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12. Kapitel.
Die Fahrt nach dem Rohrwerder

Gibt es einen schöneren Landungsplatz als in Wendenburg am großen See, in unmittelbarer Nähe des herrlichen Fürstenschlosses?

Kommt man aus den engeren Straßen der Innenstadt auf den großen freien Platz, von den stolzen Gebäuden des Museums, des Theaters und der Regierung umgeben, und sieht zwischen dem Grün der Marstallhalbinsel und den herrlichen Baumgruppen des Burggartens die weite Fläche des blauen Sees, mit den weißen Segeln und den wimpelgeschmückten kleinen Dampfern, da tut nicht nur der Fremde einen Ruf der Bewunderung, auch der Einheimische kann dieses Bild selten sehen ohne den frohen Stolz: »Schön ist die Heimat, und schön und gut wohnt sich's im sicheren Schatten dieses Fürstenhauses!«

Auch Ursula Dahland empfand solche fast andächtige Bewunderung, und jetzt – mischte sich auch kein Heimweh mehr hinein. Steinberg war, wenn auch nicht vergessen, so doch verschmerzt, Wendenburg war zur Heimat geworden!

War das heute ein Vergnügen, mit der ganzen Familie so aufs Schiff zu steigen, und immer dicht neben sich ihre Franzi! Da man früh gekommen war, konnte man sich noch die Plätze aussuchen; die Jugend nahm das ganze tiefer gelegene Halbrund am Hinterteil des Schiffes ein, und Axel und Ursula wetteiferten darin, Franzi, die zum ersten Male auf dem See war, alles zu zeigen und zu nennen, was man von der Landseite nie sah.

Wie ein Märchen erhoben sich Grotten, Terrassen und Figuren scheinbar unmittelbar aus der Flut, Schwäne zogen dicht am Ufer des Burggartens langsam ihre Kreise, Möwen mit den weißen Schwingen schossen schimmernd darüber hin.

Immer weiter öffnete sich der See, fern schienen die waldigen Ufer; aber da mitten drin tauchte ein grünes Eiland auf, aus dessen dichtem Baumwerk ein grauer Wartturm mit Zinnen hervorlugte.

»Ist dort auch eine Burg?« fragte Franzi lebhaft, »solch einen Turm hat Wehrburg.«

»Nein, es ist nur ein Aussichtsturm,« belehrte Axel, »da steigen wir hinauf.«

»Und was liegt da rechts? O die hübschen Häuschen – der liebliche Strand!«

»Nicht wahr,« sagte Ursula, »als ich Heckendorf so zum ersten Male auftauchen sah, war mir's auch, als könnten dort nur glückliche Menschen wohnen.«

»Häuschen sagen Sie,« mischte sich Axel wieder ein, »lassen Sie das nicht die Besitzer hören! Wenn wir näher kommen, werden Sie schon sehen, daß es Villen sind, oder ›Fillas‹, wie die Leute sagen.«

Das Schiff hielt auf Heckendorf zu, und man erkannte nun deutlich die stattlichen Häuser mit Balkonen und Loggien, auch ein stolzes »Logierhaus«.

»Wir halten heute zuerst in Heckendorf,« sagte Inge, »schade, daß wir nicht daran gedacht haben, wir hätten die Familie Leuthold mobil machen sollen! Ist denn niemand zu sehen, daß man ein Zeichen geben könnte?«

»Du kannst ja aussteigen,« schlug der Vater vor, »und sehen, wen du mitbekommst; es fährt jetzt fast alle Viertelstunde ein Schiff zur Insel hinüber. Ist's dir recht, Mama? Du hast ja wohl Kuchenberge eingepackt?«

»Sehr recht; tu das, Inge, an Kuchen fehlt's sicher nicht.«

Inge war schon auf dem Steg und lief eilig den Strand entlang, auf eines der weißen Häuser zu. Die Weiterfahrenden sahen sie dann gleich darauf mit Anna Leuthold in der Tür erscheinen und winken, was sie für eine Bejahung ihrer Aufforderung hielten.

In zehn Minuten hatte man die Insel erreicht; Schwäne schwammen auch hier, wie zum Empfang, in der von dichtem Rohr umsäumten Einfahrt, und fröhlich stieg man an Land. Axel hatte schnell den besten Platz vor der Wirtschaft ausgesucht, Mama sprach mit dem Kellner, und die Mädchen packten Kuchen aus, während die Kleinen sofort jauchzend der großen Schaukel zustürzten.

Der Landgerichtsrat blieb in der Nähe des Landungssteges und schaute nach dem nächsten Schiff aus.

Sehr bald sah man den »Greif« vom gegenüberliegenden Ufer sich nähern, und die winkenden Tüchlein an Bord kündeten die Freunde an.

Es war aber nur Anna mit ihrem Vater. Frau Leuthold hatte sich den Fuß verstaucht und wollte es nicht wagen, eine Partie zu unternehmen, ließ aber dringend bitten, Familie Dahland möchte doch auf der Rückfahrt in Heckendorf aussteigen und den Abend dort mit den Freunden verbringen; die Patientin habe schon rechte Ungeduld und Sehnsucht nach lieben Menschen.

»Das ließe sich vielleicht machen,« meinte die Rätin, »wir dürfen dann nur hier nicht zu spät wegfahren, damit wir in Heckendorf nachher noch Anschluß ans letzte Schiff finden.«

»Oder wir gehen zu Fuß nach Hause,« schlug Axel vor.

»Aber die Kleinen,« unterbrach Mama, »Papa wollte ja, es sollte heute ein richtiger Familienausflug werden.«

»Nun, das muß sich finden,« meinte Inge, »vorläufig bitte zum Kaffee, meine Herrschaften; ich sehe, wir Nachzügler sind noch zur rechten Zeit gekommen.«

Riesige Kannen mit Kaffee und Milch erschienen jetzt, Zuckertürmchen und Kuchenberge der schönsten Art. Mama hatte nicht gespart, in Gedanken an Papas blauen Schein!

Selbst die Kleinsten wurden einmal wirklich satt, wie sie versicherten, und sie stöhnten etwas, als es dann hieß: »Zum Aussichtsturm!«

Einige Stimmen wurden auch laut: man kennt ja die Aussicht schon; aber Papa entschied: »Wer nach Rohrwerder fährt, steigt auch auf den Turm –«

»Und geht nachher um die ganze Insel, nicht wahr, Papa?« fiel Ursula ein.

»Gewöhnlich ja; du willst natürlich mit deiner Freundin auf Entdeckungsreisen gehen?«

»Aber heute wird die Zeit kaum reichen,« meinte Mama, »man braucht eine Stunde zu dem Gang, und wenn wir zur rechten Zeit in Heckendorf sein wollen, müssen wir mit dem Sechsuhrschiff fort.«

»Nun, das findet sich; jetzt mal erst hinauf. Sehen Sie, Fräulein Franzi, ist das nicht der Mühe wert?«

Sie kamen auf den hochgelegenen freien Platz, wo das Häuschen mit dem Turm lag, und machten sich sofort an die Besteigung. Nur Mama blieb mit den Kleinen unten, denn für schmale Wendeltreppen fand sie die kleinen Vagabunden noch nicht bedächtig genug. Sie standen unten und schwenkten ihre Hüte, und wunderten sich, daß die Gestalten oben auf der Plattform so klein erschienen. Elfchen, die schon mal vom »Riesenspielzeug« gehört hatte, klatschte in die Hände und meinte, nun könnte sie's glauben, daß das Riesenfräulein sich den Bauer und die Pferde mit nach Hause genommen hätte.

Oben sah man indessen durchs Fernrohr, durch bunte Gläser, kaufte Ansichtskarten beim Turmwärter und sprach mit den Fremden über die einzelnen Punkte. Da lag die Stadt mit ihren Türmen, der liebliche Strand von Heckendorf, dann ein stattliches Bauerndorf mit hübschen neuen Häusern, umgeben von schon gelb schimmernden Kornfeldern; weiterhin sah man einen kunstvoll durch den See gebauten Damm, der ein paar abgelegene Ortschaften mit der Stadt verband, und endlich schimmerte aus dichtem Park der helle Giebel eines Schlößchens.

»Das ist Herrnhofen, der Sommersitz unserer Fürstin-Mutter,« erklärte Ursel, »dort ist ein herrlicher Park mit dem Kinderhäuschen und den kleinen Gärten der Prinzen und Prinzessinnen, die jetzt alle nicht mehr spielen. Und dann ist außerhalb des Parks ein Platz am See, da steht die ›Abendbank‹; von dort hat die gute Fürstin immer nach dem Schiff ausgesehen, das den Fürsten zurückbrachte, wenn er in Regierungsgeschäften zur Stadt gewesen war. Dort soll sie Abends sehr oft noch sitzen, aber man darf leider dorthin nicht gehen; es steht eine Tafel da, mit ›Verbotener Weg‹ bezeichnet.«

»Das verdenk' ich ihr nicht,« meinte Franzi, »Fürsten müssen sich so viel angucken lassen, daß sie sich gewiß manchmal nach Einsamkeit sehnen. Unser guter Graf ist ja früher auch oft an den Hof gegangen; der wußte viel davon zu erzählen, wie die Höchsten im Lande, von denen wir immer denken, sie haben es so gut und brauchen sich keinen Wunsch zu versagen – wie die gerade so viel arbeiten und ihre Zeit einteilen, weil sie so viel wissen müssen und für so unendlich vieles und großes verantwortlich sind.«

»Ja,« sagte Ursula, »und Leid bleibt ihnen auch so wenig erspart wie uns! Die Fürstin hat viel erlebt, die weiß, wie's betrübten Menschen zu Mut ist; darum ist sie auch so gut und hilft, wo sie kann.«

»Das denk' ich mir das größte Glück der Fürsten!« sagte Franzi bestimmt.

»Nun, ihr seht ja so ernst aus,« redete der Landgerichtsrat sie jetzt an, »nun möchtet ihr wohl gern weiter? Kommt nur, ich sehe unten neue Gäste nahen, die wahrscheinlich herauf wollen; laßt uns Platz machen.«

Der Wärter gab ein Zeichen, daß niemand von unten aus die schmale Wendeltreppe bestieg, bis die Familie des Landgerichtsrats unten war; denn ein Ausweichen war unmöglich.

»Papa, Papa,« rief Elfchen, »ihr wart ja so klein – wie das Riesenspielzeug!«

»Der Tausend, da will mein Kind ihren Papa am Ende in die Schürze sammeln! Na – mach mal auf dein Kittelchen, Papa springt hinein!«

Elfchen sah ihren Vater sehr verdutzt an, dann sprang sie aber doch lieber in seine Arme und ließ sich ein wenig tragen, während die kleinen Jungen mit Geschrei den Abhang hinuntertummelten.

»Und nun will ich euch was sagen,« meinte Papa, »jetzt teilen wir uns in zwei Lager. Uns Alten und uns Kleinsten ist es, glaub' ich, zu heiß zu dem Marsch um die Insel; wir setzen uns hübsch in den Schatten und fahren zur rechten Zeit hinüber nach Heckendorf. Ihr Jungen aber dürft ausschwärmen. Doch nehme jeder seine Fahrkarte – hier – und wer nicht um sechs Uhr bei uns am Schiff ist, der kommt mit dem nächsten. Einverstanden?«

Alle waren es und grüßend und winkend ging die Gesellschaft auseinander.

»Axel, ich rate Ihnen, bleiben Sie bei uns,« sagte Anna Leuthold scherzend, »die beiden Backfische sehen mir so aus, als verzichteten sie auf jede Gesellschaft.«

»Ja, Axel,« sagte auch Inge, »bleib bei uns, du kannst so nett unsere Jacken tragen.«

»Sehr schmeichelhaft,« erwiderte Axel lachend, »die eine will mich als Packträger, die andere gibt mir zu verstehen, daß meine Gesellschaft lästig sein könnte!«

»Uns doch nicht,« verteidigte sich Anna, »aber sehen Sie nur die beiden an, die sind gar nicht zu halten.«

Es war so. Ursula und Franzi waren auch nach Kindermanier den Abhang hinabgelaufen, hielten sich nun an den Händen und verschwanden in dem tiefen Baumschatten. Sie sprachen zuerst gar nicht, sahen sich nur seelenvergnügt an und dann meinte Franzi: »Hier ist es wie verzaubert, so still!«

Niemand begegnete ihnen; die meisten Menschen saßen noch beim Kaffee oder blieben beim Turm, denn es war ungewöhnlich warm zum Gehen. So kam es den beiden Mädchen vor, als gehörte ihnen die Insel allein.

»Verirren können wir uns doch nicht?« fragte Franzi.

»Wenn wir diesen Weg verfolgen, gewiß nicht; wir sehen ja immer den See durch die Bäume schimmern, und allmählich kommen wir dann herum um unser kleines Erdenrund und beim Landungsplatz wieder an.«

Aber sie blieben nicht auf dem Wege. Links taten sich jetzt die Bäume auseinander und da schimmerte eine Wiese, so rotblühend, wie sie nie eine gesehen zu haben glaubten. Da mußte ein Strauß gepflückt werden, das hielt nicht lange auf – in wenigen Minuten hatten sie die Hände voller Blumen.

»Wir sind wie Rotkäppchen,« sagte Franzi lachend, »das vom Wege abbiegt, um Blumen zu pflücken! Aber böse Wölfe gibt's hier nicht, und böse Menschen hoffentlich auch nicht. O, wie ist es hier einsam.«

»Schön, wunderschön! Wollen wir nun auf den Weg zurück?«

»Können wir nicht quer über die Insel gehen? Eine Entdeckungsreise durch das Innere Afrikas?«

»Das können wir, vielleicht kommen wir so schneller ans Ziel zurück.«

Aber der Weg hörte auf, sie kamen an ein Brachfeld, fingen an darüber zu stapfen, fanden das beschwerlich, weil hier außerdem die Sonne so brannte, und meinten, der erste Weg sei der schönste. Sie kehrten also um, bis sie wieder das Wasser blinken sahen, und nun sicher gingen.

»Man sollte nicht denken, daß die Insel so groß ist,« sagte Franzi sehr verwundert, »Wiesen und große Kornfelder hätt' ich nicht darauf vermutet. Sogar Kühe – hörst du die Glocken?«

Ursula fürchtete sich ein wenig; aber als Franzi lustig auf eine rotbunte zusprang, mit lautem »Buhköking von Halberstadt« – ließ sie sich nichts merken und stand still, nur dunkelrot da, bis eine schwarzweiße Kuh herantrottete und zutraulich ihren Strauß beschnupperte. Aber »komm jetzt, Franzi,« rief sie doch, »wir kommen sonst wieder vom Weg!«

Die Freundin kehrte zurück und sie gingen ein Weilchen still vorwärts. Da kamen endlich die wilden Rosengebüsche, an die Ursula schon immer gedacht hatte, und mit lautem Entzücken machten sie sich abermals ans Pflücken.

»Es ist die höchste Zeit, daß wir herkamen,« sagte Ursel, »sieh, wie sie schon abfallen.«

»Ja in Rosen steht die Welt,
Aber ahnungsbang
Zittert durch das Ährenfeld
Schon ein fremder Klang.
Bald ertönt der Erntereigen,
Und die Rose muß sich neigen,
Und die Vögel werden schweigen.
O wie liegst du dann so weit,
O du schöne Rosenzeit!«

sang Franzi. Ursel hatte sich ins Gras geworfen und still zugehört.

»O du schöne, du schöne Rosenzeit!« jubelte Franzi noch einmal und kauerte sich dann auch auf den grünen Boden; sie fingen an, die Blumen zu ordnen und mit langen Halmen zu binden.

»Sieh da durch, zwischen den Bäumen, Franzi; siehst du das Schloß?«

»Herrlich, auf dem goldigen Himmelsgrund! Aber die Sonne steht schon ziemlich tief, sollte es nicht schon Zeit für uns sein?« Sie sprangen auf und ließen sich nun wirklich durch nichts mehr aufhalten, sondern strebten der Landungsstelle wieder zu.

»Der Weg ist doch länger und unsere Zauberinsel größer, als wir annahmen.«

»Gut, daß wir unsere Schiffskarten haben; ich vermute, die Eltern sind schon in Heckendorf.«

»Ja, sicher, es muß viel mehr als sechs Uhr sein.«

»Nun, Papa hat es uns ja erlaubt; wir nehmen das nächste Schiff.«

Sie gingen aber doch unwillkürlich schneller, denn sie hörten ein Tuten, jetzt das Anschlagen der Schiffsglocke – eins, zwei – sie fingen an zu laufen – drei! Die Mädchen sahen sich an und machten etwas zweifelhafte Gesichter. Jetzt kam gerade die Landungsstelle in Sicht und – dahin fuhr das Schiff! Besetzt bis auf den letzten Platz, wie es schien.

»Nun, es kann noch nicht das letzte sein,« ermutigte Ursel, »und dies sieht beängstigend voll aus; da hätten wir kaum Platz gefunden. Nun setzen wir uns hier gemütlich hin und warten das nächste Schiff ab.«

Als sie aber auf den Platz vor dem Wirtshaus kamen, war es dort merkwürdig menschenleer. Der abgehetzte Kellner schlenkerte langsam von einem Platz zum anderen und nahm schon die Decken ab. Es sah aus, als rechnete man unter keinen Umständen mehr auf Gäste.

Als er die jungen Mädchen so atemlos daherkommen sah, sagte er lakonisch: »Das Schiff ist fort.«

»Ja, das sehen wir. Wann kommt das nächste?«

»Heute nicht mehr.«

»Was!! Wie spät ist es denn?«

Er zog seine Uhr. »Ein Viertel nach sieben Uhr.«

Die beiden Mädchen sahen einander mit unbeschreiblichem Erstaunen an. Über zwei Stunden hatten sie zu ihrem Gang um die Insel gebraucht! Und kein Schiff kam mehr?

»Aber,« begann Ursel unsicher, »es fahren doch sonst später noch Schiffe; das letzte ist erst nach acht Uhr in Wendenburg.«

»Ja, sonst wohl; aber der ›Greif‹ hat Havarie gehabt, daher fällt die letzte Fahrt aus. Die ›Möwe‹ brachte den Bescheid mit, daß alle Herrschaften mitfahren sollten, weil es heute sonst keine Fahrgelegenheit mehr gibt.«

Ein Klingeln vom Hause rief den Kellner ab, und die beiden Mädchen standen ratlos allein.

»Daß der ›Greif‹ nicht mehr fährt, dafür können wir nicht,« sagte Ursel, »wer konnte das ahnen? Deswegen werden uns die Eltern auch nicht böse sein.«

»Ja, aber – wie wollen wir denn fortkommen?« fragte Franzi kleinlaut, »wollen wir etwa hinüberschwimmen? Wir sind ja doch auf einer Insel!«

Jetzt trat der Wirt aus dem Hause und meinte tröstend: »Vielleicht kommt noch ein Ruder- oder Segelboot vorbei, das die jungen Damen aufnimmt.«

»Ja, das kann sein,« rief Ursel erleichtert, »Axel ist ja auch öfters noch Abends unterwegs.«

»Dann müssen wir uns aber ans Ufer stellen, damit man uns sieht!« schlug Franzi vor.

»Ist den Damen vielleicht noch eine Erfrischung gefällig?« fragte der Wirt, und Ursel antwortete mit Haltung: »Nein, wir danken.«

»Ich habe nämlich kein Geld,« flüsterte sie der Freundin zu, »du etwa?«

»Nein, ich auch nicht,« klang es leise zurück.

»Also gänzlich ohne Mittel – ausgesetzt auf einer wüsten Insel – der Nacht und Einsamkeit preisgegeben!« sagte Franzi pathetisch, »die reine Robinsonade!«

»Nun, so gar wüst ist es ja nicht,« meinte Ursel, »und der Wirt behielte uns vielleicht menschenfreundlich genug hier, auch ohne Geld, wenn wir uns auf meinen Vater berufen. Aber schrecklich wäre es doch! Komm, laß uns unseren Wachtposten beziehen!« Sie stellten sich auf den Steg, der in den See hineinging, und sahen nun erst, wie wunderherrlich das abendliche Bild geworden war. Der ganze westliche Himmel in rote Glut getaucht, schwarz und scharf davor sich abhebend Türme und Kuppel des Schlosses.

»Wie eine Fata Morgana schwebt es zwischen Luft und Wasser,« sagte Ursel, »und ebenso unerreichbar für uns!«

Da riß Franzi ihr Tuch aus der Tasche und rief: »Ein Schiff, ein Schiff! Oder vielmehr ein Boot, ein herrlicher Segler! Siehst du, wie es vor dem Winde daherkommt?«

Hierher! Hilfe! Hoiho!

»Und wie ist es bemannt?« fragte Ursel, auch eifrig winkend, »ist Platz für uns?«

»Platz genug,« rief Franzi, welche die schärferen Augen hatte, »ich sehe nur zwei Herren – nein drei.«

»Wie unangenehm,« seufzte Ursel, »das ist gewiß nicht sehr passend, wenn wir die anrufen.«

»Was sollen wir aber machen?«

Und sie setzten beide die Hände an den Mund und riefen laut. »Hierher! Hilfe! Hoiho!«

Hell und melodisch schallten die jungen Stimmen über das Wasser, und wirklich, die Insassen des Segelboots schienen schon darauf zu achten. Es veränderte seine Richtung etwas und kam schnell und stolz dem Ufer zu. Nun sahen sie, daß der Bug des großen schlanken Bootes wie ein Schwan gebildet und die ganze Ausstattung schöner und reicher war, als bei den sonst hier üblichen Fahrzeugen.

»Sicher sind wir in dem Boot,« sagte Franzi rasch, »wenn die Herren nur nett sind – vornehm sehen sie aus – einer trägt Marineuniform – aber der in der Mitte sitzt, ist der Vornehmste. – So, da sind sie; nun mußt du sprechen, Ursel!«

»Nein, bitte, du,« flehte diese.

Aber sie hatten es beide nicht nötig. Der Seeoffizier legte schon die Hand an die Mütze und fragte höflich: »Sind die jungen Damen in Verlegenheit?«

»Ja, in der allergrößten!« rief Franzi beherrscht. »Wir haben die ›Möwe‹ versäumt und wußten nicht, daß der ›Greif‹ nicht mehr fährt, weil er Unglück gehabt hat.«

Das Boot war jetzt nahe herangekommen, und der andere Herr sagte: »Das ist recht bedauerlich; wollen die jungen Damen sich dem ›Schwan‹ anvertrauen und zu uns einsteigen? Wir bringen Sie sicher nach Wendenburg.«

»Wenn Sie so gütig sein wollen,« ließ sich nun auch Ursel vernehmen, »wir wären sehr dankbar, wenn Sie uns nur in Heckendorf absetzen wollten; dort sind nämlich meine Eltern, mit denen wir zusammen nach der Stadt gehen wollten.«

Der Herr, der zuletzt gesprochen, wandte sich zu dem, der am Steuer saß, und dieser meinte höflich, aber bestimmt: »Das wird nicht gut gehen. Wir haben konträren Wind nach Heckendorf zu, wir kommen heute doppelt so schnell nach Wendenburg, als drüben ans Ufer, obwohl die Entfernung so viel geringer ist. Wir müßten kreuzen.«

»Und ich muß um acht Uhr in der Stadt sein,« sagte der vorige Sprecher, »also fügen Sie sich, meine Damen; wir bringen Sie in zwanzig Minuten heim, und Sie sind gewiß noch früher da als die Eltern. Bitte!«

Er streckte seine Hand aus und half Franzi hinein, während Ursel von dem Seeoffizier gestützt wurde.

Nun saßen sie auf der kleinen Bank, die sogar ein blau und weißes Polster hatte, dicht zusammen, erlöst und doch in einer seltsamen Verschüchterung. Da die Herren sie aber zunächst nicht beachteten, sondern ihre Aufmerksamkeit dem Segel zuwandten und dann halblaut miteinander sprachen, fingen auch sie an zu flüstern.

»Märchen, Märchen,« sagte Franzi mit schon zurückkehrender Schelmerei; »hab' ich's nicht gesagt, auf der Insel geht's nicht mit rechten Dingen zu?«

»Und dieses Boot,« flüsterte Ursel, »siehst du den Schwan? Kennst du Lohengrin?«

»Die Sage wohl, aber im Theater war ich noch nie.«

»Ich auch erst zweimal, im Freischütz und im Lohengrin. Oh, was wirst du zu Lohengrin sagen! Es ist das schönste, was ich mir denken kann! Da kommt der Held auch auf einem Schwanenschiff.«

Plötzlich schrie Franzi leise auf: »O sieh doch, sieh doch!«

»Ah!«

Die Fenster des Schlosses, das vor kurzem noch so dunkel auf dem hellen Hintergrund lag, wurden plötzlich von einem Strahl der untergehenden Sonne getroffen und leuchteten hell auf.

»Wie eine Illumination!« rief Franzi in der entzückten Überraschung etwas lauter.

Da drehte sich der eine Herr, den sie in Gedanken den Vornehmsten nannten, ihnen zu und sprach: »Vielleicht ist es eine wirkliche Illumination zu Ehren des Erbprinzen.«

»Ist der hier?« fragten die Mädchen wie aus einem Munde.

Die Herren lächelten alle drei und der erste sagte wieder: »Er soll angekommen sein, gestern abend spät.«

»Oh – wir haben ihn noch nie gesehen!«

»Sind die jungen Damen keine Wendenburgerinnen?«

»Nein – doch eigentlich ja, wir sind aber erst seit kurzer Zeit hier.«

»Aha, vielleicht in Pension?«

»Nein,« sagte Ursel, die sich über ihren eigenen Mut wunderte, »mein Vater ist hierher versetzt.«

»So, so.«

Die Sonnenglut erlosch jetzt, und Franzi sagte: »Oh – die prinzliche Illumination ist schon verschwunden!«

»Aber der Prinz ist noch da,« sagte der Herr und lächelte in eigentümlicher Weise.

Plötzlich wurden die Mädchen sehr still und bekamen sehr große Augen und sehr rote Wangen.

Das Boot war mit großer Geschwindigkeit dahingeglitten – in unmittelbarer Nähe lag jetzt das Schloß! Man konnte deutlich in die Grotte hineinsehen, wo der bemooste Neptun geheimnisvoll hauste – man erkannte die Blumen auf den Terrassen – und niemand machte Miene, an all dieser Herrlichkeit vorbeizufahren, im Gegenteil: stolz und sicher schoß der Schwan auf den Anlegeplatz am – Burggarten zu!

Lakaien in der fürstlichen Livree sprangen herbei, und die beinahe zu Tod erschrockenen Mädchen wurden von ihren vornehmen Bootsgefährten an Land gehoben. Dann sagte der Große mit dem edlen Gesicht: »Als Fährgeld erbitte ich mir zwei von Ihren Rosen.«

Stumm hielten sie ihre Sträuße empor, er pflückte sich aus jedem eine Rose, grüßte freundlich und ging mit dem Seeoffizier davon geradewegs ins Schloß hinein!

Nun wandte sich der Steuermann zu den Mädchen und sagte lachend: »Sie wußten also gar nicht, daß Sie mit dem künftigen Landesherrn gefahren sind?«

Sie schrieen beide leise auf, um sich dann gleich erschrocken die Hand vor den Mund zu halten.

»Nun, erschrecken Sie nur nicht hinterher! Sie sehen ja, Ihnen ist nichts geschehen und Sie sind sicher und schnell hergekommen.«

»Und wir haben nicht einmal gedankt!« rief Franzi entsetzt.

Aber der Herr meinte wieder: »Seine Hoheit hat ja Ihre Rosen als Dank angenommen. Nun kommen Sie nur, ich führe Sie hinaus. Wäre es nicht so spät und hätte ich nicht Dienst – würde ich Sie noch ein wenig herumführen; aber so ist es Ihnen wohl am liebsten, ich zeige Ihnen den kürzesten Weg. Meinert, können Sie die Kette aufschließen?« redete er den einen der Bediensteten an, »das wäre das bequemste.«

Und wirklich, die schwere Eisenkette, die quer vor den gitterlosen Eingang gezogen war und den Burggarten von der Außenwelt schied, senkte sich vor den beiden Mädchen, und nach einem gestammelten Dank und einem letzten freundlichen Gruß des »Steuermanns« standen sie draußen.

Wie geblendet blickten sie um sich: über die Schloßbrücke flutete gerade ein Strom heimkehrender Spaziergänger, und den beiden war's, als müsse jeder einzelne ihnen das große Ereignis vom Gesicht ablesen.

»Mit dem künftigen Landesherrn!« sagte Ursel endlich ergriffen, als sie ihre Allee erreicht hatten. Franzi blieb stehen und sagte: »Alles war wie im Märchen, nur der Schluß nicht! Sonst geben die Mächtigen den armen Sterblichen drei Wünsche frei – das ist uns nicht geboten worden, Ursel!«

»Hättest du gleich was gewußt?« fragte diese bedenklich. »Ich nicht, mir wär's gewiß so ergangen wie manchem im Märchen, der einen törichten oder verderblichen Wunsch getan!«

Während die Mädchen solche Dinge erlebten, die man schon mehr Abenteuer nennen konnte, waren die Eltern mit der übrigen Gesellschaft gemütlich in der Leutholdschen Villa in Heckendorf eingetroffen.

Als man um sechs Uhr pünktlich von der Insel Rohrwerder abfuhr und die Backfische nicht da waren, litt Papa nicht, daß irgend jemand schalt. »Ich habe es ihnen erlaubt – sie sind große, verständige Mädchen – sie werden zur Zeit nachkommen.«

Aber – zwei der kleinen Dampfer waren schon vorübergefahren, Mama sah heimlich nach der Uhr und wollte ihren Fensterplatz, von dem sie auf den See blicken konnte, nicht aufgeben. Als es sieben Uhr war, konnte sie ihre Unruhe nicht mehr verschweigen und schickte Axel nach dem Anlegeplatz.

»Natürlich, ich bin ja immer der Kundschafter,« meinte er, ging aber doch gutwillig. Ziemlich bald kam er zurück und verkündete mit bestürzter Miene: »Das letzte Schiff ist da und über und über besetzt, aber von unseren beiden Schwarzbraunen keine Spur. Ich habe aufgepaßt wie ein Zollwächter!«

»Aber Junge, es kann nicht das letzte sein,« rief Papa und zog erregt seine Uhr, »der ›Greif‹ kommt um dreiviertel acht.«

»Ja leider – Papa, der ›Greif‹ fährt nicht, ist kaput. Der ganze Schwarm ist mit der ›Möwe‹ gekommen. Die Mädel müssen sich furchtbar verspätet, vielleicht auf dem Werder verlaufen haben.«

»Aber das ist ja –«

»Nein, wie schrecklich!«

»Ist das möglich?«

»Was soll nun werden?«

So tönten die erschreckten Ausrufe durcheinander.

»Es kann nicht anders werden,« sagte Axel, »als ich nehme ein Boot und segle hinüber und hole die Ausreißer.«

»Ja, das ist das einzige,« entschied Papa, »aber es müssen sichere Leute mit, der Wind scheint mir nicht unbedenklich. Hinüber kommt ihr wohl, aber zurück?«

»Wir müssen es doch versuchen,« sagte Axel und ging zu seinem alten Freund, dem Bootbauer Helms.

Die Kleinen, die das Ganze nicht recht verstanden und auch schon übermüde waren, fingen an zu weinen und wunderliche Fragen zu tun, bei denen Mama angst und bange wurde, und Frau Leuthold schlug vor, die Kinder zu Bett zu bringen und einfach über Nacht dazubehalten.

»Nein, nein, beste Freundin,« sagte der Landgerichtsrat, »solche Einquartierung wollen wir Ihnen denn doch nicht zumuten. Ich gehe zum Hotel und sehe zu, ob ich noch einen Wagen auftreiben kann, und sowie wir die Mädel haben, packen wir alles – schlafend oder wachend – auf und fahren heim. Ist das eine Geschichte!«

Kopfschüttelnd und erregt ging er hinaus, begleitet von Herrn Leuthold, und die Damen blieben in Unruhe zurück. Die Kinder wurden mit den letzten Kuchenresten einstweilen getröstet, und dann wurde weiter gewartet.

Schneller aber als man gedacht, kehrte Axel zurück. Auf dem See war ihm ein Boot begegnet, in dem er den Wirt von Rohrwerder erkannt hatte. Den hatte er angerufen und nach den beiden Vermißten gefragt, und der Wirt hatte mit Sicherheit berichtet: Zwei junge Mädchen mit schwarzbraunen Zöpfen, eines im weißen, das andere im schwarzen Kleid, seien von Vorüberfahrenden in einem Boot mitgenommen worden, sie müßten schon in der Stadt sein.

»Welch ein Glück!« rief Mama, »hoffentlich war's ein sicheres Boot.«

»Es soll ein besonders großes und schönes gewesen sein,« berichtete Axel und setzte hinzu: »Es war übrigens sehr gut, daß es so kam – der Wirt schien nur einen Fischer unterwegs sprechen zu wollen –, denn wenn ich die Insel noch ganz erreicht hätte, würde ich wahrscheinlich mitsamt den Ausreißern drüben haben kampieren müssen; das Zurückkommen ging sehr schwer!«

»Das sag' ich ja,« rief Papa, »wir haben starken Gegenwind. Na, nun wollen wir froh sein, wenn die Geschichte gut abläuft. Eine Droschke ist glücklich aufgetrieben, es kann sofort losgehen; macht euch fertig.«

Auch der längste, hellste Sommertag nimmt ein Ende, und es war denn auch richtig stark dämmerig geworden, als die Familie zu Hause anlangte und – zu allgemeiner großer Erleichterung – die beiden Mädchen gesund und wohlbehalten schon vor der Haustür stehen sah, mit den Mienen größter, freudiger Erregung.

Die festschlafenden Kleinen wurden ins Haus getragen, und dann ging's an ein Fragen und Erzählen, an dem auch Franzi noch ihr Teil haben mußte, ehe sie nach Hause gebracht wurde.

»Welch ein Abenteuer!« rief Inge beinahe mit Neid, »ich hätte euch wohl sehen mögen! Habt ihr euch denn auch ordentlich benommen? Und Rosen hat der Erbprinz sich von euch ausgebeten? Habt ihr auch eure Namen gesagt?«

»Nein, danach sind wir nicht gefragt worden.«

»Schade, man hätt' nicht wissen können! Denkt mal, wenn ihr euch später beim jungen Landesfürsten einmal auf diese Begegnung hättet berufen können!«

»Inge, was du dir denkst,« sagte Ursel kopfschüttelnd, »wie kann den hohen Herrn unser Name interessieren!«

»Und wer war denn der andere Herr? Ein Seeoffizier, sagt ihr?« fragte Axel, »das hätte mir nur passieren sollen! Ich hätte die Gelegenheit gleich benutzt, mich etwas über die Karriere zu informieren!«

»Mein lieber Junge, steckt dir die Marine noch immer im Kopf?« fragte die Mutter besorgt, einen Augenblick das Abenteuer der Mädchen vergessend.

»Mehr denn je, beste Mutter,« erwiderte Axel feurig. »Denk du nur auch schon recht viel daran und söhne dich in Gedanken damit aus; bald kommt der Zeitpunkt der Entscheidung. Du weißt, wenn mein Abitur Michaelis glückt.«

Mama seufzte und dachte, wie oft im Leben sie dann noch so in Gedanken am Strande auf den Sohn zu warten haben würde!


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