Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Heringsfang

Nirgends ist man so rückständig in der Technik des Fischfangs wie an der pommerschen Küste, und am allerrückständigsten sind die Leute von Rügen. Seit dem Mittelalter wird das Gewerbe auf gleiche Art ausgeübt. Nicht einmal Dampfer verwenden sie. Angeblich können in diesen Ostseewinkeln, da das Meer zu seicht, der Boden zu steinig ist, keine Dampfschiffe fahren. Mag sein! Warum aber haben sie keine Motorboote, die ihren aufreibenden Kampf mit der Flut mildern würden, warum benützen sie kein einziges der modernen Fanggeräte, das ihre Einnahmen erhöhen würde?

Inselbewohner sind immer konservativ. Doch unten im zackigen Südosten Rügens, auf der Halbinsel der Insel, lebt das in sich geschlossenste Volk. Im Juli, im August sind Sommergäste da, aber die Leute auf Mönchgut lassen sich von ihnen kaum stören. Sie bebauen ihre kleinen Äcker, sie weiden ihr Vieh, sie bessern ihre Boote aus und mähen das Gras. Nur die Jungen wollen zeigen, daß sie keine Hinterwäldler sind und daß sie mit dem Fortschritt gehen: Sie haben die altvorzeitliche Mönchguter Volkstracht abgelegt und tragen jetzt – wenigstens am Sonntag – lange städtische Hosen, ein Trikothemd und einen neuen Strohhut aus einem Greifswalder Geschäft. Zeitig morgens an den Wochentagen, so gegen drei Uhr, fahren die Fischer hinaus zu ihren Fangkörben: auf die Heringsjagd. Etwa zwölf Männer eines Dorfes bilden eine Reusenkompanie, eine behördlich eingetragene Genossenschaft. Die Mitgliedschaft vererbt sich vom Ahnen auf den Enkel, nur wenn einer der Genossen ohne Erben stirbt, kann man sich einen Anteil kaufen. Jeder der zwölf hat sein Ruderboot mit Namen und Ortsbezeichnung, gemeinsames Eigentum aber sind die zwei großen Segellogger, in denen die Jagdbeute zum Verkauf nach Greifswald, Lauterbach oder Stralsund gebracht wird. Vom Erlös jeder dieser Verkaufsfahrten werden drei Mark für die Kassa zurückbehalten: das ist der Fonds, der zur Instandhaltung der beiden Segler und zur allfälligen Anschaffung eines neuen dient. Gemeinschaftsbesitz sind auch die Reusen, die oft einen Wert von mehr als zehntausend Mark repräsentieren. An den Winterabenden knüpfen die Fischer und ihre Frauen und Kinder neue Netze und bessern die alten aus. Im Frühjahr sind die Vorarbeiten beendet, das Strickwerk fertiggestellt, Buchenstämme im Granitzer Forst gefällt und nun im Meer verankert; die senkrechte Netzwand wird zwischen diesen Pfählen ausgespreizt und am Ende dieser kilometerlangen Hürde in großem Polygon die eigentliche Reuse gelegt, eine Falle, deren Basis von platten Steinen auf dem Meeresgrunde festgehalten wird, während große Korke die Seitenwände bis zur Oberfläche straff spannen. Jetzt müssen nur noch die Heringe kommen: Das Wehr aus Netzwerk versperrt ihnen den Weg, und sie schwimmen daher die geknüpften Fäden entlang. Wir sind schlau, denken sie, wir gehen euch Menschen nicht ins Netz! Und die Menge bewegt sich im Flankenmarsch, bis die Bahn frei ist. Nun machen die Heringe die Wendung in die ursprüngliche Richtung ihres Zuges. Doch sie können nicht weiter. Das, was sie für das Ende des Hindernisses gehalten haben, ist die Einkehle des riesigen Sackes, aus dem es kein Entrinnen gibt: Die enge Trichtermündung, durch die sie hineingeraten sind, finden sie nimmermehr, und auch durch die Maschen kann man nicht entschlüpfen.

Mit einem Reusenball feiert man im Gasthof des Ortes die beendete Vorarbeit; Tanz, Musik, Speisen und Getränke sind unentgeltlich – alle Kosten tragen die armen Heringe, die verzweifelt in der Umschlingung zappeln, während man es sich hier wohl ergehen läßt.

An jedem zweiten Tag wird nun, vom Hochsommer bis zum Beginn der Laichzeit, die Reuse hochgezogen und ausgenommen.

Vor drei Uhr morgens geht ein Mitglied der Kompanie von Haus zu Haus, seine Genossen wecken. Wenige Minuten später stapft ein Dutzend Männer durch das Dorf. Über der Schulter tragen sie ihre Wasserstiefel, eine Hose aus Dreileinen von übermäßiger Breite und ein Netz, in dem sie einen kleinen Teil der Beute für den eigenen Mittagstisch heimbringen. Auf Grashalme, Ähren und Zweige sind Perlenschnüre gelegt. Kein Huhn gackert noch, kein Karren rattert über den Weg, der Sand ist weiß und weich, dämpft die Schritte bis zur Lautlosigkeit. Alles scheint den Frieden einer Landschaft Claude Lorrains zu atmen. Aber über die Felsenränder der Landzunge brüllt ein einziger, endloser Schrei: Es ist das Meer, das sich in Erinnerung ruft. Wir gehen durch das Paradies, und schon meldet sich die Sintflut.

Der Ralliierungsplatz am Strand ist leicht erkennbar: Hunderte von morschen Buchenstämmen (alte Reusenpfähle) sind hier aufgeschichtet, ein Signalmast, ein langer, grobgezimmerter Tisch mit zwei Bänken steht daneben, die bauchigen Ruderboote liegen an erhöhter Stelle und hinter eingerammten Pflöcken.

In Schießbuden gibt es einen Zelluloidballon, den ein Wasserstrahl in die Höhe treibt: so balanciert jetzt die Sonne über den Wellenbergen. Tropfen wirbeln über die Düne. Manche Woge züngelt ins Land. Alpengipfel und Gletscherspalten entstehen vor unseren Augen, und vor unseren Augen zerspellen sie tausendfach. Eine Minute lang, zwei schauen die Fischer auf die Unendlichkeit der Unruhe. Vorgestern sind sie nicht ausgefahren, weil es zu stürmisch war. Nach knappem Hin und Wider sind sie einig, daß man heute fahren kann.

Sie setzen sich auf die Bänke, ziehen die leinenen Pluderhosen an und zerren die schweren Wasserstiefel, die sie bislang auf der Schulter trugen, über ihre Schuhe, über die Oberschenkel, bis zum Schritt. Eine Pulle Branntwein macht die Runde und ist rasch geleert.

Alle zwölf heben gemeinsam eine der Jollen und tragen sie hart an den Wasserrand, dann die zweite und die dritte. Je vier Mann stoßen ihr Boot vom Ufer in die See, und während es schaukelt, laufen sie ihm nach, bis zur Hüfte im Wasser, schwingen sich über die Brüstung und setzen Ruder ein. Die Wellen sind stärker – sie haben sich des Spielzeugs bemächtigt und werfen es einander in hohem Bogen zu. Wie große Straßenjungen, die den kleinen ihren Ball wegnehmen.

Die Pfahlanlage der Reusen ist sichtbar, doch kommen wir nicht näher, so angestrengt die Riemen auch arbeiten. Weit vom Ziele ab drängen uns die Wellen, und wir haben nichts als den Trost, daß ein anderes der drei Boote noch viele hundert Meter mehr von der Fahrtrichtung abgetrieben wurde. Die Fischerfäuste halten die Ruder umklammert und dreschen das Wasser, Hiebe rechts, Hiebe links, immer wieder zerren und entreißen sie es den Wogen, bis wir endlich an der geflochtenen Mauer sind. Wir fahren sie entlang, so wie sie der Heringsschwarm entlanggeschwommen war, als er seinen Weg versperrt sah durch dieses Hindernis. Auch wir kommen dann zur Falle. An einem der elf Pflöcke, die in einer Distanz von etwa fünf Metern voneinander stehen, halten wir den Kahn mit den Händen fest und warten auf die anderen Fahrzeuge. Eines schiebt sich an die trichterförmige Öffnung, rudert langsam ein, die Bemannung schließt sie hinter sich und packt den Obersimm, den oberen Rand des Netzes. Inzwischen sind die beiden anderen Jollen rechts und links aufgefahren, und ihre acht Leute ziehen, weit über den Rand des taumelnden Schiffchens gebeugt, die Riesensteine herauf, die den Boden des Käfigs auf dem Meeresgrund festhielten. Man lockert die Spannung der Netzwände, so daß das mittlere Boot immer tiefer in den Bereich der Reuse dringen kann. Zum Schluß berühren sich die Spitzen unserer Fahrzeuge, ein gleichseitiges Dreieck bildend. Von vierundzwanzig Händen wird das Netz emporgezogen. Feine, dreieckige Maschen werden sichtbar. Die Erwartung steigert sich: Wie groß wird die Beute sein?

Kleine Flundern springen empor, dann kleine Heringe, und bald wirbelt ein Heer von fliegenden Fischen durch die Luft. Sie können nicht weiter flattern als über den Bootsrand, mitten in die Jollen. Die meisten stürzen wieder in das Netz zurück. Das wird gegen einen der Kähne geneigt, und Hunderte von Fischen fallen an Bord. Ein paarmal strampeln sie noch mit den Flossen, blaugrünes Konfetti und mattsilberner Flitter stäubt auf, dann schlagen sie noch etlichemal mit der Schwanzflosse auf den Schiffsboden und bleiben resigniert liegen.

Das Netz wird wieder hinuntergelassen und festgeknüpft. Die Fahrt geht zur nächsten Reuse.

Die Kähne biegen sich unter der Last der glitzernden Haufen. Dreißig Wall beträgt die Beute, das sind zweitausendvierhundert Heringe. Ein Aal ist auch dabei. Etwa vier Mark für jedes Wall – kein schlechter Fischzug heute! Freilich: es hat schon Tage gegeben, an denen man siebenhundert Wall bootete. Tage, an denen sich ein Lachs von anderthalb Meter Länge und achtundfünfzig Pfund Schwere in die Gesellschaft der Heringe gedrängt hatte. Aber oft mußte man mit leeren Händen heimkehren.

Einige Heringsbabys sind gleichfalls ins Garn gegangen. Sollen sie ihren Unverstand mit dem kaum begonnenen Leben büßen? Nein, die Männer werfen sie wieder ins Meer, darin sie wohlig schaukeln wie in einer Wiege. Wissen doch die Fischersleute, daß die heute Freigelassenen einst größer wiederkehren werden. Auch Heringe werden durch Erfahrung nicht klug.

Es geht dem Lande zu. Noch ärger schwankt das beladene Schiff, noch höher wird es auf den Kamm der Wellenberge geschleudert, noch tiefer in wäßrige Abgründe gezogen, noch heftiger gerüttelt und geschüttelt als auf der Hinfahrt. Will das Meer seine Bewohner zurück? Die Schiffer, so abgehärtet und so gewöhnt sie an solche Revolution von Wind und Wasser sind, fluchen die saftigsten plattdeutschen Flüche. Ihre Gesichter sind verzerrt, ihre Muskeln gespannt, Ruder und Steuer begegnen dem Aufstand. Nach Stunden steigen sie als Sieger schweißgebadet und müde ans Ufer.

Auf dem Mast wird ein Ballon aufgezogen. Das ist ein Signal und meldet: »Großer Fang.« Die Fischersfrauen im Dorf, die längst nach diesem Zeichen ausschauten, laufen herbei. Sie booten die Heringe aus und breiten sie, sie zählend und ordnend, auf die Düne. Rechts die großen, links die kleinen und in die Mitte jene, deren Jungfräulichkeit man gleich erkennt: die Matjesheringe. Alles wird in Säcke gefüllt. Der Aal und die übrigen Fische, die nicht dem Geschlechte der Heringe entstammen, werden einem Gastwirt verkauft. Überdies behält jede Fischersfrau fünf Heringe, mit denen sie heute ein Whitebait dinner zubereiten kann, wenn sie es nicht vorzieht, ihren Anteil zu veräußern.

Weiberarbeit! Die Männer haben inzwischen die zweite Flasche Korn ausgetrunken und sind ins Dorf gegangen, um zu schlafen. Nur drei von ihnen spannen auf dem Zweimaster die Segel und fahren mit der Beute nach Lauterbach auf den Markt.

 


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