Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Erkundungsflug über Venedig

Das Pferd sprengt über die blaue, nasse Steppe, der Wind spritzt mir den Schaum des Pferdemaules ins Gesicht, kühl treffen mich Klumpen der Reitbahn, von den Hufen aufgewirbelt.

Plötzlich bäumt sich das Roß, die Luft erbebt von seinem Wiehern, einige Sprünge auf den Hinterfüßen, und dann, dann hebt sich der ganze Leib des Hippogryphen von der Erde, seine Flügel straffen sich, und er schwebt mit mir dem Olymp zu.

Um wieviel herrlicher ist es im Flugboot als im Aeroplan! Kein Motor vor mir, der mir seine Auspuffgase in Nase und Augen bläst, kein Propeller verstellt die Aussicht. Weit hinter mir sitzt der Pilot, und über ihm rattert der Druckmotor, und wenn wir niedergehen wollen – wir hätten es nicht nötig, erst lange nach einem freien Feld zu suchen, unser Landungsplatz ist glatt und unendlich und immer bereit. Wo wir auch auf dem Meere niedergingen, das Fahrzeug sprengte weiter mit motorischer Kraft.

Wir fliegen niedrig, nur vierzehnhundert Meter. Ein geripptes Sprungtuch ist unter uns gebreitet: die See. Azurfarben, mit dunkleren Streifen durchwirkt. Über den Stoff jagt ein schwarzes Ungeziefer – unser Schatten. Am Rande liegt eine Landkarte, grell koloriert. Alles sieht beinahe wie wirkliches Land aus, nur vielhundertfach verkleinert, und die Kinderhände haben die nett ausgeschnittenen Kartons zu schräg aneinandergefügt, als daß die Illusion eine vollkommene sein könnte. Dargestellt ist eine Halbinsel von der Form eines gleichseitigen Dreiecks. Es erinnert ein wenig an Istrien; wirklich, so müßte die Karte von Istrien aussehen! Maßstab 1:1400. Die Ähnlichkeit ist so frappant, daß man auf die Projektion eines ins Meer vorgeschobenen elliptischen Städtchens hinuntersieht, ob nicht ein Kreis mit einem dicken Punkt darin und in Nadelschrift der Name »Rovigno« darunter steht. Dann müßte ja gleich die Mündung des Kanals Leme kommen und dann die große Stadt Parenzo und dahinter, an der anderen Dreieckseite, der Tschitschenboden. Auf Ehre, da ist der Kanal, da liegt auch schon die große Stadt, und tief, tief unter uns sehe ich auch das Gebirge. Wahrhaftig, es ist Istrien!

Nur am dunklen Grün erkennt man, wo Zypressen sind, als Nuance bloß unterscheidet sich das Gelb des Kornackers vom Grün des Haferfeldes. Leuchtend durchschneidet die Helle der Landstraßen die Farben. Fischerkähne, an einem Landungsplatz vertäut, sind wie Korallen auf eine Schnur gereiht, das Torpedoboot in Fahrt schaut wie ein Perlhuhn aus mit einem Silberschweif, und nur ein kleiner Milchglassplitter scheint die Segeljolle. Das Schönste aber ist das smaragdene Band, das die Kontur der Küste bildet: Es ist das untiefe Meer, das so glänzt. Wir sehen bis auf den Grund. Der ist pointilliert, die Pünktchen sind Steine und Felsblöcke.

Links und höher fliegen wir. Sagten es uns nicht der Höhenmesser und die Schleimhäute der Nase, so müßten wir es an den Schiffen unter uns erkennen, die so klein waren und nun immer kleiner und kleiner werden. Die Insel San Giovanni di Pelago, ein Felsenriff, auf dem nur ein Leuchtturmwärter mit seiner Familie Platz hat, lassen wir backbords.

Jetzt ist die blaugrüne Grenzenlosigkeit vor uns, Windstreifen durchziehen die Fläche. Sind das Wolken, dort an der Grenze der Sehkraft, oder sind es schon die Gipfel des Apennin?

Unter dem Wasser schwanken Polypen. Wir wissen, daß es Minen sind, doch kümmern sie uns nicht. Nach Minen, U-Bomben und gefahrdrohenden Annäherungen zu spähen ist Sache der Nahaufklärung. Unsere Ziele sind heute weiter gesteckt, wir sind Fernaufklärer. Das Maschinengewehr ist drehbar vor mir und für dringende Verständigung der Radioapparat, dessen Antenne von Bord hinabhängt. Aber meine Hauptwaffe liegt zu meinen Füßen: die Kamera, dreizehn mal achtzehn. Wenn nur der Apparat klappt, ist meine Mission schon zur Zufriedenheit gelöst. Vorausgesetzt, daß ich zurückkomme. Oder wenigstens die belichteten Platten.

Der Pilot gibt Vollgas. Eigentlich noch nicht ganz, bis an die äußerste Grenze des Möglichen schiebt er den Gashebel doch nicht vorwärts, der Motor wird noch für den Bedarfsfall gedrosselt. Wir fliegen mit eintausenddreihundertachtzig Touren per Minute, auf eintausendvierhundert kann man die Tourenzahl erhöhen. Die zwanzig Drehungen sollen uns herausreißen?

Vierzig Minuten lang steuern wir schon gegen Nordwest. Ein langes Eiland wird sichtbar und dahinter eine schöne, schöne Stadt.

Die schmale, waldumsäumte Insel ist der Lido, und auf dem Lido sind Forts. Wir sehen schiefe Stangen, und in der nächsten Minute sind aus ihnen kreisrunde Löcher geworden: senkrecht aufwärts gerichtete Kanonen, die Flugzeugabwehrgeschütze des Forts San Nicolò.

Zwanzig Reservetouren, unsere letzten, schalten wir ein.

Wir sind oberhalb der nördlichen Lidoeinfahrt, vor dem Wellenbrecher. Ein Kind hat Streichhölzchen nebeneinander auf das blaue Tischtuch gelegt. In Wahrheit sind es die Hafenbarrikaden, stattliche Klötze.

Fünfzig Schritt neben und sehr tief unter uns zerplatzt ein brauner Körper in viele, wie die Strahlen einer Fontäne sprühen sie nach allen Seiten. Ich beuge mich steuerbord aus dem Boot. Zehn solcher Springbrunnen wirbeln empor, und aus den kreisrunden Löchern von Nicolò zucken kurze Lichter auf.

Seltsam, kein Laut dringt zu uns. Unten donnern die Geschütze, die Morseapparate klappern das Aviso unserer Ankunft an alle Geschützstellungen, die Venezianer laufen durcheinander, manche verstecken sich vielleicht in bombensichere Unterstände, und Tausende, Tausende schauen zu uns herauf. Wir aber, wir sehen keinen Menschen und hören nichts als das Rattern unseres Motors.

Keine Betrachtungen! Zu solchen Dummheiten ist jetzt keine Zeit. Rechts das Arsenal, die Nordostspitze der Lagunenstadt. Selbst eine Stadt. Rings um das quadratische Bassin graue Särge, die Dächer der langgestreckten Werkstätten, im äußersten Winkel ein durchschnittener Seidenkokon mit der Puppe in der Mitte, ein Trockendock; die verpuppte Raupe ist ein Schlachtschiff, Typ Sardegna; im Becken vor den Scali da Construzioni vertäut: ein Kreuzer, drei Torpedoboote und ein Zerstörer – wahrscheinlich zur klinischen Behandlung nach der Begegnung mit der »Balaton«. Vor den Volksgärten, den Giardini, ankern auch zwei Torpedoboote.

Das krieg ich auf eine Platte. Ich neige die Kamera, ziele gegen Nordosten und exponiere, indem ich den revolverartigen Hahn knipse.

Und schon wendet der Flugzeugführer, der darauf gewartet hat, nach links. Es ist auch höchste Zeit! Vom Lido steigen Landflieger auf. Ein besorgter Blick nach unten: zwei Nieuports, sie sind noch weit und noch tief.

Abschiedsblick nach rechts. Winzige Borstenhärchen am Rande der Riva degli Schiavoni sind friedliche Gondeln, Bekannte aus vergangener Zeit. Vom Campanile sehe ich nur das Dach, aber er streckt mir mit Grandezza seinen Schatten weit ausladend entgegen. Markuskirche, Dogenpalast, Zecca, Bibliothek, Procurazien! Euch sehe ich nicht, ihr glockenschlagenden Riesen auf der Torre d'Orologio; Zwerge seid ihr! Oder habt ihr euch verkrochen? . . . Ein S schlingt sich durch die Stadt: der Kanal.

Seit meiner Aufnahme sind schon fast zwei Minuten vergangen. Nun blitzen aus Fort Santa Elisabetta, ganz nahe an den Stabilimento Bagni, und weiter südlich aus Fort Alberoni die Mündungsfeuer gegen den Himmel, die braunen Wölkchen aus platzenden Raketen fallen ganz nahe. (Zu Hause werden wir sehen, daß die linke Tragfläche ein Loch abbekommen hat.)

Bei der südlichen Hafeneinfahrt in die Lagune, bei Malamocco, photographiere ich zum zweiten Male: Kriegsschiffe, die zwischen dem Littorale di Malamocco und der toten Lagune liegen.

Auf dem Bahnhof, im Bassin für Marinetransporte, ist nichts Besonderes festzuhalten. Ich hebe die linke Hand, und schon macht der Hydroplan eine kühne Kurve, wir flüchten noch tiefer ins Firmament, aber in anderer Richtung: gegen Südosten, heimwärts. Ein dienstlich forschendes Auge schaut nach Chioggia, ein privat besorgtes nach den beiden Eindeckern. Ich schiebe die Mitrailleuse zurecht. Allein die Landflieger dürfen nicht zu weit über das Meer . . .

Nach zwei Stunden führt man das Pferd, dessen Nüstern noch ein wenig beben, in seinen Stall.

 


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