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Eine Minute von der Elisabethstraße entfernt, in der alltäglich Fiaker, Automobile, Straßenbahnwagen, Equipagen und Droschken nach dem Baumgarten hinausfahren, zweigt von der Klemensgasse die Neumühlgasse ab. Sie ist keine Verkehrsstraße, vier scharfe Ecken bildend, kehrt sie zur Klemensgasse zurück. Hier ist nichts mehr von Promenade, nichts mehr von Luxusfuhrwerken zu merken. Nur wenige Passanten bevölkern sie. Abends jedoch sammeln sich hier Gruppen von Menschen an, die des Augenblickes harren, wo sich das Tor des Hauses Nr. 11 eröffnet, auf dem in großen schwarzen Lettern die Worte »Útulna – Asyl« stehen.
In diesem Haus, das Eigentum des Prager Asylvereines für Obdachlose ist, habe ich gestern übernachtet. Bei einem Freunde, der in der nahen Sametzgasse wohnt, hatte ich mich vorher in full dress geworfen. Den Rock, den ich anhatte, hatte voriges Jahr unser Dienstmädchen einem Bettler geschenkt, aber dieser hatte die Annahme des Geschenkes unter schweren Beleidigungen abgelehnt. Wenn in dem Hut, den ich aufgesetzt hatte, noch die Firmabezeichnung erkenntlich wäre, könnte man ihn als famoses Mittel für Erpressungen verwenden: Der Hutmacher würde jeden Betrag bezahlen, um diese seinen Namen tragende Schmach aus der Welt zu schaffen. Der Rock hatte zwar keine Fasson, aber dafür hatte er auch keine Farbe und Löcher, auf die jede Regimentsfahne stolz sein könnte. Die Risse der Stiefel waren durch die in sanften Wellenlinien hinabfallenden roten Socken teilweise verdeckt. Die Hosen – reden wir nicht davon.
So ging ich, in den wahrlich nicht verwöhnten Gassen des Petersviertels peinlichstes Aufsehen erregend, zum Asylhaus. Hier waren schon Gruppen von Obdachlosen angesammelt. Einige saßen auf dem Geländer, das die schmalen Anlagen der Klemenskirche umfriedet, andere auf den Stufen am rückwärtigen Kircheneingang. Etliche standen vor dem Eingang eines Gasthauses in der Klemensgasse, wieder andere an die Häuser der Neumühlgasse gelehnt. 44 Auch Frauen waren darunter. Im ganzen etwa 70 Leute. Ein Doppelposten der Polizei hielt Wache.
In der Gruppe, in der ich mich anstellte, war ein fünfzehnjähriger Bauarbeiter, der gerade von seiner Fußwanderung aus Triest in Prag eingetroffen war. Dann ein Prager Geschäftsdiener, elternlos und ohne Verwandte, der ohne Stellung war. Vor anderthalb Tagen hatte er bei einem ehemaligen Kollegen eine Suppe bekommen, seither hatte er überhaupt nichts gegessen. Unter anderen Umständen hätte ich diese Angabe vielleicht skeptisch aufgenommen. Aber hier konnte ich nicht daran zweifeln. Was für ein Interesse hätte er gehabt, die Kollegen, die gleich ihm arg im Bruch waren, zu belügen? Erwarten konnte er von ihnen ja nichts. Ich versprach ihm meine Suppenportion für den Fall, daß ich, trotzdem ich kein Dienstbuch habe, in das Asyl eingelassen würde. Ich hätte einen verdorbenen Magen und könne nichts essen. Seither wich der Bursche nicht von meiner Seite, damit er in das gleiche Zimmer mit mir komme. Seine einzige Sorge, die er fortwährend zu mir äußerte, war die: »Ob man dich nur ohne Büchel hineinlassen wird?« Von Zeit zu Zeit kamen Besuche zu unserer Gruppe. Leute, die Arbeiter suchten. In meinem Leben habe ich nicht so viele Engagementsanträge erhalten, wie vorgestern. »Bist du ein Müllergehilfe?« fragte mich ein wohlgenährter Herr, der auf unsere Gruppe zugetreten war. Nein, ich sei kein Müllergehilfe. Damit aber gab sich der Herr noch nicht zufrieden: »Willst du nicht in der Mühle arbeiten?« Ich müsse morgen abreisen, sagte ich und der Vertrag war nun endgültig gescheitert.
Von den übrigen Aktionen, die nichts geringeres zum Zwecke hatten, als meine wertvolle Arbeitskraft für verschiedene Unternehmungen, wie einen Brückenbau, eine Schneiderwerkstätte etc. zu gewinnen, sei noch eine erwähnt. Ein Bäckergehilfe kam zu mir: »Du bist ein Bäcker?« Wieder verneinte ich. »Das macht nichts,« sagte jener. »Du könntest heute nachts bei uns in der Werkstätte statt meiner arbeiten. Mein Mädel ist heute früh nach Prag gekommen und ich möchte gern mit ihr ausgehen. Du brauchst nicht viel zu machen, nur soll der Alte nicht merken, daß einer fehlt. Ich gebe zwanzig Kreuzer.« Ich erklärte, daß ich ablehnen müsse. Ich hätte schon drei Nächte nicht geschlafen. 45
Die Arbeitgeber waren nicht die einzigen Personen, die um unsere Gunst warben. Zwei Frauen traten auf einzelne von uns zu und boten uns privates Logis an. Mich forderten sie nicht auf, ich sah sehr schäbig aus. Aber auch bei den anderen hatten sie kein Glück, da ihre Forderung zu hoch war. Je zwei hätten in einem Bette schlafen und jeder dreißig Heller zahlen sollen. Ein jüngerer Wanderbursche ließ sich in Unterhandlungen ein, aber ein erfahrenerer Genosse zog ihn zurück. »Unsinn! Im Asyl schläfst du allein im Bett, zahlst keinen Heller und kriegst noch zweimal Suppe.« Da mußte denn die Wohnungsvermieterin wieder abziehen.
Wir standen von ¾6 Uhr abends bis 7 Uhr. Dann wurde das Tor geöffnet, entweder weil der Hausvater sehen wollte, wieviel Leute draußen seien, oder weil irgend ein Angestellter des Asyls eingelassen wurde. Das Öffnen des Tores war das Signal zur Vergatterung vor diesem. In weitem Bogen drängte sich die Schar der Obdachlosen. Die Frauen wurden in die erste Reihe gelassen. An sie schlossen sich, auf Anordnung eines alten Kunden, zunächst die Leute, die schon tags vorher die Gastfreundschaft des Prager Asylvereines genossen hatten. In den nächsten Reihen standen die Obdachsuchenden, welche die Bestätigung ihrer Genossenschaft darüber in Händen hatten, daß sie stellungslos und »auf der Walz« in Prag seien. Dann kamen diejenigen, die durch ihr Arbeitsbuch den Nachweis ihrer Arbeitslosigkeit führen konnten und deshalb das Anrecht auf Annahme in das Obdach der Obdachlosen besaßen. Zuletzt die Schar jener Burschen, die zwar stellungslos waren, aber schon zwei oder drei Tage im Asyl genächtigt hatten, sie wußten wohl, daß sie kaum wieder Einlaß finden würden und berieten, wo sie im Falle ihrer Abweisung nächtigen würden. Die einen schwärmten von einer sehr schönen Scheuer in Žižkow, die anderen waren entschieden für den Stall eines Prager Einkehrhauses, wo es allerdings drei Kreuzer Quartiergeld koste, wieder andere propagierten eine Exkursion in den Kinskygarten oder den Karlspark.
Auch die drei anderen Schichten – jetzt waren auch die Obdachlosen, diese untersten Repräsentanten der menschlichen Gesellschaft in Gesellschaftsschichten geteilt – debattierten eifrig. Ein Alter, mit schwarzem Bart und Havelock, führte das große Wort. Das Thema der Debatte war nichts geringeres, als – 46 die Frage der Landtagstätigkeit. Es war die finanzpolitische Seite, welche diese in Lumpen gekleideten Menschen am meisten interessierte. In der Naturalverpflegsstation hatte man ihnen den Mangel verschiedener Gegenstände mit der Finanznot begründet, und deshalb waren viele für die Flottmachung des Landtages, aber einzelne waren dagegen, indem sie erklärten, wenn die Regulierung der Landstraßen wieder in vollem Maße aufgenommen werde, dann gäbe es wieder lauter Schikanen von seiten der Wegmeister.
Das neuerliche Öffnen des Tores machte diesen hochpolitischen Erwägungen ein Ende. Man ließ die Frauen – größtenteils beschäftigungslose Feld- und Fabriksarbeiterinnen – ein und schloß wieder. Dann, nach etwa zehn Minuten die Männer. Ein Asylbediensteter rief die Gruppe aus. Einzeln wurde man eingelassen, jeder mußte sich legitimieren. Bei der Gruppe »Arbeitsbücher« fand auch ich mich ein.
»Wo hast du dein Arbeitsbuch?«, fragte mich der Mann an der Pforte.
»Ich habe keines,« war meine Antwort. »Ich komme aus Reichenberg und wollte ins Spital. Aber man hat mich nicht aufgenommen, weil überfüllt ist.«
»Warum fährst du nicht zurück?«
»Ich habe kein Geld. Auf der Polizei werden sie mir ein Rückreisebillett geben. Aber erst morgen. Nachmittag wird nicht amtiert, und da haben sie mich hergeschickt.«
»Wer hat dir das gesagt, daß du hergehen sollst?«
»Der Offizial S . . .« Ich nannte den Namen des Beamten, der die Reiseunterstützungen aushändigt, und dies genügte, um den Auguren von der Richtigkeit meiner Aussage zu überzeugen. Aber er hatte noch eine Besorgnis:
»Weshalb wolltest du ins Krankenhaus?«
»Ich habe Herzschwäche.«
Er sah mir forschend ins Gesicht, ob ich wirklich krank sei. Nun aber war ich – welche ein Zufall! – ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise in der vorigen Nacht »auf dem Flam« gewesen und war blaß. Da ließ er mich denn aus Mitleid ein. »Ein Neuer!«, rief er einem anderen Bediensteten zu, der auf der anderen Seite des Tores stand und Protokoll führte. Ich gesellte mich zu den anderen Obdachlosen, die sich im Hausflur 47 drängten. Der Asylbedienstete wandte sich nun an die, die draußen harrten. »Ist noch jemand, der noch nicht zwei Nächte hier war?« Keine Antwort. »Gute Nacht, hochgeehrte Herren,« mit diesem ironischen Gruß schloß er das große Tor. Nun stellte sich ein Angestellter des Asyls auf die erste Stufe der Wendeltreppe und ordnete an:
»Stiefel abputzen, Hemdkragen öffnen, paarweise antreten!»
Geräuschvoll wurde diesem Befehle Folge geleistet und vom ersten Stock erscholl die zweite Order:
»Die beiden ersten herauf!«
Nach etwa einer Minute: »Die beiden nächsten herauf.« Und so fort. Oben wurden alle eingehend nach Ungeziefer untersucht. Von Zeit zu Zeit hörte man von oben Schimpfen und Protestieren, und dann kam immer ein Obdachloser wieder die Treppe herunter: Man hatte bei ihm das Gesuchte gefunden . . . Das Tor öffnete sich und der Paria ward entlassen. Ich war mit dem hungernden Handlungsdiener im Paar. Man fand nichts bei mir, und meiner Aufnahme stand nichts im Wege. Man wies mir ein Bett an.
In einem kleinen Zimmer, in dem vier Betten standen, wurde ich einquartiert. Meine Zimmergenossen zogen ihre Stiefel aus und nahmen je ein Paar der harten Lederpantoffeln, die auf dem Eisenofen lagen. Ich zog gleichfalls die »Batschkaren« an, setzte mich aber dabei auf das Bett. Das war ein Fehler, denn ein zufällig in das Zimmer tretender Angestellter des Hauses fragte mich sofort, ob ich eigentlich glaube, daß ich im Spital sei. Ich vermutete, daß dies eine rhetorische Frage sei, und beantwortete sie nicht. Damit gab sich der Asylbedienstete nicht zufrieden.
»Du bist aber ein Häuschen« (hajzl), meinte er. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht, aber ich vermute, daß dies ein Schimpfwort gewesen sei, da er gleich darauf die Mitteilung hinzufügte, daß ich ein »Bastard« (parchant) sei. Diese Angabe ist unrichtig, doch der Asylbedienstete konnte sich ja irren. Wieso er aber von mir behaupten konnte, daß ich ein »Lausbub« (všivák) sei, während doch die unmittelbar vorhergegangene Untersuchung vollständig negativ verlaufen war, ist mir unverständlich. Trotzdem habe ich es unterlassen, den Asylmann zu kontrahieren. Für einen künftigen Ehrenrat, der mich eventuell 48 dafür zur Verantwortung ziehen würde, daß ich grundlose Beschuldigungen nicht mit der ritterlichen Forderung durch die Waffe beantwortet habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß meine Kartellträger in das Asylhaus überhaupt nicht eingelassen worden wären, da man eines Arbeitsbuches oder des Nachweises einer Gewerbeausübung unbedingt zum Eintritte bedarf.
Der Asylbedienstete, dessen Groll ich mir zugezogen hatte, kam nach einer Pause von etwa zehn Minuten wieder in unser Zimmer. Diesmal war seine Mission viel sympathischer. Er legte jedem von uns ein Stück Brot auf das Bett und bestimmte dann zwei von uns zum Holen der Suppe. Ich – war ich doch sein Feind! – war einer von den zweien. So ging ich denn mit meinem Arbeitsgenossen die Stiegen hinunter in den ebenerdig gelegenen Küchenraum. Hier stand ein Holztablett für uns bereit, das mit fünf gefüllten Blechtassen beladen war: die Suppe. Wir beförderten die Ladung in unser Zimmer. In den Blechtassen stak kein Silberlöffel, sondern bloß ein schlichter Zinnlöffel, was wohl der Grund dafür gewesen sein mag, daß jeder meiner Zimmergenossen den Gebrauch des Löffels verschmähte und den Inhalt direkt aus der Schale trank. Ich verkostete einen Löffel und erfüllte dann das Versprechen, dem hungrigen Handlungsdiener meine Suppenportion zu schenken, leichten Herzens. Leichten Herzens, weil mich die ungewohnte Auftischung des Kuverts beeinflußt hatte. Den anderen aber schmeckte die Suppe ganz famos, wie an ihren behaglichen Mienen zu erkennen war.
Ich benützte die Souperpause, um in den Räumen des Asyls Umschau zu halten. Einzelne Zimmer waren doppelt so groß wie das unsrige und beherbergten dementsprechend die doppelte Anzahl von Betten. Im ganzen sind in den beiden Stockwerken, die für die Männer bestimmt sind, 78 Betten untergebracht. Es sind eiserne Kavalets, die einen Strohsack, einen Roßhaar-Kopfpolster, eine benähte Drillichdecke und ein ziemlich reines Leintuch enthalten. Überhaupt herrschte auf den Wänden und Fußböden der Schlafsäle, auf den Gängen, Stiegen und auf der die ganze Front umgebenden Pawlatsche eine peinliche Sauberkeit – kein Wunder bei der eisernen Disziplin, über die ich kurz vorher in so energischer Weise belehrt worden war. 49
Als die Suppe verzehrt und die Holztasse samt den Suppennäpfen unter meiner Mitwirkung wieder in die Küche getragen worden war, setzten wir uns auf die Stühle, und es begann die Konversation. Schon die Art des Bekanntwerdens war eine viel bessere, als sie in der Gesellschaft üblich ist. In den Salons geschieht die Vorstellung durch eigene Initiative, sie ist aufdringlich, jeder gleichgültige Mensch stellt sich jedem gleichgültigen Menschen vor und nennt seinen gleichgültigen Namen, der überhaupt nicht verstanden wird. Im Asyl fragt einer den anderen: »Was für einen Beruf hast du?« Mit der Antwort ist alles Wissenswerte über den Schlafgenossen gegeben. Nach dem Namen wird nicht gefragt. Namen sind Schall und Rauch.
Ich erfuhr, daß mein Bettnachbar zur Linken ein Kanalräumer, beziehungsweise ein Kutscher sei, der nur in den letzten vierzehn Tagen mangels anderer Beschäftigung der Prager Gemeinde nächtlicherweile beim Entleeren der Kanäle behilflich gewesen, aber gerade tags vorher wegen allzu großer Trunkenheit im Dienst entlassen worden war. Er war übrigens nicht bös darüber: »Länger als vierzehn Tage bin ich ohnedies seit zehn Jahren in keiner Stadt gewesen.«
Das Bett zu meiner Rechten hatte mein neuer Freund, der Handlungsdiener inne, links von dem Kanalräumer war ein Zuckerbäckergehilfe aus Hartburg bei Graz, der von dort geradewegs zu Fuß nach Prag gekommen war. Bei diesem kam ich durch ungeschickte Beantwortung seiner Fragen in den Verdacht ein Protz zu sein. Er fragte mich nämlich, ob ich schon in Hamburg gewesen sei und ich bejahte.
»Wie ist's dort im Asyl?«
Ich mußte wahrheitsgemäß antworten, daß ich dies nicht wisse. Ich hätte bei einem Freunde geschlafen, sagte ich.
»Und wie weit ist es von hier?«
»Zu Fuß?«, schlüpfte mir als Gegenfrage aus dem Mund und das war dumm.
»Willst mi eppa pflanzen?«, fuhr er mich bös an. »I wer doch net im Fiaker hinfahren!«
Zum Glück machte der Kanalräumer, der sich auch Jahre lang in Deutschland herumgetrieben hatte und nicht nur deutsch, sondern auch italienisch – der Verkehr mit den italienischen Erdarbeitern brachte das mit sich – verstand, weiteren 50 Angriffen des steirischen Zuckerbäckers gegen mich ein Ende. Er teilte ihm mit, daß er von Prag nach Hamburg etwa zwölf Tage zu gehen habe, wenn er täglich fünfzig Kilometer zurücklege. In Hamburg gebe es zwei Asyle, er möge aber nicht in das Polizeiasyl gehen, denn dort werde jeder Kunde photographiert. Auch im Asyl der Magdeburger Arbeiterkolonie möge er sich nicht aufhalten, dort müsse man vor der Aufnahme das Arbeitsbuch abgeben und müsse Holz sägen und hacken, »ärger wie im Arbeitshaus.« Dann gab der Kanalräumer dem Zuckerbäcker noch einige geographische Ratschläge. Er beschrieb ihm den Weg, den er einschlagen müsse, um vier Heller Überfuhr zu ersparen, und nannte ihm die Straßen, auf denen gute Zwetschken zu erhaschen seien. Auch über die Schubverhältnisse, über die Handhabung des Vagabundagesetzes und über die Naturalverpflegsstationen und die Herbergen in den einzelnen Orten sagte er dem Zuckerbäcker manch kräftiges Wörtlein.
Während des Gespräches zog der Kanalräumer wiederholt ein Fläschchen aus der Tasche und stärkte sich. Schließlich war der Schnaps alle.
»Hol's der Teufel, daß man hier kein Bier kriegt,« brummte der Kanalräumer wütend.
»Ich wär' wieder froh, wenn ich rauchen könnte,« sagte ich, um etwas zu sagen.
»Hast du denn ein Stückchen Zigarette?« meinte jener mit lauerndem Blick. »Ich würde mich draußen einsperren und rauchen.«
Ich brach in der Tasche eine »Sport« in die Hälfte und reichte meinem Schlafgenossen eine Hälfte. Der hatte sie kaum in der Hand, als sich schon der Zuckerbäckergehilfe an ihn herandrängte und ihn flehentlich bat: »Schenk mir ein Stückel.« Da wurde denn die halbe Zigarette redlich geteilt.
Um 9 Uhr verlosch das Gaslicht. Ich benützte die Dunkelheit, um mich in Kleidern auf das Bett zu werfen. Während der Nacht schloß ich kein Auge. Rechts neben mir schnarchte der postenlose Geschäftsdiener wie ein Lokalbahnzug, links neben mir stieß der Kanalräumer in seinem alkoholschweren Schlaf wüste Drohungen gegen irgend ein Mädel aus, von dem er träumte. Aus dem Nebenzimmer drang in Intervallen von je zwei Minuten ein Husten herein, als ob der Mann zu 51 ersticken drohe. Es dauerte lange, lange bevor es sechs Uhr wurde. Endlich aber schrillte eine Glocke: Reveille. Alles kleidete sich an und machte das Bett zurecht. Bald darauf kam der Aufseher und besah das Werk kritischen Auges. Hier fand er die Decke zu wenig geglättet, dort war das Leintuch unten zusammengefaltet, statt unterhalb des Kopfpolsters. Schließlich verließ er uns, um auch die Nachbarräume mit seiner Inspektion zu beehren. Als er wiederkam, legte er jedem von uns einen »Pandur«, einen runden Wecken, auf das Bett und wir durften wieder Suppe holen.
Nach einer halben Stunde ertönte ein lauter Ruf des Asylvaters: »Magazin!« Das war das Aviso für die Obdachlosen, sich um den bis dahin versperrten Schrank zu scharen und daraus die Ranzen und Kofferchen in Empfang zu nehmen, die sie hierher in Verwahrung gegeben hatten. Um 7 Uhr wurde das Tor geöffnet und der Strom der Obdachlosen mündete wieder in die Stadt. Der Doppelposten der Polizei stand wieder da und schaute uns mißtrauisch an.
Die meisten der Obdachlosen begaben sich zunächst in die Arbeitsvermittlungsanstalt im »Alten Gericht«, dann in jene von Žižkow. Ohne das Visum dieser beiden Institute finden sie anderswo weder eine Genossenschaftsunterstützung, noch Aufnahme im Asyl. Ich schlich mich wieder in das Haus in der Sametzgasse, in dem mein Freund wohnte. Der Hausbesorger und die Hausbewohner, die mir begegneten, blickten mir mit unverhohlenem Mißtrauen nach, bis mir die Wohnungstüre geöffnet wurde. Nun restaurierte ich mich so weit, um kein Refus von seiten eines Droschkenkutschers erwarten zu müssen und fuhr dann nach Hause. Hier angekommen, telephonierte ich ins Bureau, daß ich wegen Unwohlseins fernbleiben müsse. Ich gedachte einen langen Schlaf zu tun. Vorher habe ich aber noch gründlich gebadet – eine Tatsache, die zwar selbstverständlich ist, die ich hier aber im Interesse meiner nicht obdachlosen Bekannten doch hier besonders registrieren will. 52