremd berührte. Ursula besonders wußte gar nicht, was sie denken sollte, und sie wurde recht verlegen, als Inge mit eigentümlich sanftem Ton fragte: »Bin ich denn auch nicht überflüssig geworden, da ihr inzwischen eine zweite gute Haustochter bekommen habt?«

Und sie nahm Ursel beiseite und meinte: »Ich muß dich immer wieder ansehen, was aus dir geworden ist, du schlankes Jungfräulein! Wo ist der scheue Backfisch hin? Wie kann man sich in einem halben Jahr so verändern?«

»O, Inge,« sagte Ursel errötend, »du hast dich auch verändert.«

»Wirklich? Wieso?«

»Du bist noch schöner geworden.«

»Ach geh, willst du's auch so machen, wie alle Leute? Bin ich nicht schon eitel genug?«

Das klang förmlich bitter; solche Äußerungen hatte man nie von Inge gehört, und Ursel schwieg verschüchtert. Aber lange hielt das nicht an; sie hatte ja doch zum Empfang der Schwester so manches vorbereitet, was sie zeigen und erklären mußte, und sie war von so lieblichem Eifer dabei, daß Inge ihr gerührt zusah.

Da war eine neue Tischdecke in Inges Zimmer, von Ursula gestickt, ein hübsch gebrannter Kasten für Karten und Bilder mit der Aufschrift »Erinnerungen an Schweden«, und am Fenster standen wohlgepflegte Blumen, darunter eine über und über mit Knospen bedeckte Myrte.

Aber von letzterer, die Ursels größter Stolz schien, wandte sich Inge schweigend ab, um gleich darauf lebhafter und beredter zu werden als zuvor.

In den nächsten Tagen herrschte noch eine Art Besuchsstimmung im Hause, die man besonders dem Landgerichtsrat sehr anmerkte. Er ließ sich in jeder freien Stunde von dem eigentlichen Stammland der Familie und von den Verwandten erzählen. Dann war Inge auch mitteilsam und lebendig wie sonst, aber in den Stunden mit der Mutter allein merkte diese immer die tiefgehende Veränderung. Fragen wollte sie nicht, aber bei den verschiedenen Lücken in Ingeborgs Erzählungen dachte sie sich allmählich ihr Teil.

Inge hatte eine Enttäuschung erlebt! Und Ursula war es, die zuerst davon erfuhr!

Die Schwestern saßen zusammen in dem kleinen traulichen Raum, der ihnen jetzt als gemeinsames Wohnzimmer dienen sollte; sie besahen schöne, eigenartige Handarbeiten aus Schweden, Ansichtskarten und vor allem die Bilder der Verwandten.

Die Cousine Karin war wohl eine ähnliche Erscheinung wie Inge selbst; man konnte nun die echte mit der »sogenannten« schönen Schwedin vergleichen. Und der Vetter Erik – ja, der sah allerdings sehr anziehend aus!

Ursel wurde es auf einmal klar, daß sie unbewußt angenommen hatte, die Schwester würde als dessen Braut zurückkommen! Statt dessen sprach sie von diesem Verwandten weniger als von allen anderen.

Heute war sie besonders ernst und nachdenklich; sie hatte schon den ersten Brief aus Schweden, und Ursel fragte teilnehmend: »Du hast gewiß Heimweh nach Göstaborg?«

Da sagte Inge plötzlich: »Wenn ich wäre, wie du, dann wäre Göstaborg vielleicht jetzt meine Heimat.«

»Inge! Du wie ich? Wie kommst du darauf, uns zu vergleichen?«

»Ja, wie kommt man darauf? Früher hätt' ich's auch nicht gedacht. Wie hätt' ich geglaubt, daß mir etwas fehlte, etwas anders an mir sein könnte?! Wie hätt' ich gedacht, daß ich dich unscheinbares stilles Ding – verzeih, Urselchen, und laß mich offen sein! – daß ich dich einmal auf etwas hin ansehen könnte, was mir fehlte!«

»Aber Inge, liebe Inge!«

»Laß mich, Ursel, es tut mir gut. Sieh, wenn ich dich so beobachte, wie du hier im Hause herumgehst, wie du aufmerksam und hilfreich gegen groß und klein bist, aber nie ein Wort von dir sprichst, nie zu merken scheinst, wie du allen lieb und angenehm bist, mit einem Wort, völlig anders als ich – dann denk' ich: Hätte so mich Vetter Erik gesehen, er hätte sich doch wohl entschlossen! Ich meine, entschlossen, mich nicht wieder ziehen zu lassen! Aber er hat, als ich von Stockholm zurückkam, sich recht deutlich von mir abgewandt, und Karin hat es mir auf mein bestürztes Drängen und Bitten auch gestanden, daß er gesagt habe: ›Ein so eitles, selbstbewußtes Mädchen, das sich derartig vom Gesellschaftsleben den Kopf verdrehen ließe, könne er doch nicht zur Frau nehmen!‹

»Siehst du, Ursel, dafür, daß sich alle beeifert haben, mich zu bewundern, mein natürliches Selbstbewußtsein zu nähren, dafür – hat sich der eine von mir abgewandt.

»Bescheidenheit, Weiblichkeit, selbstloses Sein, – das hat sich Erik gewünscht an seiner Frau, und wenn es noch nicht an mir ausgeprägt war, wie er mich kennen lernte, so hoffte er, zu meinen anderen Eigenschaften, die ihm gefallen haben, würde sich auch dies entwickeln, wenn – . Aber Stockholm hätte mich vollends verdorben, sagte er.«

Ursel saß tief erschüttert. Daß es Inge war, die so sprach, und zu ihr, der jüngeren Schwester – das konnte sie kaum fassen. Sie kam aber nicht zu einem Gefühl von Stolz auf dies Vertrauen; sie empfand nur die schmerzliche Demütigung ihrer schönen Schwester, und trotz aller Kindlichkeit ahnte sie ein tiefes Leid.

Sie hatte Inge mit beiden Armen umschlungen und barg das Gesicht an ihrer Schulter, sie mochte sie wirklich nicht ansehen in dem Augenblick solcher Geständnisse.

Inge aber sagte: »Ursel, daß ich dir dies sage, dir zuerst, das mußt du nun als einen Beweis meiner schwesterlichen Liebe ansehen, als ein Pfand für unsere künftige gute Freundschaft; willst du?«

»O Inge, du machst mich ja glücklich! Nur bin ich im selben Augenblick auch so traurig deinetwegen.«

»Wer weiß, warum es so kommen mußte! Ich habe es zu gut gehabt im Leben. Du kleine Stille standest immer zurück.«

»Aber Inge, ich war doch auch nichts neben dir! Wie hab' ich dich bewundert, und – beneidet!«

»Du mich bewundert? Und ich war doch gar nicht nett zu dir! Mir fällt es jetzt wie Schuppen von den Augen. Ich war nur mit mir selbst beschäftigt; ich verstand deine schüchterne, in sich gekehrte Natur nicht.«

»Und ich, ich war so empfindlich, so verdrossen, so voll törichter Einbildungen; mich konnte wirklich niemand mögen!«

»Aber jetzt mag dich jeder, das fühlst du doch wohl? Gesteh's nur!«

»Ach – ich weiß nicht – die Eltern –«

»Nun, die Eltern. Glaubst du, daß die je einen Unterschied gemacht haben zwischen uns Kindern? Nein, ich meine andere Leute; ich seh's ja!«

»Aber ich kann nicht im entferntesten dich im Hause ersetzen.«

»Vielleicht noch nicht, du bist in der Wirtschaft ja noch ein kleiner Lehrling. Ich tat schon früher alles, weil ich Mamas erste Stütze sein konnte, und ich tat es gern, auch wohl recht gut, aber ich ließ mich auch fleißig dafür bewundern. Ach, das ist nun vorbei, jetzt tut mir jedes Lob weh.«

»Aber, liebe Inge, das ist doch übertrieben! Das bleibt nicht so, das überwindest du! Und auch Vetter Erik – wird ohne Zweifel noch sein Urteil bereuen!«

Damit schloß diese denkwürdige Unterredung der beiden Schwestern, die Ursel noch lange und nachhaltig beschäftigte.


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