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Die puritanisch strenge Einhaltung der Sperrstunde in London, das Fehlen von Kaffeehäusern kontinentalen Stils und vielleicht auch die abgesonderte Lage des keineswegs sturmfreien englischen Eilands mögen bewirkt haben, daß die Fäden der internationalen Kaffeehausboheme, die sich vom Lilienschloß des Pariser Poetenfürsten Paul Fort in die unterschiedlichen Dichtercafés von Berlin, München, Wien und selbst zum jenseitigen Seine-Ufer bis auf die großen Boulevards spannen, nicht auch den Weg über den Ärmelkanal gefunden haben. Draußen im östlichen London, inmitten aller Varianten des Elends, gibt es nun allerdings ein Stammlokal der Literatur. Es trägt nationalen Stempel: Man spricht bloß »jiddisch«, jenes Sprachgemisch aus Mittelhochdeutsch, ein paar hebräischen Worten und slawischen Wendungen, das in hebräischen Buchstaben geschrieben wird.
Um dem Vorbeigehenden zu sagen, daß hier Juden aus Galizien, Bukowina, Ukraine und Palästina verkehren, heißt das Lokal – »New-Yorker Restaurant«. Ein niedrig gewölbter Raum, zu ebener Erde. Vom Büfett her steigt der Duft gebackener Fische allen jenen Gästen sympathisch in die Nase, denen der Duft gebackener Fische sympathisch ist. An zwei oder drei Tischen werden Manuskripte fabriziert; unerbittlich große schwarze Schlipse sind hier entschiedene Mode; einige glattrasierte Gesichter mit den charakteristischen Mundfalten des Mimikers fallen in diesem vollbärtigen Stadtviertel auf: Schauspieler vom jiddischen »Pavillon-Theater«, das auf der anderen Straßenseite liegt, gerade gegenüber.
Sogar der Cafétier hat literarische Neigungen, er ist Amateurdramaturg des Theaters drüben, gelegentlicher Mitarbeiter an der Sabbatbeilage der Blätter und »Ezesgeber«, das heißt literarischer Beirat des jiddischen Verlages. Das Schlimmste ist sein Assoziationskomplex: Ob man ihm nun die neueste Untat der Suffragetten oder eine amüsante Straßendebatte mit Innenmissionären oder sonst etwas berichtet, er wird immer eine Fabel von Krylow, dem russischen Äsop, zu erzählen wissen, die – wie er glaubt – genau auf den vorliegenden Fall paßt.
Den Herrn mit dem Spitzbart grüßen alle, wenn er durch die Minories geht, aber nur wenige wissen seinen Namen; die Leute kennen ihn nur als »Awroimele« – mit diesem Pseudonym unterschreibt er seine satirischen Artikel. Sein Lebenslauf ist für die Ansiedlung der Intellektuellen in Whitechapel paradigmatisch. Er ist der Sohn eines Holzhändlers aus Bobrujsk und mußte den größten Teil seiner Gymnasialstudien im Privatunterricht absolvieren, da der in Rußland bestehende Numerus clausus für jüdische Schüler überschritten war. So gab es für ihn in seiner Jugend keine Assimilation. Als Mediziner kam er nach Berlin, verlobte sich mit der Tragödin Klara Bleichmann, die mit der jiddischen Truppe ihrer Eltern im Puhlmann-Theater in der Schönhauser Allee und im Concordia-Theater in der Brunnenstraße gastierte. Um nicht jahrelang auf die Aushändigung seiner russischen Legitimationspapiere warten zu müssen, heiratete er in London und blieb in Whitechapel.
Der jiddische Literaturhistoriker am Nebentisch, von dem wir nur den Hals mit zwei Furunkeln sehen, trinkt seine »Nuß Braun«, er hat in der Bibliothek des »British Museum« das vieraktige jiddische Drama eines Autors mit Namen Wolfsohn entdeckt, das 1796 in Posen erschienen ist, und macht nun daran seine Studien, wenn er nicht hier seine »Nuß Braun« trinkt.
Dem Besitzer und Direktor des »Pavillon-Theaters«, Mister Joseph Keßler, können wir die Anerkennung über seine Inszenierung des Gordinschen Dramas »E jüdischer König Lear« nicht versagen; den Herrn Generalmanager überrascht das gar nicht, er ist es gewohnt, die seriösen Kritiker bescheinigen täglich, daß der Versteller Mister Hochstein ein Vorzug ist und die Verstellerin Mistreß Wallerstein ein schmeckediges Ponem hat. Er bedauert, daß wir Mister Hamburger, den Komiker, bloß in einer Trauerspielerei gesehen haben; in einer Lusthandlung sei er zu preferieren. Daß der Kapellmeister betamt ist, finden wir auch: Im Zwischenakt und an melodramatischen Stellen hat er mit einer Hand Harmonium gespielt und mit der anderen das Orchester zu bändigen versucht. Das Publikum gab seiner Anteilnahme mitten in den Glanzszenen durch ehrlich bewunderndes Zischen Ausdruck.
Man spricht vom Theater, man trägt uns nach Ossip Dymow, nach Rudolf Schildkraut, nach Scholem Asch. Ob wir Adolf Ritter von Sonnenthal gekannt haben; ob er wirklich so großartig war, der Adolf Ritter von Sonnenthal?
Im Nu lernen wir alle Stammgäste kennen; solche, denen die Schriftstellerei eine Ausrede, solche, denen sie ein ganz einträglicher Erwerb ist. Ein blatternarbiger, vierschrötiger Kollege – sein Kopf sitzt wie ein Würfel auf prismatischem Hals – wird uns vorgestellt; man spottet über seine Faulheit und erzählt, er habe das jiddische Distichon erfunden, um bloß zwei Zeilen schreiben zu müssen. Von einer jiddischen Redaktion zur Abfassung eines Essays über Israel Zangwill gedrängt, begann er mit den Worten: »Zangwill ist ein durch und durch katholischer Autor . . .« – seit jener Zeit wird er nicht mehr mit Aufforderungen belästigt. Er pumpt uns um zwei Schilling an.
Spindeldürr sitzt der Liederdichter des Bezirkes da. Seine Spezialität sind Reime jiddischer Worte auf englische, zum Beispiel der Refrain eines Couplets vom Knopflochschneider:
I am a jiddischer
Buttonhole-Finisher . . .
Ganz Whitechapel singt sein Lied vom »bidnen Arbeiter«:
Fun dei kindheit, fun dei yugend
Finsterst ob dein welt in shop.
Und kein heim dos hostu nit,
Mied dei herz, dei kopp.
Oi! seh! men behandelt dich punkt wie a hund.
Fun dei schwere horewanie leben reiche in paleste . . .
Ein neunzehnjähriger Junge ist durchgebrannt vom Lodzer Seminar – er will nicht »Bocher« sein und nicht Rabbiner werden, er will dichten, die Welt erobern, Bücher schreiben, »ein zweiter Max Brod werden«.
Es gibt drei jiddische Tagesblätter in Whitechapel, die im großen Format der Londoner Zeitungen erscheinen: »Die Zeit«, »Jüdisches Journal« und »Expreß«. Sie sind in ihrer politischen Färbung voneinander verschieden, nur gegen die Agitation der in Whitechapel stark vertretenen Missionshäuser, für die Abänderung des Emigrationsgesetzes und gegen den Antisemitismus kämpfen sie alle mit der gleichen Vehemenz. Eines von den vielen jiddischen Wochenblättern, der anarchistische »Arbeiterfreund«, wird von einem deutschen Christen redigiert, einem biederen Buchdrucker aus Mainz, der eigens den Jargon erlernte, um in der Volksvorstadt Londons für Tolstoi und Luccheni, für Menschenliebe und direkte Aktion, für gegenseitige Hilfe und für Attentate zu agitieren. In dem von Mackay geschilderten englischen Anarchismus spielt Fürst Peter Krapotkin, der im nahen Brighton greis und grau und zurückgezogen lebt, ebensowenig eine Rolle wie Karpowitsch, der durch seinen tödlichen Schuß gegen den Kultusminister Bobolepow den Anstoß zur russischen Revolution von 1901 gegeben und jetzt als Masseur in London eine bürgerlich einwandfreie Existenz gefunden hat. Anläßlich des hundertsten Geburtstages von Bakunin sprach Urvater Tscherkessow in einem anarchistischen Meeting und erzählte von seiner Jugend, von der Revolution und wie er – 1848 – an der Seite Bakunins auf den Barrikaden Dresdens gekämpft hatte.
Zu den christlichen Stammgästen des jüdischen Winkelcafés von Whitechapel Road gehören Journalisten, die aus Fleet Street hierhergesandt sind, gleichsam als auswärtige Korrespondenten der Londoner Weltblätter für die Vorfälle des Whitechapeler Gettolebens.
Im Bohemecafé darf der literarische Kellner nicht fehlen. Zwar verfügt er nicht über eine Armee von Zeitungen, aber dafür ist der »Waiter Jow« im Kreise der Autodidakten eine angesehene Persönlichkeit, eine Instanz in Fragen der Wissenschaft. Denn Master Jow ist ein studierter Mann, er war in Bern Hörer der Philosophie, kam nach London, um seine Studien fortzusetzen, hatte kein Geld, wurde Kellner und blieb es. Und niemand im Whitechapeler Café Größenwahn kann wissen, ob er seine Stammgäste verachtet oder beneidet, die die weltgeschichtliche Unstetheit des Judentums mit der nervösen Heimatlosigkeit des Bohemiens vereinen.