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Freunde, ich bin euch so nahe! Wenn ihr das Fenster öffnen würdet, könntet ihr mich rufen hören. Ihr könnt mich nicht sehen, aber ich sehe euch. Oh, was sehe ich nicht alles!
Freunde, ich bin euch so fern! Bei den Feuerwächtern sitze ich, dreihundertdreiundvierzig Steinstufen hoch, das Ausgedingsstübel der taubstumm gewordenen und auf Krücken gestützten Bummerin ist tief unter mir, tief unter mir ist die Galerie, von der vor dreihundert Jahren Starhemberg nach den Polen und 1848 die Freiheitskämpfer nach den ungarischen Bundesgenossen ausschauten.
Ein Turmverlies wie nur eines. Achteckig, spitz gewölbt, düster trotz der Himmelsnähe, eiserne Falltüre im Boden, Säulen, Kanonenkugeln aus der Türkenzeit. Hier muß es gewesen sein, wo Johannes Buchsbaum, der Baugehilfe, in das Zimmer seiner Verlobten sah, die nun bald sein eigen werden sollte, denn der Turm war vollendet; aber da er heißen Herzens ihren Namen ruft, der auch der der Gottesmutter ist, steht auch schon der Leibhaftige vor ihm und stürzt ihn aus dem Fenster; hatte ihm doch Hannes geloben müssen, keines Heiligen Namen zu nennen, wenn ihm Satanas beim raschen Bau des Turmes helfe.
Hierherauf kam Meister Tod, nahm dem greisen Türmer den Glockenstrang aus der Hand, die nicht mehr die Kraft verspürte, die Bummerin zu schaukeln: Der Tod läutete selbst zur Vesper und dann – das Sterbeglöcklein.
Und hier kegelte er mit dem Türmergesellen Lukas Nimmergenug und wettete, alle neune zu schieben. Lukas, schlau zu sein, warf einen Kegel aus dem Fenster. Der Tod schob die Kugel, die acht Kegel fielen, und als neunter wurde Lukas getroffen, daß er aus dem Fenster flog und zerschmettert neben einem zerschmetterten Kegel gefunden wurde.
Seit fast fünf Jahrhunderten hausen hier oben die Feuerwächter. Von der Wölbung hängt ein verrosteter, verstaubter Trichter herab, zwei Meter lang, das Sprachrohr, durch das man einst die Feuersbrünste angezeigt hat. Später trat eine hohle Messingkugel an die Stelle des Sprachrohres; die Hülse, in die man die Kugel mit der Meldung warf, führt noch jetzt von der Wächterstube an der Außenwand des Turmes bis in die Mesnerwohnung.
Heute ist die Einrichtung weniger primitiv und will auch nicht zur Kulisse passen. Zwei Telegrafisten von der städtischen Feuerwehr, hechtgraue Jacken, rote Egalisierung, silberne Rosetten, sind die Turmwächter. Statt des Sprachrohres versieht ein Telegrafentisch mit Radialleitung und zwei Telefonen den Meldedienst, und der Morsetaster des Senders, das Relais unter Glas, die Bussole, der Schreibapparat und die Korrespondenzglocken nehmen dem Gewölbe viel von seinem mittelalterlichen Gepräge. Ein Fernrohr ist da und ein Toposkop mit Tabellen in vier Büchern, für je ein Fenster ein Buch, in dem jede Straße und jeder Berg und jedes wichtige Gebäude sofort nach den Objektsgraden und Seitengraden festzustellen ist, die der auf den Feuerherd gerichtete Apparat zeigt.
Die beiden Wächter, die einander während ihres vierundzwanzigstündigen Dienstes abwechseln, haben Tag und Nacht einen ununterbrochenen Rundgang durch das Turmgemach zu vollziehen. Vom Ostfenster zum Nordfenster, von dort zum West- und dann zum Südfenster ad infinitum. Zwei Minuten lang muß der Feuerwehrmann aus jedem Fenster schauen und hierauf das Kontrollsignal der Stechuhr geben. Nur eine Konstatierung, Brand oder verdächtiger Rauch, darf das Ringelspiel unterbrechen. Solche Beobachtungen hat er zu melden. Nicht in so schön gesetzten Worten, in denen sich ihr Berufskollege Lynkeus über das Schadenfeuer der Philemonschen Hütte verbreitete, sondern knapp: »Großer Feuerschein sichtbar, Richtung Groß Enzersdorf!« oder »Dachfeuer Brigittenau, Wallensteinstraße bei Rauscherstraße!«.
Beim heutigen Stande des Feuermeldewesens ist es allerdings die Regel, daß zuerst die Feuerwehrzentrale von dem Brande erfährt, und sie verständigt in derselben Minute das Observatorium von St. Stephan; von hier aus wird nun über die Ausdehnung des Brandes bis zu seiner schließlichen Löschung berichtet, damit die Zentrale wegen Absendung von Verstärkungstrains, Spritzen und so weiter Richtlinien habe. Ebenso wird die beabsichtigte Vornahme größerer Verbrennungen von Stroh oder Reisig oder verwelkter Kränze auf den Friedhöfen, Schmelzungen in Gießereien, Nachtarbeiten bei Fackellicht auf den Bahnhöfen, Ausbrennen von Fabrikskaminen und Sonnwendfeiern hierher gemeldet, damit nicht überflüssig alarmiert werde.
Nach vier Uhr nachmittags darf kein Besucher mehr auf den Turm. Bedauerlicherweise ist es nicht einmal Grillparzer geglückt, eine Nacht unter dem Turmknauf Sancti Stephani zu verbringen, vielleicht weil er zur Zeit dieses Wunsches zwar schon ein berühmter Autor des Theaters an der Burg, aber noch lange nicht k. k. Hofrat war. Es ist auch zu bezweifeln, daß jemand vor- oder nachher den Passionsweg bis zu Ende gegangen wäre, der zur Bewilligung der abendlichen Turmbesteigung führt. Der Mesner weist an die Turmwächter, die Turmwächter an die Feuerwehrzentrale, die Feuerwehrzentrale an das Pfarramt, das Pfarramt an das Kirchenmeisteramt und das Kirchenmeisteramt an das Chormeisteramt, und jeder, dem man sein Anliegen vorträgt, ist maßlos verwundert und kennt keinen Präzedenzfall, nach dem er sich richten könnte.
Und doch gibt es kein ergreifenderes Erlebnis, als mitten in der Stadt zu sein und so hoch über ihr, ihr in das Herz und in den Kopf zu schauen, zu sehen, wie sie ihr Abendkleid anlegt oder ihr Nachthemd, wie sie wirkt im Glanz der Lichter und in der Dunkelheit.
In jedem der vier Fenster ein anderes Gemälde, ein anderes Sujet, eine andere Farbentönung. Phantasien von Dächern, Giebeln, Kuppeln, Straßen, Mauern, Bergen, Wäldern sind in launischen Perspektiven auf eine grenzenlose Leinwand gepinselt, und im Vordergrund greifen Fialen, Kreuzrosen, Krabben, Wimperge und Wasserspeier nach dem Bild, um es in den grauen Steinrahmen zu pressen, der das Fenster ist und dessen Rippen jede Landschaft in ein Triptychon verwandeln.
Sechs Uhr abends ist es, Ostfenster. Die Landstraßer Hauptstraße, der Stadtpark und die Häuserlinie längs der Wien und die Donau beim Praterspitz, die Praterauen, die Schleppschiffe, die Einsegnungshalle des Zentralfriedhofs, die Ausläufer der Kleinen Karpaten, Thebener Kogel, Braunsberg, Schloßberg bei Hainburg und Hundsheimer Kogel – all das ist schon von der Sonne verlassen, nur Grecosches Grau und Gelb sind die Töne.
Aber dafür blinkt und glitzert es in das Westfenster, daß die Augen geblendet sind. Die Sonne steht zwischen Steinhofer Kuppel und Eisernem Rathausmann auf dem Himmel, der ganz Sonne geworden ist, nein, nicht bloß der Himmel, alle Kirchenkreuze, die Glasur der Farbenziegel auf dem Dom, die Mansardenluken, die gläsernen Lichthofdächer, die Porzellanhütchen auf den Isolatorenanlagen, alles ist rotgolden. Das währt, bis der Wienerwald, den man vorher nur als dunkelgrüne Fläche sah, ein Gewirr von Details geworden ist, von Bäumen, Bäumchen, Ästen und Zweigen, die lodernd in Brand stehen. Dann verlöschen sie, nur ein zackiges rotes Gebirge auf dem Himmel ist die letzte Spur der Sonne, die Spitzen glätten sich zu Kuppen, die Kuppen flachen sich ab, sinken, und es ist Nacht.
Auch im Süden sind nun die roten Brände gelöscht, die ich erschreckt in allen Fenstern gesehen hatte.
Nachbar Turmfalke stoppt ab, gleitet in seinen Hangar: die Fensterrose unter mir.
Auf den Straßen, auf den Fahrzeugen, auf den Plätzen, in den Häusern erscheinen Lichter, da eines, dort zwei, bewegen sich voneinander, zueinander, reihen sich zu Geraden und Kurven, Lücken klaffen aber noch, unharmonische, unproportionierte Intervalle, bis auch sie ausgefüllt sind und alles eine Intarsia ergibt von gigantischem Ausmaß. Die Fenster sind gelbe Rechtecke, die Trambahnen rote Scheiben, die Straßen, die radial gehen, Praterstraße, Kronprinz-Rudolf-Straße, Reichsbrücke, Kagraner Reichsstraße ein einziger, ununterbrochener, leuchtender Strich.
Man stellt das Fernrohr mit dem Stativ an eines der Fenster, legt das Auge an und dreht; nach rechts oder links, nach oben oder unten, wie man will. Ein Riesenfilm rollt ab, in jedem Fenster eine neue Szene, alles haarscharf, man kann den Titel der Zeitung erkennen, die ein alter Herr in seiner Wohnung in der Alserstraße nur mit Brille lesen kann.
Man sieht, daß die Hose grau ist, die der junge Mann (Untere Donaustraße, dritter Stock) höchsteigenhändig, in Unterhosen am Bügelbrett stehend, plättet, um in einem Nachtlokal als Baron aufzutauchen.
In ein Hotel der Annagasse kommt ein junges Ehepaar, schließt die Tür und fällt sich in die Arme. Fünf Minuten später kommt ein anderes junges Ehepaar ins Zimmer nebenan. Das scheint ein Hotel für Hochzeitsreisende zu sein.
Studenten sitzen vor Büchern, in einem Filmatelier, Ecke Singerstraße und Liliengasse, strahlen Jupiterlampen, in Dienstbotenkammern stricken Mädchen, Familien gehen zu Bett, in der Kunstakademie wird ein Akt gemalt – der Film rollt, solange man Lust hat, das Teleskop zu drehen.
Warum die Leute nicht die Jalousien herunterlassen? Nun, wer am Donaukanal, an der Wien, am Stadtpark, auf einem breiten Platz oder im vierten Stock wohnt, also weiß, daß kein noch so neugieriges Gegenüber ihm in den Topf gucken kann, der glaubt keiner solchen Vorsichtsmaßregel zu bedürfen.
Aber man hat immer ein Gegenüber: die Türmerstube von St. Stephan.