Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Ada Kaleh, Insel des Islam

Die Trauer des kleinen Ujházi wird noch bitterer, da er vergeblich auf der Landkarte nach Ada Kaleh sucht und sein Lehrer Christopolos ihm sagt: »Die Insel, auf der du wohnst, Joán, steht nicht auf der Karte.« Um so schmerzlicher empfindet es der Knabe, der Held von Bangs »Die Vaterlandslosen«, wenn ihn die Straßenjungen von Orsova wegen seiner Heimatlosigkeit verspotten.

Nein, Ada Kaleh ist auf dem Globus und auf den Landkarten nicht verzeichnet. Kaum zwei Quadratkilometer – das ist ein zu kleines Gebiet für die große Geographie. Nicht aber für Politik und Krieg. Es ist ein Fleckchen Erde, exponiert wie kaum ein anderes. Der vorgeschobene Posten des Balkans.

Hier stießen drei Staaten zusammen: Ungarn, Rumänien, Serbien. Der Schnittpunkt der Grenzen aber war ein Stückchen türkischster Türkei, lag im Strome des Christentums als Insel des Islam. Nicht nur bildlich der Strom, nicht nur bildlich die Insel: die Donau schützt das Stück Orient um und um mit starken Wellen, und als ob sie die okzidentale Gefahr von dem Eiland in möglichst weiter Distanz halten wollte, hat sie sich hier, zwischen ihren Stromengen von Kazan und dem Eisernen Tor, eigens zu einer Breite von neunhundert Metern gedehnt. Genau in der Mitte liegt Ada Kaleh, die Festungsinsel.

Denn seit dem Mittelalter war hier eine Festung, auf der die Fahne des Propheten wehte; als Gibraltar der Donau beherrschte sie die Wasserstraße, versperrte sie den Zugang zum Morgenland. Noch steht das alte solide Gemäuer, aber die Kultur, die sich in der Erfindung kriegerischer Neuerungen erschöpft, hat den Zinnen und Türmen die Macht genommen, und nur mit Neugierde, nicht mehr mit Schrecken sah das zwanzigste Jahrhundert auf die putzige Bärbeißigkeit der greisen Zitadelle.

Der Weltkrieg modernisierte dieses unzeitgemäße Idyll. Mit Schützengraben, Stacheldraht und Maschinengewehrstand, wie es sich gehört. Siebenundfünfzig Landstürmer vom Königlich Ungarischen Honvéd-Bataillon Nr. 8 wurden beordert, hier die Wacht an der Donau zu halten. Ganz nahe war Lugos, die Heimat, und doch fast unerreichbar weit – Rumänen und Serben konnten jedes Boot mit einem Kanonenschüßchen vernichten; selbst bei Nacht war man nicht sicher – vom Scheinwerfer konnte man ertappt werden. So waren die alten Landsturmmänner eingeschlossen, auf sich selbst angewiesen. In einem Kuhstall, den sie sich gezimmert hatten, melkten sie abwechselnd, sie gruben einen Brunnen, legten ein kleines Kartoffelfeld an. Da sie im Gesichtskreis der Vorposten waren, besorgten sie diese friedlichen Dinge nur nachts. Um die Peinigung der Kreatur zu vollenden, überschwemmte die Donau das Eiland. Die Deckungen standen unter Wasser, und im Wachhaus konnten die Soldaten nicht bleiben, denn die serbischen Patronen zerschnitten dessen Wände wie Butter. In Wind und Wetter mußten sich die armen Kerle auf die Ziegelwälle legen, nur durch eine improvisierte Brustwehr vor Schüssen geschützt. Der Posten der Ostspitze fuhr nach Sonnenuntergang auf einem Kahn über die inundierte Insel zu seinem Standplatz, mit Brot und Speck für einen ganzen Tag versehen; lag er doch in seiner windigen, feuchten Stellung vierundzwanzig Stunden lang – erst bei Anbruch der Dunkelheit konnte die Ablösung heranrudern.

Als die Bulgaren und die Armee Mackensen 1915 das Königreich Serbien besetzten, kamen ruhigere Zeiten für die Insulaner von Ada Kaleh. Touristen fuhren hin wie einst, Kurgäste aus Herkulesbad, die sich die wohlfeile Gelegenheit zum Besuch des Orients nicht entgehen lassen wollten. Der Weg hatte sich freilich verändert. Die Landstraße, die vom Hafen Altorsovas längs der Donau gegen Vodicza und Verciorova führt, war nicht mehr bloß durch das alte Holzgeländer und die Hecke von der Donau getrennt, sondern auch durch dichtverfitzten Drahtverhau. Nahe am Ufer schaukelten Wracks im Wasser, Schleppschiffe, die entweder bei nächtlichen Unternehmungen zusammengeschossen worden oder gestrandet waren.

Die Höhle, von den Fährleuten in die Uferböschung gehackt, ist jedoch keine Errungenschaft des Krieges. Hier haben sie schon immer gehaust, schon in Friedenszeiten, seit Generationen. Sie hocken da in dem Erdloch, brauen ihren Kaffee, wärmen sich am Herdfeuer, spielen Tricktrack und warten auf Passagiere. Winkt einer, so springen der Ruderer und der Steuermann in die Barke und holen ihn über. Es scheint, daß sie nun ununterbrochen stromaufwärts lenken, trotzdem die Inselspitze gerade gegenüberliegt. Sie ist von brüchigen Ziegeln so rot, als umrankten sie Korallenriffe. Warum fahren die Ruderer nicht direkt auf das Ziel los? Warum steuern sie in entgegengesetzter Richtung? Weil sie seit Jahrhunderten wissen, daß aus der Strömung und dieser verkehrten Fahrtrichtung die Verbindungslinie zwischen Abfahrtsstelle und dem roten Inselhafen resultiert. Vertrackt ist die Strömung: bis hierher nordöstlich fließend, nimmt die Donau plötzlich Direktion nach Südosten, und genau, wie sie sich biegt, ist auch die Insel gebogen. Die Kolonie des Halbmonds hat eines Halbmonds Form.

Der Park am Westzipfel ist winterlich kahl; auch die Kastanienallee ist entlaubt. Zunächst (da wir über die Vierecke der verfallenen Festung gehen, in denen Moos und Gras und Ginster wuchern und manchmal ein Springbrunnen schwach ejakuliert) glauben wir in eine ausgegrabene Siedlung der Dazier geraten zu sein. Doch kommen uns Türken entgegen mit rotem Fez samt schwarzer Quaste, weißem Turban, braunem Bart, grüner, goldbestickter Jacke, blauen Beinkleidern mit herabhängendem Hosenboden und gelben Sandalen. Frauen, die so tief verschleiert sind, daß man von ihrer Schönheit nichts sieht als die O-Beine. Bist du's, Scheherezade?

Der Friedhof hat schiefe Grabsteine, blau und golden bemalt, die ornamentalen Lettern durch allerhand Schnörkel noch mehr verornamentalisiert, manchmal ist die Denksäule mit einem steinernen Fez verziert. Das Ewige Licht auf der umgitterten Gruft des Wunderimams Miskin Baba war ein Jahr lang verloschen – jetzt brennt das Lämpchen wieder, Allah sei Lob und Dank. Die Grabstätte des Mustapha Beg wird von den Magyaren in Ehren gehalten: Er hat in stürmischer Nacht durch die tückischen Katarakte von Orsova nach Vidina den Nachen gerudert, in dem der vogelfreie und verfolgte Ludwig Kossuth saß.

Ein Kaffeehaus, Eigentum der Herren Munepé und Omer Ahmed Bechi. Am magischen Holzkohlenherd kann man die Bekanntschaft der Würdenträger machen, die auf der autonomen Insel das Wort führen: Teffik Suleiman Bekket ist Bürgermeister, Polizeipräsident und Postdirektor zugleich, während Osman Niazzi über die mohammedanischen Interessen wacht und sein Gehalt aus Konstantinopel bezieht, vierundzwanzig Pfund monatlich.

Ein Basar. Tabakläden mit goldenem Pursitschan. Enge Gassen, zwischen altersgrauen, morschen Zäunen verlaufend oder an fensterlosen Hinterwänden von Häusern vorbei. Auf daß niemand einen lüsternen Blick in das Innere werfe, wo die Blume des Harems sproßt. Nur die reichsten Türkinnen kauern zeitlebens auf dem Diwan, bis sich die Beine wölben. Die ärmeren helfen ihrem Gatten beim Tabakschneiden, beim Zigarettendrehen, beim Kneten türkischen Honigs und in der Seidenraupenzucht. Auf dem Wall, einem Postament von vier Meter Höhe, steht die Moschee; einst war sie eine Franziskanerkirche, aber seit zwei Jahrhunderten dient der Bau den Muselmanen zum Gottesdienst. Sechsmal am Tage treten sie ein, nachdem sie draußen auf den Majolikakacheln des Schandarwans ihre Füße gewaschen haben. Koransprüche über der mekkawärts gerichteten Nische, Koransprüche auf der Minbarkanzel und Koransprüche auf den Ampeln sind der Schmuck der Moschee. Und: der funkelnagelneue Gebetteppich (fünfzehn mal neun) aus der Fabrik von Haidarpascha, ein Geschenk Abdul Hamids – als Gegengabe bat sich der Sultan nichts weiter aus als den uralten Perser, der schon seit dem Mittelalter in der Dschamih von Ada Kaleh lag. Das Minarett trägt eine Granatwunde; von oben ruft der Muezzin in alle Windrichtungen nicht bloß den Glaubensgenossen auf der Insel, nein auch den Gjaurim in Rumänien, Serbien und Ungarn, die einst die Türkei von hier verdrängt haben, hartnäckig und laut den Protest zu: »Allah ist groß, es gibt keinen Gott außer Allah, und nur Mohammed ist sein Prophet.«

Sie sind noch in Kontakt mit dem Mutterlande: Rachatlokum und Tabak bekommen sie aus der Türkei, und sie zahlen keine Steuer und keinen Zoll für Kaffee und Zucker. Am Skelahmarkt, der drüben in Orsova dreimal in der Woche abgehalten wird, verkaufen sie die ihnen unbesteuert gelieferte Ware. Als die Insel während des Balkankrieges der österreichisch-ungarischen Monarchie inkorporiert wurde, fragten die Magyaren ihre neuen Landsleute mit einem spöttischen Wortspiel: »Adó kell e? – Steuern brauchst du?« Aber die Ada-Kalehsen ließen das Privileg ihrer Steuerfreiheit nicht antasten, und sogar inmitten des Bombardements übten sie ihren Verschleiß aus. Im Zollamt von Orsova, wohin sie nächtlicherweile ruderten, verkauften sie die Waren gleich weiter, die sie dort ausgehändigt erhielten. Auch zum Kriegsdienst wurden sie nicht eingezogen. Erst als die Fahne des Propheten entrollt wurde, zum Dschihad akbar, mußten sich die wehrfähigen Bewohner der Insel »freiwillig« zum Militär melden.

Verfallene Forts, Reste von Contre-Escarpen, Ruinen massiver Torbögen, noch sichtbare Scharniere einstiger Zugbrücken, Schießscharten für Musketen, Laufgräben, Schanzen, Pulvertürme und Geschützstände aus den Zeiten Prinz Eugens durchstoßen erbarmungslos die Orientalik. Es sind nicht die einzigen militärischen Erinnerungsstücke: Auf das Mauerwerk sind Autogramme von Soldaten gekritzelt. Tausende. Seit dem Frieden von San Stefano bis zum Jahr 1919 (da Rumänien von dem Inselchen Besitz nahm) lag hier eine österreichisch-ungarische Besatzung von siebenundfünfzig Soldaten, die alle drei Monate abgelöst wurde; und jeder Wachtposten hat mit seinem Taschenmesser in dieses steinerne Fremdenbuch sein Monogramm oder sein Nationale eingeschrieben, sich die Zeit zu vertreiben und dem Verewigungstrieb des Individuums zu genügen, Lófasz István, Dragotin Jebić, Boul Futulescu und Wladislaw Chrstiwaczki – ganze Generationen. Manche taten es ungelenk, manche gravierten kunstvoll. Aber höher und deutlicher als alle andern Namen steht in weißgetünchten Lettern »KYSELAK« auf der Außenmauer eines Turmes, hingemalt von jenem kleinen Wiener Steuerbeamten, der seinen Namen unbedingt berühmt machen wollte. Wäre er ein großer Wiener Beamter gewesen, so hätte er zu diesem Behufe sicherlich einen Weltkrieg anzuzetteln versucht. Da er aber eben nur ein kleiner Wiener Beamter war, so mußte er sich damit begnügen, seinen Namen auf alle Felsengipfel, auf alle Festungswälle und auf alle Abortwände zu schmieren.

 


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