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Dorthin, in die Teile Prags, die sich südlich von der Krankenhausgasse und der Katharinagasse bis gegen Slup und Nusle hinunterziehen, kommen die Prager selten. Es ist eine Stadt der Kranken, die sich hier breitet. Die Institute der medizinischen Fakultät, Kranken- und Irrenhäuser halten mit ihren Gärten den ganzen Komplex besetzt. Nur dort, wo die Weinberggasse in die Apollinargasse mündet, scheint die Stadt der Kranken aufzuhören, scheint ein Dorf zu beginnen. Ein freier Platz, der nicht gepflastert ist, und auf dem große Kastanienbäume wachsen. In den Ecken des Platzes wuchert üppiges Gras. Ein steinerner Heiliger, der heilige Adalbert, blickt vom Piedestal seiner Säule friedlich auf die Kinder hinab, die zu seinen Füßen mit Kugeln spielen. Da kommt eine Schar von Mädchen, Hand in Hand, ohne Hut, mit weißen Schürzen des Weges. Wer nicht weiß, daß es Wärterinnen sind, müßte glauben, sorglose Dorfmädchen vor sich zu haben. Alte Männer sitzen vor den Häusern und schmauchen behaglich ihre Pfeife. Und die Häuser sind einstöckig.
Das letzte Häuschen, das von der Adalbertssäule sichtbar ist, das Häuschen, das an das Dorfkirchlein grenzt, ist das Dorfwirtshaus, wie man aus der roten Aufschrift erkennt. Eigentlich sieht diese Hütte selbst für ein Dorfeinkehrhaus zu schäbig, zu verwahrlost aus. Aber was kann man auch für Ansprüche an das Gasthaus eines so gottverlassenen Dörfchens stellen?
Mit der Illusion, in einem Dorf zu sein, ist es freilich aus, wenn man sich in den Wirtsgarten setzt, hart an die niedrige Grenzmauer, und in das Tal schaut, das sich unten in weitem Boden streckt. Nichts weniger als ein ländliches Idyll. Dort oben starren hinter den Pankratzer Feldern die trotzigen Mauern der Strafanstalt herüber, halbrechts recken sich zu den Felsenhöhen des Wyschehrad die riesigen Festungswälle mit den Kasematten hinauf, die Ferdinand von Saars schönster Novelle Schauplatz sind. Oben auf der Höhe des Wyschehrad die Basilika mit dem Kirchhof, auf dem die Tschechen alle die 137 begraben, die sie für groß halten. Unten im Sluper Tal die großen Institute der Fakultäten, dann zwei Hotels, dann Zinskasernen, auf deren Hinterfronten mit riesigen Lettern Firmenreklamen stehen. Überall rauchen Fabriksschlote. Und um das Idyll vollends vergessen zu machen, wird der Blick durch ein markerschütterndes Geschrei in den angrenzenden Garten gelenkt, wo Wärterinnen eine Irre in eine Zwangsjacke zu pressen versuchen . . .
Es ist die Kehrseite Prags, die man hier vom Gasthausgarten sieht. Das Wirtshaus, das diesen Ausblick gewährt, heißt die »Gifthütte«. Wohl nicht deshalb, weil es das andere Prag zeigt. Auch wegen des Bieres führt es wohl seinen Namen nicht. Denn die Bezeichnung stammt schon von altersher und das Bier wurde hier durchaus nicht in Dosen vertilgt, wie sie bei Giftgenuß in Anwendung zu kommen pflegen. Vielleicht hieß es so, weil hier besonders die Mediziner verkehrten, die mit Giften hantierten. Ich weiß es nicht und auch die Chronik der Stadt Prag vermag über die Herkunft dieses Namens keinen Aufschluß zu geben. Die Chronik der Stadt Prag weiß über das Haus Numero Conscriptionis 446–II. überhaupt nichts zu sagen, obwohl es doch im Wechsel der Zeiten so Sonderbares erlebt und so mannigfache Gäste beherbergt hat, wie kaum ein zweites.
In vergilbten Auflagen des Lahrer Kommersbuches findet sich auch ein Prager Studentenlied. Ein Doctor medicinae Keim hat es an einem Maiabend des Jahres 1853, also zu einer Zeit ersonnen, da Deutschlands Musensöhne zu Hunderten nach Prag zogen, wo auf der medizinischen Fakultät zum ersten Male die Kunst gelehrt wurde, die Lungenentzündung ohne Aderlaß zu behandeln. Die in diesem Liede ausgesprochene Sehnsucht
»Auf den Windberg, auf den steinigen,
Möcht' ich zu den Jungfrau'n eiligen . . .«
hat noch in späteren Studentengenerationen wiedergeklungen und allabendlich »eiligten« sie den steilen Windberg hinauf, um hier beim »Jodoform-Kränzchen« nicht zu fehlen,
»Wo zum Tanz die hezká holka
Nach dem Klang der munter'n Polka
Den Primär am Bändchen führt.« 138
Das mit dem »Primär« stimmte. Fast alle Primärärzte der Irrenanstalt und die Assistenten der Kliniken tanzten hier unbekümmert um ihre ärztliche Würde bis längst die Sonne das Nusler Tal vergoldete. Und wenn ein Patient oder eine Patientin in einem der nahen medizinischen Institute der ärztlichen Hilfe dringend bedurfte, dann war sie rasch zur Hand. Brauchte man ja nur hinunter zum Gifthüttenball zu schicken. Von den Tänzern der Jodoformkränzchen sind heute viele Hofräte, zwei sogar wirken als Geheime Medizinalräte an Deutschlands hohen Schulen.
Was den Ausdruck »hezká holka« anbelangt, so ist er im allgemeinen als dichterischer Euphemismus aufzufassen. Die Damen rekrutierten sich aus drei Gesellschaftsschichten: I. Den dienstfreien Wärterinnen der medizinischen Institute, II. den Dienstmädchen der in den Instituten wohnenden Professoren der philosophischen und der medizinischen Fakultät und III. den Hörerinnen der Hebammenkurse, die alle vier Monate abwechselnd in deutscher und tschechischer Sprache im nahen Gebärhause abgehalten wurden. Die Ballgespräche waren medizinischen Geistes voll. Die Wärterinnen berichteten ihren Vorgesetzten und Tänzern über irgendein interessantes Symptom im Krankheitsverlauf eines Patienten der Klinik, und den Professorenköchinnen flüsterte manchmal in vorgerückter Stunde ein Tänzer die verschämte Bitte ins Ohr: »Fräulein, kochen Sie morgen dem Professor ein feines Essen. Ich mache nachmittags Examen.«
Eine Spezialität der Jodoform-Kränzchen war die sechste Tour der Quadrille. Sie zog sich bis tief in den Garten hinaus . . .
Der Gründlichkeit halber sei auch erwähnt, daß außer den drei erwähnten Damengattungen auch einmal eine vierte am Gifthüttenball vertreten war. Das war so: Einige übermütige Mediziner hatten einem eben nach Prag gekommenen Ordinarius erzählt, daß sich allabendlich ein großer Teil der Medizinerschaft in einem nahen »Gifthütte« benamsten Gasthause zum Tanze versammle. Es sei zwar eine ganz ungezwungene Gesellschaft, aber wenn der Herr Professor mit seinen Töchtern den Studenten die Ehre erweisen wolle . . . . Der Herr Professor erwies den Studenten wirklich die Ehre und 139 kam am Abend mit seinen beiden Töchtern hin. Sprachlos blieb er in der Tür stehen. So ungezwungen hatte er sich die Sache doch nicht gedacht: die Herren in Hemdärmeln, die Damen in Schürzen und das Lokal, das einer Verbrecherkneipe viel ähnlicher sah als einem Ballsaal! Aber als die Herren Mediziner auf die beiden Professorentöchterlein zutraten und höflich um ein Tänzchen baten, machten sie und der Herr Papa gute Miene zum bösen Spiel und tanzten. Als später einmal eine der beiden Professorentöchter als Professorsgattin nach Prag kam, hat sie ihr Balldebüt in der »Gifthütte« zum Besten gegeben und hinzugefügt, daß sie sich seither bei keinem Ball so gut unterhalten habe, wie damals bei diesem seltsamen »Medizinerkränzchen«. Wo sie doch die sechste Quadrilletour gar nicht getanzt hatte!
Nicht so günstig wie das Professorentöchterlein hat über die Jodoform-Kränzchen der 70er Jahre der damalige Pfarrer von Sankt-Apollinar – diese Kirche ist nur durch die Kegelbahn vom »Gifthütten«-Garten getrennt – gedacht. Der Pfarrer richtete an den Regierungsrat Professor Weber von Ebenhof, den Bruder des damaligen Statthalters, eine Zuschrift, die eine Philippika gegen die Bälle war und in der Professor von Weber ersucht wurde, er möge den Hebammen den Ballbesuch verbieten. Aber Regierungsrat Weber, der selbst in der »Gifthütte« im Hörerkreis seinen täglichen Frühschoppen trank, legte den Ballbericht ad acta und erließ keinen Boykottbefehl.
Die alten Mediziner wissen allerhand solcher Scherze zu erzählen. Von der Krönung der Gifthütten-Könige, von den Plakaten, die der König affichieren ließ, von Wurstfesten und von Kegelabenden, von medizinischen Dauersitzungen, die so lange währten, bis Frau Schuh nichts mehr ankreiden wollte und von dem Beduinenknaben, den der berühmte Afrikaforscher Dr. Glaser seinem in der »Gifthütte« wohnenden Bruder zur Pflege übergeben hatte und der bald der Liebling der Apollinargasse war. Sie wissen auch davon zu erzählen, daß in der »Gifthütte« in der Zeit, da die Universität noch ungeteilt war, tschechische Studenten mit deutschen Burschenschaftern und Corpsiers manches feuchte Quodlibet gelöffelt haben. Aber dann begann sich das Gift nationalen Hasses in die »Gifthütte« zu verpflanzen, die deutschen Mediziner blieben aus und die tschechischen, die sich 140 nun untereinander streiten mußten, bald auch. Dem Medizinerbeisel fehlten die Mediziner und bloß das Beisel war geblieben. Der Wirt veranstaltete Schrammelkonzerte, aber die lockten keine Katze in das Haus. Wiederholt kam das Gasthaus unter den Hammer und wechselte seinen Besitzer. Heute tanzen am Abend keine Professorentöchter mehr hier, sondern bloß die Dämchen, die auf der nahen Walstatt den schweren Nachtkampf ums Dasein führen müssen. In den neuen Kommersbüchern steht das Prager Lied nicht mehr. Die letzten deutschen Stammgäste scheinen die »schweren Jungens« aus Berlin gewesen zu sein, die von hier aus den Plan zur Befreiung ihres in der Irrenanstalt befindlichen Komplizen ausführen wollten und in der »Gifthütte« festgenommen wurden. 141