Egon Erwin Kisch
Aus Prager Gassen und Nächten
Egon Erwin Kisch

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Café Kandelaber

Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ich so um fünf Uhr früh beim Café Kandelaber mein Frühstück verzehre. Es ist zwar ein famoser Trunk, der 80gradige, mit angenehm im Magen flammendem Rum vermengte Tee, der hier kredenzt wird – aber er bleibt doch nur ein Frühstück, ein verteufelt kategorischer Schlußpunkt nach einer schönen, kaum begonnenen Nacht. Das ist es, was mich grollen macht. Ich bin bös auf die ganze Welt. Es ist aber auch wirklich zu arg mit ihren Einrichtungen. Jedes Schulkind weiß z. B., daß der Erfinder der Dampfmaschine James Watt hieß. Weil dieser beim Brodeln eines Teekessels auf die Idee kam, die Dampfmaschine zu erfinden. Auch schon etwas? Ein anderer Erfinder, der wohl beim Vorbeifahren einer Dampfmaschine, sei es einer Lokomotive oder einer Lokomobile auf die Idee kam, sie als Teekessel zu verwerten, ist keinem Schulkinde bekannt, seinen Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch. Und doch ist die Verwendung der Lokomotive als Teekessel – das »Café Kandelaber« – eine Erfindung, die Hunderten von müden Pilgern im nächtlichen Prag die Wohltat eines aufpulvernden, wärmenden Trankes gewährt. Der Namen eines solchen Wohltäters wird in der Weltgeschichte nicht verzeichnet! Ich muß meinen Groll hinunterspülen.

»Frau Jemelka, noch einen Achtziggradigen, Zwanzigprozentigen um fünf, etwas zum Aufweichen und zwei Retten.«

Frau Jemelka stellt ein Glas unter die Mündung des Messingrohres, dreht den Hahn nach rechts und läßt die Essenz in mein Glas rinnen, in welches nun das heiße Wasser kommt. Dann sucht sie mir eine Mohnbuchte zum »Aufweichen« aus und gibt mir zwei »Sport«. Sie weiß ganz gut, daß mit der Bestellung der Retten – so wird der Ausdruck »Zigaretten« in vorgerückter Nachtstunde abgekürzt – nur »Sport« gemeint sein können, damit die Zeche die runde Summe von 20 Hellern ausmache.

Jawohl, bloß zwanzig Heller! Man zeige mir, bitte, ein Kaffeehaus, wo für dieses Geld ein warmes Frühstück mit 28 Mehlspeise und Zigaretten erhältlich ist. Dabei habe ich noch die feinere Teesorte, die um 10 Heller – nobel muß die Welt zugrunde gehen! – getrunken und »Sport«, statt der billigen und hier bedeutend stärker verlangten »Drama« geraucht.

Frau Jemelka steckt das Zwanzighellerstück in eine Blechbüchse, die ihr als feuer- und einbruchssichere Kassa dient. Zwölf Prozent gehören der »Cafetiere«, die nicht selbständige Unternehmerin ist, sondern eine Angestellte der Kleinschen Likörfabrik vom »Roten Stern« in Karolinental. Das fahrbare Teehaus ist Eigentum der Kleinschen Fabrik und diese liefert die Essenz, die Tee, Rum und Zucker enthält. Den Erlös der verkauften Quanten, abzüglich der Provision von zwölf Prozent, muß Frau Jemelka abführen.

Keine Angst, die gesetzte, ins Pragerische transponierte Geisha kommt trotz alledem auf ihre Kosten. Das ambulante Teehaus, das manchen nächtlichen Passanten nährt, nährt auch seinen Mann. Im Winter kommen die Bettmeider frierend zu dem Teeverschleiß, um sich an dem behaglichen Koksofen zu wärmen, im Sommer aber gibt es zahllose Menschen, welche den im Einkehrhaus »U valšu« zu entrichtenden Logierpreis von 20 Hellern als eine überflüssige Ausgabe betrachten, und lieber in der lauen Luft der Gassen umherspazieren. Die statten dann dem »Café Kandelaber« längere Besuche ab und geben oft dreimal so viel Geld aus, als das Nachtquartier kosten würde.

Außerdem haben die Kandelaber-Cafetiers noch ganz gute Nebeneinkünfte. Wenn irgend ein Neuling kommt – an der Frage nach dem Preise eines Glases Tee ist er erkennbar – dann wird ihm statt der feinen, der 10 Heller-Essenz, die 8 Heller-Essenz gereicht, aber das Greenhorn muß den teuereren Preis bezahlen. Oder wird der Hahn des Kesselrohres zurückgedreht, bevor das vorschriftsmäßige Quantum der Essenz herausgeronnen ist. Wehe aber, wenn der Teemann eine solche Manipulation bei einem gewiegten Bummler in Anwendung bringen wollte! Der weiß ganz genau, daß der rechte der beiden durch ein festes Schloß vor Verfälschung oder Verwässerung durch den Kandelaberwirt geschützte Kessel die teure, der linke Kessel die billige Essenz birgt, und der wacht mit Argusaugen darüber, daß kein Tröpfchen der vorgeschriebenen Essenzmenge im Rohre des Kessels bleibe. 29 Der würde für einen Übervorteilungsversuch Worte finden, die selbst in dem Milieu des Café Kandelaber ihre Wirkung nicht verfehlen würden.

»Café Kandelaber.« Eigentlich haben die gastlichen Lokomotiven, die in der Nacht an den Straßenecken Station machen, offiziell einen anderen Namen. »Ambulance heißer Getränke« steht mit goldenen Lettern auf der Wagenfront. Aber der Ausdruck hat sich nicht eingebürgert. Er trifft auch nicht mehr so recht zu. Freilich ist das Teehaus ambulant, und um die neunte Abendstunde kann man das nicht mehr ungewohnte, darum aber nicht minder seltsame Schauspiel genießen, eine Lokomotive mit einer vorgespannten Dogge durch die Straßen fahren zu sehen. Dann aber bezieht sie ihren Standplatz, den sie jahraus, jahrein innehat, der Hund kuscht sich zwischen den Rädern, und Wagen und Hund rühren sich bis zum Morgengrauen nicht von der Stelle. Früher, vor etwa dreißig Jahren, war das anders. Da fuhr der Teemann durch die Straßen und machte nur auf Anruf eines hungrigen oder durstigen Passanten Halt. Dieses Geschäft, das nur auf dem Zufall einer solchen Begegnung aufgebaut war, rentierte sich nicht. So zogen sich denn die Kandelaber-Cafetiers resigniert an die Ecken der Gassen oder an die Kandelaber der Plätze zurück. Und siehe da! Kaum hatte sich der Planet in einen Fixstern verwandelt, so war er schon beliebt. Da der Berg nicht mehr zum Mohammed kam, da kamen die Mohammedaner zum Berg. Der Ausdruck »Café Kandelaber«, dessen beide Worte so prächtig mit einander kontrastierten, wurde populär und er ist dieser Erfrischungsstelle bis zum heutigen Tage geblieben, obwohl jetzt eine Verwechslung möglich wäre, da sich ein findiger Wirt für sein Nachtkaffeehaus in der Karlsgasse, dessen Stammgäste sich aus denselben Gesellschaftsschichten rekrutieren, aus denen die Gäste der fahrbaren Teehäuser stammen, den Namen »Café Kandelaber« behördlich protokollieren ließ.

Von da ab erfreuten sich die fahrbaren Teehäuser steten Zuspruchs. Die Droschkenkutscher des nahen »Staffels« und der gleichfalls dicht benachbarte Würstelmann polemisierten und pokulierten, bis längst das Licht auf der Höhe des städtischen Kandelabers verlöscht und die Wagenlaterne des »Kaffeehauses« angezündet war. Zu ihnen gesellten sich Nachtvögel verschiedener Gattungen und blieben auch keine kürzere Zeit stehen. Der 30 Teewagen auf dem Altstädter Ring erfreute sich einer so außerordentlichen Beliebtheit, daß sie dem Wirte sogar verhängnisvoll wurde. Hier strömten nämlich zu der Zeit, als noch die Josefstadt nicht assaniert und voll von niedrigen Beiseln war, nach der Gasthaus-Sperrstunde verschiedene Leute zusammen, die hier ihre Affären der Liebe, des Alkohols und des Verbrechens fortsetzten. Das ging gar nicht leise und gar nicht ohne blutige Raufhändel ab. Das »Café Kandelaber« war fast täglich in den Rapporten des Altstädter Polizeikommissariates erwähnt und schließlich verbot man dem Wirt diesen Standplatz. Er durfte den Ring überhaupt nicht mehr passieren und erst als die dunkelsten Häuser der Josefsstadt dem Erdboden gleichgemacht worden waren, durfte er wieder in das gelobte Land einziehen. In der letzten Zeit wird diese Geschichte in den Kreisen der »Kandelaber«-Gäste besonders oft besprochen. Man glaubt, daß durch dieses seinerzeitige Platzverbot ein Präzedenzfall vorhanden ist, der dem Teemann vom Josefsplatz verhängnisvoll werden kann: Man werde ihm diesen Platz verbieten, damit er dem Repräsentationshaus keine Konkurrenz mache.

Es ist fünf Uhr geworden. Schon graut der Tag und dem Leser. Ich muß meine sachlichen Erwägungen schließen, wenn ich noch rechtzeitig zum Five-o'clock-tea ins »Café Kandelaber« kommen will. 31



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