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Der Passagier zahlt in Berlin den Fahrpreis und weiter nichts. Vielleicht macht es ihm zuviel Mühe, noch ein Nickelstück aus der Münzenfülle seiner Tasche herauszusuchen. Zeigt sich ausnahmsweise doch jemand so splendid, einen Sechser zuzulegen, so streckt er die zwanzig Pfennig dem Schaffner hin, ohne sie ihm gleich zu geben, und sagt: »Fünfzehn – ist schon gut.« Der Schaffner salutiert angesichts der in Aussicht stehenden Überzahlung, reicht dem Fahrgast höflich den Schein, nimmt die zwei Groschen entgegen und legt zum zweitenmal die Hand an die Mütze. Die dritte Ehrenerweisung erwartet der munifizente Herr, wenn er sich später zum Aussteigen von der Elektrischen bereit macht. Drei Respektbezeigungen für fünf Pfennig! Das wären bei einem Trinkgeld von zehn Pfennig sechs Grüße, bei einem Trinkgeld von . . . Mir fiel ein, daß man empirisch feststellen müsse: Wie reagiert die Psyche des Straßenbahnkondukteurs auf ein Douceur von ungewöhnlichem Ausmaße, das zum Beispiel mehr als dreimal so groß ist als der Fahrpreis und siebenmal so groß als das Normaltrinkgeld? Auf meinen diesbezüglichen Entdeckungsreisen ins Land der Berliner Schaffnerseele war festzustellen, daß sich erstens eine einheitliche Reaktion nicht ergeben hat, daß zweitens aber nein: es seien hier nur schlicht die nackten Ergebnisse der Fahrten aufgezählt und alle Deduktionen dem Leser überlassen.
1. Ich stieg an der Ecke Potsdamer und Lützowstraße in die nach dem Westen fahrende »76«. Dem Schaffner, der eine Brille trug, reichte ich ein Fünfzigpfennigstück, wobei ich ihm mit der nachlässigen Gebärde des noblen Schenkers bedeutete, den Rest zu behalten. Hätte ihm jemand statt des Fahrpreises von fünfzehn Pfennig zwei Groschen mit dieser Handbewegung überreicht – er hätte sie nicht übersehen. Aber für ein Geschenk von fünfunddreißig Pfennig war sie doch nicht nachdrücklich genug. Er kramte also noch in seiner Ledertasche. Ich mußte zu einer sprachlichen Unterstützung meiner Geste Zuflucht nehmen und bemerkte mit Nonchalance: »Es ist gut.« Der Mann mit der Brille stutzte kaum einen Augenblick. Dann dankte er. Wie dankte er? Er dankte ganz gewöhnlich, er dankte kaum für fünf Pfennig! Anscheinend vermutete er, einen zerstreuten Menschen vor sich zu haben . . . Er ging während der Fahrt noch oft an mir vorbei, aber die Brillengläser würdigten mich keines Blickes. Als ich an der Gedächtniskirche ausstieg, gab er das Abfahrtssignal, ehe ich das Trittbrett verlassen hatte.
2. Von der Uhlandstraße fuhr ich zum Belle-Alliance-Platz. Auf der hinteren Plattform blieb ich stehen. Ich zahlte mit einem Markstück. Der Schaffner tropfte in meine ausgestreckte Hand fünf Groschen und wollte mir rasch weitere drei Zehnpfennigstücke hinzählen, um erst dann, bei dem letzten Sechser, die aus dem Unterricht der Physik und vom Zahlkellner her bekannte gleichmäßig verzögerte Bewegung eintreten zu lassen. Ich begnügte mich, nach Erhalt der fünfzig Pfennig die Hand zur Faust zu ballen und in die Tasche zu stecken. Der Schaffner wartete eine Sekunde. Als jedoch meine Hand nicht hervorkam, sagte er (mit etwas mürrischem Unterton): »Sie haben noch zu kriegen.« – »Es ist gut.« Aber er war beharrlich: »Sie bekommen noch fünfunddreißig Pfennig.« Ich nickte und winkte ab. Da trat er einen Schritt zurück, straffte seinen Körper in Achtungsstellung, legte die linke Hand an seine Hosennaht und die rechte an seine Mütze. Dann rief er mit lauter Stimme (als ob er mindestens die Haltestelle »Potsdamer Platz« auszurufen hätte): »Danke sehr!« Die Mitfahrenden wurden auf mich aufmerksam. Ich aber machte, ohne eine Miene zu verziehen, ein unsagbar dummes Gesicht, um nicht zu verraten, daß mich diese Ovation berühre. Von diesem Moment an war für den Schaffner nur ich auf der Welt. Nie ging er an mir vorbei, ohne in seinen Blicken Devotion, Dankbarkeit und Demut auszudrücken, und als ich mir eine Zigarette anstecken wollte, rannte er aus dem Wageninnern heraus, um mir Feuer zu geben. Am Belle-Alliance-Platz half er mir aus dem Wagen wie einem Krüppel.
3. Ob ich im E-Wagen der ABOAG eine so auszeichnende Behandlung erfahren würde, wußte ich nicht, zu viele Kavaliere fahren kurfürstendammwärts. Daher entschloß ich mich, die Versuchssumme zu erhöhen. Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, stieg ich ein. Im Fond des Autobusses nahm ich Platz, dos à dos mit dem Chauffeur. Neben mir saß ein hübsches Mädchen mit Pagenfrisur und ebensolchen Beinen. Bei der Kurve am Brandenburger Tor stieß ich sie ein wenig an und entschuldigte mich. »Bitte«, sagte sie sehr nett, »nichts geschehen.« Anknüpfungsmöglichkeit war also gegeben. Im selben Augenblick kam der Schaffner, ich gab ihm einen Einmarkschein und ließ mir – trotzdem er mich laut darauf aufmerksam machte, daß es ja eine Mark gewesen – nichts zurückgeben. Was geschah? Er dankte zwar, allein mit einem sarkastischen, verständnisinnigen Lächeln, das auch das Mädel an meiner Seite streifte, als ob sein Dank mehr diesem als mir gelte. Die Leute gegenüber lächelten gleichfalls maliziös, und nur meine Nachbarin blickte halb unwillig, halb verächtlich vor sich hin. In allen war derselbe Gedanke: Der Esel glaubt der Dame zu imponieren, wenn er achtzig Pfennig Trinkgeld gibt. Und die Kleine dachte noch dazu: Wenn man nicht anders imponieren kann! Und außerdem freute sie sich im voraus darauf, daß sie abends ihrem Gustav von dem dummen Kerl erzählen wird, der auf sie Eindruck zu machen glaubte, indem er im Autobus achtzig Pfennig Trinkgeld gab. Und der Gustav wird sie noch heißer lieben, weil er sieht, zu welchen Mitteln die Herren greifen, um sie zu gewinnen. Mich wird er verachten und sich vor seinen Kameraden brüsten, ihnen die Geschichte von dem Fatzken im Omnibus zum besten gebend. Die werden den Spaß weiterverbreiten, und morgen kann ich nicht mehr auf die Straße gehen, denn sonst zeigt jemand mit den Fingern auf mich und ruft: »Das ist der Fatzke aus dem ABOAG.« Fürwahr, ich habe mich um achtzig Pfennig unsterblich lächerlich gemacht! Eigentlich für fünfundachtzig Pfennig – denn ich schämte mich so, daß ich sofort ausstieg. Hinter meinem Rücken, das fühlte ich, verstärkte sich das Lächeln zu einem Lachen.
4. Um halb sieben Uhr früh fuhr ich aus der Seestraße im Norden, aus der Gegend, wo die Arbeiterhäuser stehen, der Friedrichstadt zu. Greise, Männer, Burschen in blauen Blusen, nur durch mehrfach um den Hals geschlungene Flanellschals vor der Kälte geschützt, Frauen und Mädchen mit Kopftüchern saßen mit mir in der Tram. Die Gesichter waren verschlafen, Unwille lag auf ihnen, der Unwille, aus dem wenigstens animalisch erwärmten Bett in den Frost der Straße, aus der Ruhe in harte Fron zu müssen. Der Wagen war vollgepfercht, alle Fahrgäste kannten einander, sie waren aus derselben Straße, manche vielleicht aus demselben Haus, und allmorgens fahren sie gemeinsam in die Fabriken. Die Blicke, die mich streifen, gelten einem Fremden, der hier nichts zu suchen hat, einem Eindringling. Und nun kommt die Szene mit meinem Fünfzigpfennigstück, von allen beachtet: Der Schaffner, der vielleicht auf dieser Strecke zu dieser Stunde noch nie einen Pfennig Trinkgeld erhalten hat, dankt mir vernehmlich, und ich zweifle nicht daran, daß er mich mit seinem Leben verteidigen würde, wollte man mich als mehrfachen Raubmörder festnehmen. Aber die Menschen im Wagen flüstern und tuscheln mit Seitenblicken auf mich, vielleicht fassen sie mein Experiment als Verhöhnung auf, vielleicht beneiden sie mich, weil sie glauben, daß ich, nicht ganz bei Besinnung, nach einer tollen Nacht eben heimkehre, während sie in die Werkstätte fahren, vielleicht hassen sie mich als einen Reichen, dem das Geld nichts bedeutet, während sie es mühsam erwerben müssen. Und mein Scherz kommt mir hier selber besonders deplaciert und töricht vor.