Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Abenteuerliche Schicksale einer Königskrone

Meinem Fenster genau gegenüber steht eine kleine Kapelle maurischen Stils. Einigen Ziegelreihen beließ man ihre rote Naturfarbe, andere Reihen sind vertüncht. So zwinkert der Bau, rot-weiß gestreift, aus dem Rankenwerk hervor, das sich von der Erde bis zum Kuppelkreuz schlingt, sogar jetzt, da es winterlich unbelaubt ist. Auch der Garten ringsum ist kahl, und das Laub liegt so hoch auf seinen Wegen, als wäre seit hundert Jahren niemand hier gegangen. Die meisten Fensterscheiben der Kapelle sind zerschlagen, und man sieht in das blaue Innenlicht. Kein Mensch kümmert sich um Reparatur. Eine Marienstatue mit dem Christuskind ist darin und in der Mitte des achteckigen Raumes eine tief in Erde gebettete Gedenktafel, von einem Gitter umgeben. Selbst wenn man nicht alle Bänke des Gartens zum Schutze vor Frost und Geschützfeuer hier aufgeschichtet hätte, bliebe für die Besucher wenig Platz.

Oft schaue ich aus meinem Zimmer, ob von den vielen Fremden, die Orsova jetzt beherbergt, keiner Lust hat, das Kapellchen von innen anzusehen. Es war noch niemand da. Und doch hat es eine Geschichte, die mindestens so romantisch ist wie die eines berühmten Domes.

In den Märztagen von 1848 hatten sich die Ungarn erhoben, und es dauerte anderthalb Jahre, bevor Habsburg mit russischer Hilfe den Aufstand niederzuzwingen vermochte. Der magyarische Kriegsminister Berthold Szemere flüchtete aus Budapest, und seine Sorge galt weniger seinem Leben als dem Sanktissimum der Nation: Die tausendjährige Krone des heiligen Stephan durfte nicht in die Hände des Feindes fallen! Das Sinnbild der Herrschaft sollten die Wiener nicht haben!

Eine eiserne Kiste nahm die Krone mit dem bei Mohács verbogenen Kreuze auf und die Krönungsinsignien. Szemere kam nach Karansébes. Hier fand er kein geeignetes Versteck. So fuhr er weiter südlich, bis an die Donaugrenze des Ungarlandes. Am 15. August 1849 traf er in Orsova ein und nahm im Gasthof »Zum weißen Lamm« Quartier. Vier andere Flüchtlinge waren noch da, Lorody, Grimm, Hazman und Hajnik. Szemere weihte diese vier Rebellenführer in das Geheimnis ein – aber nicht ganz.

»In dieser Kiste befinden sich alle Akten über unseren Aufstand, die wichtigsten Urkunden der Nation. Helft mir, sie gut zu verbergen!«

Im Hause, das zufällig die Nummer achtundvierzig, die Jahreszahl der Erhebung, trug, mieteten sie ein ebenerdiges Zimmer, gleich links vom Eingang. Dort schlossen sie sich ein und hackten ein Loch in den Boden. In der Nacht vom 17. auf den 18. August holten sie die Truhe, versenkten sie, schaufelten die Erde wieder darüber. Damit die Spuren verwischt würden, machten sie ein Holzfeuer auf diesem Platze. Tags darauf kamen sie in die Kammer, um ihre Arbeit bei Tageslicht zu besehen, und merkten zu ihrem Schrecken, daß jemand nachzugraben versucht hatte. Vielleicht war es nur ein neugieriger Hausbewohner gewesen, aber es schien ihnen doch sicherer, den Eisenkasten anderswo unterzubringen.

Im Norden der Stadt richtet sich ein Berg auf, um auf die Donau hinunterzusehen, nach Serbien und nach Rumänien, nach Siebenbürgen und nach der Wallachei und in das Fenster des Hauses, in dem ich jetzt wohne. Allion heißt der Berg, und zu seinen Füßen ist eine Fläche voll Gestrüpp. Hier mittelten die fünf Verschwörer einen Platz aus und gruben von neuem. Am 20. August, am Tage des heiligen Stephan, führten sie dessen Krone unbemerkt hin und betteten sie in das Erdloch. Wieder beseitigten sie alle Spuren, indem sie die Öffnung zuschaufelten und Pflanzen, Blätter und Äste daraufstreuten.

Dann leisteten sie einander den feierlichen Schwur, niemandem den Verwahrungsort zu verraten. Sollten aber vier von ihnen gestorben sein, möge der Überlebende einem charakterfesten Magyaren das Geheimnis, nach Abnahme des Eides, anvertrauen, damit er es einer verfassungsmäßigen Regierung Ungarns mitteile, wenn es je eine solche geben würde.

Sie setzten ihre Flucht fort. Die rumänische Grenze war nahe. Von dort ging es in die Türkei. Im Auslande sagte Szemere seinen Mitverschwörern die volle Wahrheit, die sie sich ohnedies gedacht hatten: Nicht Schriften waren in der Eisentruhe, sondern Ungarns Allerheiligstes, die Krone.

Es war höchste Zeit gewesen, das Kleinod zu verscharren, denn fünf Tage später trabten Pferdehufe durch die Gassen Orsovas – die Kaiserlichen waren da. Sie forschten nach Kossuth, nach Szemere, nach den anderen. Bald hatten sie negative Gewißheit: die Revolutionäre waren jenseits der Grenzpfähle, außerhalb des Machtbereiches der Monarchie.

Ihre weiteren Recherchen galten jetzt der Krone. Man verhaftete, verhörte, inquirierte. Alles, was man zutage förderte, war, daß nicht Kossuth die Krone nach Orsova gebracht hatte, sondern daß sie wohl in Szemeres schwerer Kiste gewesen war. Aber Szemere war ohne sie über die Grenze entkommen. Also mußte das Stephansdiadem in Orsova geblieben sein.

Wieder Einvernahmen, Arretierungen und Inquisitionen, kein Gebäude ließ man undurchsucht, keinen Garten, keine Scheuer. Eines der ersten, das von oben nach unten gekehrt wurde, war das Haus Nummer achtundvierzig, in dem die Krone nur einen Tag gewohnt hatte. Neun Monate lang durchpflügten Soldaten Tag und Nacht die Umgebung des Städtchens, dann zog der Großteil der Truppen ab, der Rest suchte weiter. Nichts fand man.

Ruhig lag die Krone vier Jahre lang dort, wo jetzt das Kirchlein steht, meinem Fenster gerade gegenüber.

Ludwig Kossuth hatte seine letzte Nacht auf heimatlichem Boden in Orsova am 16. August verbracht, und erst im Auslande erfuhr er von den Verschworenen das Versteck. In den Jahren seiner Verbannung quälte ihn der Gedanke, ob das Juwel noch am alten Orte sei; es schien ihm vor den Nachforschungen nicht sicher. Deshalb sandte er Vertrauensmänner nach Orsova, die sich überzeugen sollten, ob man nicht in gefährlicher Nähe suche; wenn es möglich sei, sollten sie die Kiste ausgraben und über die Grenze schmuggeln. Aber schwarzgelbe Häscher nahmen die Abgesandten fest.

Unter ihnen war Stefan Varga, gewesener Rat im Ministerium des Äußeren. Er wurde zum Ephialtes der Nation: Nach viermonatiger Haft verriet er das Versteck um hundertfünfzigtausend Gulden. (Der Judaslohn geriet ihm nicht zum Segen. Er brachte das Geld bald durch und mußte in der administrativen Verwaltung von Großwardein eine Anstellung suchen, wo er – der Verräter in dieser kernmagyarischen Stadt! – bis zum Obernotär avancierte.)

Am 8. September 1853 exhumierte man den Kronschmuck. Vier Tage lang wurde er in der Kaserne bewacht. Dann kamen kaiserliche Weisungen. Mit ostentativem Pomp überführte man ihn zu Schiff nach Budapest, von dort nach Wien.

Der Kaiser von Österreich ließ 1856 die kleine Kapelle erbauen, an der Stelle, wo die Krone versteckt worden war, wo sie über vier Jahre geruht hatte – nein, an der Stelle, wo man sie gefunden hatte. So heißt es ausdrücklich in der lateinischen Inschrift der Marmortafel, die dort in den Boden eingelassen ist, wo der Schrein war. Diese Gedenktafel führt eine scharfe Sprache. Nur »Austriae Imperator« nennt sich ihr Stifter, nicht auch »Rex Hungariae«. Und von einem »Raub« der Krone ist die Rede: ». . . inter seditionis turbas rapta.« Nicht dem heiligen Stephan, dessen Insignien doch hier lagen und an dessen Namenstag sie beerdigt wurden, ist die Kapelle geweiht – zu Ehren der heiligen Maria ist sie erbaut, an deren Geburtstag der Schatz ausgegraben wurde.

Die ganze stürmische Geschichte ist noch gar nicht lange her. Und doch schon lange. Von demselben Kaiser, dem man die Krone unter solchen Gefahren und Schwierigkeiten entreißen wollte, ließ sich Ungarn eine Verfassung geben, und als er sich gar mit derselben Krone krönen ließ, jubelte die Nation ihm zu.

Für diesen König Franz Joseph sind Millionen von Ungarn in den Weltkrieg gezogen und waren noch begeistert.

Kossuth starb in der Verbannung, und das Kirchlein hat zerbrochene Scheiben und dient als Winterquartier für Gartenbänke. Ich schaue vergeblich aus meinem Fenster, ob nicht doch jemand eintreten wird. Ich sehe keinen.

 


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