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Mein kleiner Bruder kam gestern aus dem Gymnasium nach Hause.
»Heute ist uns erlaubt worden, in einen Fußballklub einzutreten.«
So, so. Ich habe diesen Beschluß des Landesschulrates schon gekannt. Aber doch . . . Das, was da den Gymnasiasten aus dem schwarzen Buche vorgelesen worden ist, war der Epilog für eine Zeit, die erfüllt war von einem monomanen Fanatismus der Jugend, für eine Zeit, deren Bedeutung längst über den Rahmen der Sportrubrik hinausgewachsen ist. Die Regierungszeit des Fußballs ist beendet. Le roi est mort.
Man darf jetzt in einen Fußballklub eintreten. Wer uns vor fünfzehn Jahren gesagt hätte, daß einmal eine solche Erlaubnis kommen werde, dem hätten wir nicht zu glauben vermocht. Auf das Fußballspielen standen damals alle Todesstrafen, die die Schule zu fällen hat: Strenges Prüfen, Karzer, Repetieren. Selbst bei den Jugendspielen mußten wir, die wir an zehrendem »Ballfieber«, an der »englischen Krankheit« litten, uns beim Barlaufspiel und beim Passatschlagen langweilen, und erst als wir dann alle von den Jugendspielen wegblieben, erlaubte man uns für jeden Spieltag ein knapp bemessenes Fußballwettspiel.
Wehe dem, dessen Zugehörigkeit zu einem Klub man in der Schule in Erfahrung brachte. Und doch: Wir spielten fast alle. Was bedeuteten die ärgsten Strafen gegenüber dem Vergnügen zweimal je fünfunddreißig Minuten der Gelegenheit nachjagen zu dürfen, ein Goal zu schießen. Freilich man ließ alle möglichen Vorsichtsmaßregeln walten. In der Zeitung waren oft alle zweiundzwanzig Spieler und der Schiedsrichter eines Wettkampfes nur mit Pseudonymen angekündigt, zum Spielfelde wählte man die äußersten Ränder der Kaiserwiese, des Dejwitzer Exerzierfeldes und des Invalidenplatzes (der Teil, der hart an die Heinesche Besitzung grenzt, war immer von Schülermannschaften bevölkert), um vor den Blicken eines vielleicht 57 patrouillierenden Professors möglichst gedeckt zu sein, und die Mannschaftsitzungen fanden in den verstecktesten Spelunken der Kleinseite, auf dem Belvedere, von Dejwitz und Karolinental statt. Nicht die Angst vor den Professoren allein, auch allerhand Unbequemlichkeiten hatten die Mittelschüler zu bestehen, die im vorigen Jahrhundert, um die Mitte seines letzten Dezenniums dem Sporte oblagen. Zum Eintritt in die bestehenden Vereine, die einen eigenen Sportplatz hatten, reichten weder der Mut (nicht der Mut gegenüber der Schule, sondern der Mut gegenüber den maßgebenden Faktoren des Klubs), noch die Geldmittel. So mußte man denn den Wahlspruch »Mein Feld ist die Welt« beherzigen und auf den unverbauten Flächen Prags die Balltechnik üben. Da warf man sich denn schon zu Hause in Dreßhemd, Stulpen, Schienbeinschützer und Dreßhosen, zog darüber die Straßentoilette an, und stapfte, trotz sengender Sonnenglut, in der doppelten Kleidung auf die Kneippwiese, auf den Invalidenplatz, nach Dejwitz aufs Exerzierfeld, auf die Holleschowitzer Heide, in den Canalschen Garten. Dort zog man die Straßenkleider aus und warf sie auf zwei Haufen aufeinander, die in einer Breite von sechs Metern von einander entfernt waren, die Kleiderhaufen bildeten die Goalstangen. Die Anschaffung des Fußballes, sowie die Reparaturen seiner irdischen Hülle und seiner leider auch nicht unsterblichen Seele wurden aus den vereinigten Taschengeldern der Elf bestritten, und wenn man sich vom Schuster fünf feste Lederstöpsel auf die Stiefelsohlen nageln ließ, so konnte man schon in dem Wahne leben, ein Paar englischer Treter sein eigen zu nennen. Man bedurfte keiner Goalnetze, keiner Querpfosten, man bedurfte keiner Ankleidekabinen und keiner verschließbaren Utensilienkästen, manchmal auch keines Unparteiischen und keines Goalrichters, ebensowenig wie man der Erlaubnis der Professoren bedurfte. Man spielte.
Dafür kannten einen die Schüler der ganzen Anstalt, und mit scheuer, schrankenloser Bewunderung schauten die Schüler zu den Fußballkapazitäten der nächsthöheren Klasse auf. Und wenn solch einer der »erstklassigen Menschen« im Schulhofe oder auf dem Korridor eine Orangenschale in die Höhe »kickte«, dann ging ein Murmeln der Anerkennung durch die Reihen. Wenn der Sekundaner irgend eines Gymnasiums den Tertianer irgend einer Realschule kennen lernte – was war da der Gegenstand 58 des Gesprächs? Die Namen der Großen im Fußballreich, mit denen der Untergymnasiast derselben Anstalt anzugehören die Ehre hatte. Was Wunder, daß der Ehrgeiz nach solchem Ruhm das Fußballfieber noch mehr entfachte, daß zu Hause und in der Schule mit allen Gegenständen »gedribbelt«, »kombiniert« und »geshootet« wurde, die nicht niet- und nagelfest waren. Die Professoren teilten allerdings weder die Liebe zum Fußballspiel, noch das Verständnis für die Leistungen seiner Jünger. Sie haßten das »rohe Spiel« und dieser Haß zeitigte oft die komischesten Blüten. Wenn in irgend einer Klasse wirklich irgend ein schwerblütiger Junge saß, der beim Fußballspiel nicht mittat, dann konnte man mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen, daß er bei den Professoren in den Verdacht geraten werde, ein Vorkämpfer des Fußballsportes zu sein. Und ein Turnlehrer, der es besonders scharf aufs Fußballspielen abgesehen hatte, warf in der Besprechung eines Jugendspiel-Wettspieles dem besten Stürmer vor, daß er beim Laufen eine schlechte – Körperhaltung einnehme. Natürlich wurden solche Kritiken ebenso belacht, wie der Vorschlag eines sonst ganz intelligenten Schulpädagogen, man möge, um Füße und Hände in gleichem Maße auszubilden, mitten im Fußballwettspiel nach jedem Goal Hantelübungen einführen . . . Seit dieser Kinderzeit des Fußballsportes sind fünfzehn Jahre verstrichen. Mancher der einstigen Märtyrer in Fußballdreß gehört heute dem Lehrkörper einer Mittelschule an, und so ist doch ein sportfreundlicher Erlaß herausgekommen.
Weshalb aber der Nekrolog? Fängt denn nicht erst jetzt, da die letzte Hürde genommen ist, die Renaissance des Fußballsportes an? Mit nichten. Gerade jetzt, da der fußballspielenden Jugend auch der letzte Hauch des Märtyrertums genommen ist, da nicht mehr der romantische Reiz des Verbotenen besteht, da man gewissermaßen unter der Patronanz der Schule ein Endback oder ein Forward sein darf, gerade jetzt wird die Jugend aufhören, mit ungeteilter Begeisterung bei der Sache zu sein. Die Sportliebe war nur eine Ingredienz.
Und wenn nun auch noch ein Erlaß des Landesschulrates herausgegeben werden sollte, der den Gymnasiasten und Realschülern gestattet, Studentenverbindungen zu bilden, dann verbrenne ich das grünsilbernblaue Band unserer Pennälerblase und sage endgültig meiner Jugendzeit ade . . . 59