Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde

Die Verfolger haben Angst vor dem Verfolgten.

Dabei kann es sein, daß die fünfeinhalb Leute, die mit der Bahn zur Jagd hinausfahren, zu spät kommen, erst zum Halali. Denn eine Partie der Jäger und Treiber ist mit dem Auto voraus ins Revier.

Die fünfeinhalb sind der Sukkurs und sollen ganz unauffällig folgen. Vor der Halle des Franz-Joseph-Bahnhofes stehen sie auf den Stufen und warten, bis sich die linke der drei Türen öffnen wird. Sie haben nichts zu tun als so, als ob sie einander nicht kennen würden.

Solcher Müßiggang fällt ihnen sicherlich schwer: In Reichweite sind Burschen, die sich – unbefugterweise – zum Koffertragen anbieten und auf ihren Militärkappen ein Flügelrad angeheftet haben, damit sie dem Reisenden Vertrauen einflößen. Die könnt man so schön schnappen, in flagranti, »Beilegung falschen Amtscharakters«.

Wär eh g'scheiter, als da rausfahren, Jagd machen auf aan, was ka Faxen macht . . .

Friedliche Passagiere mit Rucksäcken lassen in ihren Gesprächen Namen von Dörfern und Adressen von Bauern fallen, bei denen man gegen Wäsche oder Schmucksachen oder gar bloß Geld Butter eintauschen kann und Kartoffeln und Eier. Sonst würden solche Angaben auch die fünfeinhalb interessieren, denn auch Detektive der Polizeidirektion Wien haben eine Frau, die es ihnen unter die Nase reibt, wenn der Nachbar Lebensmittel nach Hause bringt . . .

Wär eh g'scheiter, als da rausfahren . . .

Sie lassen es sich nicht anmerken, daß sie Jagdfieber haben, Angst vor dem Wild. Aber man erkennt ihre Angst daran, daß sie sich nichts anmerken lassen wollen. Die Virginia in ihrem Munde verlöscht nicht . . .

Endlich öffnet sich die Tür – »Aber net drängeln, meine Hörrschaften, wer wird denn a soo drängeln.« – »Oha, Sö Pimpf, Sö!« –, und man ist vor dem Kassenschalter: »Fahrkartenausgabe zu Lokalzügen bis Tulln«. Auf einem Zettel stehen die Abfahrtszeiten, und gegenüber der Herr Göd des Bahnhofs, der selige Franz Joseph im Krönungsmantel, und hält eine halb eingerollte Staatsbeamtenlegitimation in der Hand, bei deren Vorweisung er nur den halben Fahrpreis bezahlen muß. Zu seinem Glück ist er aus Gips und wird nicht nervös von der öden Drängerei und Warterei, auf die alle schimpfen – bis auf die fünfeinhalb, die einander noch immer nicht kennen und riesig phlegmatisch sind. »I? Gor ka Spur!«

Gerät man zu guter Letzt doch in den Waggon, so ist er gespickt voll, und die Füße frieren. Es ist kein Vergnügen, mit der Bahn nach Sankt Andrä-Wördern zu reisen. Ein Verbrecher wird sie kaum benützen, um so weniger, wenn er Radrennpreise errungen hat. Sicherlich setzt er sich, nachdem er in Wien seine Geschäfte erledigt hat, einfach aufs Rad und fährt entlang der Donau oder über Neuwaldegg, an keine Abfahrtszeit gebunden (keinem Gequetsche und keiner kalten Eisenbahnzugluft ausgesetzt, den Fahrpreis ersparend), nach Hause, nach Andrä-Wördern.

Ob er tatsächlich in Andrä-Wördern wohnt?

Hinter Kahlenbergerdorf, in Klosterneuburg, in Kierling, auf den Dünen von Kritzendorf, in Höflein und Greifenstein ist die Mehrzahl der Hamsterer ausgestiegen, der Eisenbahnwagen ist halb leer, die fünfeinhalb kennen einander schon ein wenig, und man kann den Nachbarn leise fragen: ob's auch wirklich ganz gewiß ist, daß ††† in Andrä-Wördern steckt? Ob's nicht ein Aprilscherz ist? (Wir schreiben heute den 1. April 1919.)

Nein, nein, kein Aprilscherz, wie alle gedacht haben, als sie es heute hörten . . . Diesmal ist es sicher. Vor drei Wochen hatte man erfahren, daß ††† in der Atzgersdorfer Mühle sei; in der Scheuer hatte er seine Werkstätte. »Wie wir hineinkommen in die Scheune – ist sie leer. Wohin er sich gewendet hat, hat niemand gewußt, trotzdem er alle seine Apparate mitgenommen hat. Wir haben in der Umgebung nachgeforscht nach neuen Mietern – umsonst.« Der Waggon hat sich ganz geleert, nur fünfeinhalb Menschen sind noch darin. Man kann einander wieder kennen und ungeniert sprechen. »Erst gestern haben wir erfahren, daß der Breitwieser« – heraus ist das Wort! – »in einer ganz anderen Gegend steckt. In Sankt Andrä, wo das Haus schon hergerichtet worden ist, wie er noch in Atzgersdorf war.«

Und ist das zuverlässig?

»Total zuverlässig! Wir haben schon alles recherchiert. Es ist die sogenannte Käferlsche Villa. Vor zwei Monaten hat sie der Rudolf Schier gekauft, als ›gewesener Holzhändler‹ hat er sich ausgegeben. Achtundzwanzigtausend Kronen war der Kaufpreis. Schier hat sie gleich bar bezahlt, ohne zu handeln, hat alles ausmalen lassen, Möbel sind aus Wien angekommen, und zuletzt ist ein verdeckter Streifwagen abends im Hof abgeladen worden. Es ist klar, daß da die Instrumente darin gewesen sind. Na, vielleicht werden wir's heute schon wissen!« An der Virginiazigarre wird fest gesaugt, obwohl sie gar nicht auszugehen droht.

Glauben Sie nicht, daß er Wind bekommen hat und auf und davon ist?

»Heute früh war er noch da, und die Villa ist bewacht – in allen Nachbarhäusern sind unsere Leute. Wenn er jetzt entwischt ist, muß das viel Blut gekostet haben. Schießen tut er gleich!«

Ja, schießen tut er gleich. Zwei von den fünfeinhalb zeigen Wunden, die sie von Breitwieser haben. »Bevur i hin bin, müssen no a paar Kiwerer hinwern.« Dies sei sein stereotyper Schwur. Beteuern die Kiwerer hier im Zug.

In Wördern steigen fünfeinhalb Leute aus, die einander anscheinend noch nie gesehen haben. Ein Soldat lungert am Bahnhof und kommt mit einem von ihnen ins Gespräch, wobei er ihm so en passant mitteilt, daß er mit einem anderen im Garten des Hauses Lehnergasse Nummer elf Wache zu halten habe. Dann muß der Soldat mal austreten und trifft auf dem Pissoir zwei Zivilisten, die durch ihn erfahren, daß sie sich an den beiden Ecken der Riegergasse zu postieren haben.

Einzeln geht man vom Dorfe Wördern entlang den Weiden, die die Donau und dann den Hagenbach umsäumen, bachaufwärts bis zum Marktflecken Sankt Andrä. Dort oben ist das Wild, ahnungslos, obwohl die Fallen bereits aufgestellt sind.

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Von der Lehnergasse biegt als erste Seitenstraße die Riegergasse ab, eine Linie von Villen, durch Staketenzäune zu einer freundlichen Fassade verbunden. Nummer fünf ist die hübscheste: ein Einfamilienhaus. Die Veranda nimmt die ganze Frontseite ein, durch blaue Glastafeln kommt ihr Licht zu, ohne daß man hineinsehen kann. Wer in das Haus will, muß durch die Türe, die in den Hof führt: das Haustor ist auf der Rückseite. In der Mitte des Hofes steht ein Schwengelbrunnen, an den ein Fahrrad angelehnt ist, links eine Laube und ein Ziergärtchen, rechts ein Holzschuppen. Neben dem Schuppen eine kaum zwei Meter breite Verschalung, mannshoch – der Zaun, der die Breitwieser-Villa vom Haus Riegergasse sieben trennt.

Gegen den Hintergrund zu: eine hohe Planke, hinter der der Gemüsegarten von Lehnergasse elf ist, wohin der Bahnhofssoldat zwei Mann des Sukkurses beordert hat – der Stand, von wo man die Haustüre im Auge hat, den Bau, aus dem man das Wild hervorkommen lassen will, um es zur Strecke zu bringen.

Eindringen, hineinschießen, offen belagern will man nicht. Es würde viele Opfer kosten und viel Zeit, wenn Gefahr gewittert würde.

Desto fester ist das Gehege von der Treiberkette umschlossen. Am Zaun lauern sie, in den Nachbarhäusern, an den Straßenecken. Ein Jagdhund ist dabei. Sie warten, bis das Wild wechseln wird. Ein Mädchen geht in den Schuppen und kehrt, Holzscheite auf dem Arm, ins Haus zurück. Die Verfolger lauern, die den Verfolgten fürchten. Karl Breitwieser, der jüngere Bruder des großen, war schon dreimal im Hof, auch zwei Frauen – Luise Schier und Anna Maxian, ein siebzehnjähriges Mädchen, die Geliebte Johann Breitwiesers, des Einbrecherkönigs.

Nur er selbst, er selbst ist noch nicht ein einziges Mal aus dem Haus getreten. Zwei Uhr wird es, drei Uhr, vier Uhr, drei Viertel fünf . . .

Da – da: »Hände hoch!«

Breitwieser, der sich am Fahrrad zu schaffen machen wollte, zuckt auf. Von hinten, vom Garten schallt die Aufforderung. Er dreht sich um: Auch vom Hoftor her sind Revolvermündungen auf ihn gerichtet. Bleibt nur die Flucht flankenwärts. Ohne Rock, ohne Hosenträger ist er, aber nicht eine Sekunde lang denkt er an Übergabe, jagt davon, mit einem Sprung ist er über dem mannshohen Zaun, die Wirtschafterin der Nachbarsleute, die Wäsche aufhängt, rennt er über den Haufen, will durch das Nachbarhaus auf die Straße, auch hier die Kiwerer, Revolverschüsse krachen, der Verfolgte fürchtet die Verfolger nicht, er reißt seinen Browning aus der Hosentasche, taumelt getroffen; einen Blutstrom verspritzend, springt er in den Schuppen von Nummer sieben und schießt von dort. Von allen Seiten feuert man in die Holzwand, Polizeihund »Ferro« jagt in die Hütte, wirft sein Opfer zu Boden, nun wagen sich auch die Verfolger mit erhobener Waffe hinein. Breitwieser streckt die Hände aus: »Net schießen, i tu eh nix mehr.«

Man nimmt seinen Browning, der neben ihm im Stroh liegt. Schmerzverzerrt tastet Breitwieser nach seinen Wunden. Sie schmerzen, obwohl er weiß, daß er jetzt sterben wird.

Karl Breitwieser, der Bruder, hat sich inzwischen ohne Gegenwehr ergeben. Auch er war im Hof, als das Hands-up-Signal erscholl, sprang in den Holzschuppen, kam aber sofort mit erhobenen Händen hervor. »Nicht schießen!« bat er und ließ sich fesseln, während sein Bruder noch schoß. Die beiden Frauen hatten das Haus von innen versperrt, doch öffneten sie, als die Detektive an den Fenstern erschienen und zu schießen drohten. Einen Überfall aus dem Innern des Hauses befürchtend, schoben die Polizisten den Knaben Karl als Schild vor sich her. Luise Schier und Anna Maxian wurden festgenommen.

Johann Breitwieser wird in die Laube getragen und von dort, da ihn fröstelt, in seine Wohnung; er wird auf den Diwan gebettet, vom Gemeindearzt verbunden und – schon in Agonie – dreifach bewacht im Auto nach Wien gebracht. Die Beute. Halali!

Hausdurchsuchung. Als man in den fensterlosen Teil des Kellers trat, erstarrte man vor Staunen. Hier standen fünf mächtige Kassenschränke – Versuchsobjekte für die streng wissenschaftliche Arbeit in diesem vollkommenen Laboratorium der Technologie; hier lagen Stahl- und Eisensorten, etikettiert und sortiert, zur Materialprüfung; hier waren Hefte und Papiere mit Formeln und Bemerkungen von Breitwiesers Hand; hier hingen in transportablen Schränken Werkzeuge nach der Reihenfolge ihrer Verwendung: Wachstabletten, Schlüsselbunde, Dietriche, Feilen, Schraubenzieher, Brecheisen, Bohrer für Handbetrieb und Schwachstrom, in allen Ausführungen, Größen – Werte von vielen Tausenden. Das meiste: eigenes Fabrikat. Maschinen, Drehbänke, Schraubstöcke, eine Feldschmiede fehlten dem Atelier nicht. Ein autogener Schweißapparat für Hitzeentwicklung von dreitausendsechshundert Grad war vollständig aufmontiert, gebrauchsbereit, die zwei Meter hohe Flasche mit fünftausend Liter komprimierten Sauerstoffs stand daneben.

Oben im Bücherschrank: die technische Bibliothek Breitwiesers; das dreibändige Werk »Der Maschinenbau« von R. Georg, »Das Buch der Technik« von G. Neudeck, Bände der autotechnischen Bibliothek, »Räder und Felgen« von Schmidt und die Bücher »Die autogene Schweißung«, »Stahl und Eisen« . . .

Diese sachlichen Werke hatte Johann Breitwieser, Einbrecher, Gewalttäter und gewesener Markthelfer, ununterbrochen gelesen und nach ihnen seine exakten chemischen und technologischen Versuche gemacht. Ein Mann der Tat, des Mutes, des Ernstes und der Intelligenz – schade, schade, daß er ein Gewerbe gewählt hatte, das schwierig und gefährlich ist und letzten Endes nichts einbringt als den Tod von der Hand der Verfolger, die den Verfolgten fürchteten!

 


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