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Unter dem Balkon des Altstädter Rathauses wurde an einem heißen Junitage des Jahres 1621 an sechsundzwanzig böhmischen Adeligen ein furchtbares Blutgericht vollzogen. Gegenüber, unter den Türmen der Teinkirche liegen die Gebeine des Tycho, der gestorben ist, weil er an der Tafel seines gekrönten Freundes das spanische Zeremoniell nicht verletzen und deshalb ein plötzliches Unwohlsein mit Gewalt niederkämpfen wollte. Zwischen diesen beiden Stätten breitet sich ein großer Platz, auf dem verhärmte Menschen allabendlich, vor der Madonnenstatue kniend, inbrünstige Lieder singen. Aber im Dezember, vom Sonntag vor Nikolo bis zum Weihnachtsabend, wogt auf diesem Platze Weihnachtstreiben.
Und doch: Selbst im Jahrmarktskleide verliert der Ringplatz sein sentimentales Gepräge nicht, und aus dem Lärm der Ausrufer, der drängenden und gedrängten Menschenmassen, der Marktschreier und Verkäufer dringen die Untertöne der Schwermut hervor. Es ist kein Jahrmarkt. Zwar ist es vollzählig versammelt, das fahrende Volk, das während der übrigen elf Monate die Bewohner der böhmischen Dörfer beglückt, aber hier im Zentrum der Großstadt nehmen sich seine Waren und Vergnügungen allzu armselig aus. Die Jahrhunderte mit ihren Errungenschaften sind spurlos an ihnen vorübergegangen, und die Späße, Schaustellungen, Buden und Verkaufsobjekte hätten samt und sonders auch in den Zeiten kein Staunen erweckt, deren Ereignisse den Prager Ringplatz zu einer historischen Stätte stempelten.
Parallel zur Front des Platzes, welche die Zeltnergasse verlängert, läuft eine der Budenstraßen. Sie ist das Dorado der Spielwarenhändler. Aber was sind das für Spielwaren, die hier feilgeboten werden? Keine Miniaturautomobile oder Miniaturaeroplane, keine sprechenden Puppen und singenden Kanarienvögel – nichts von raffinierten Kunstwerken für Kinder der Reichen. Nur Zehnkreuzeruhren, nur Ballons auf dünner Gummischnur, nur Holzpferde auf Rädern, papierene Tschakos und 85 hölzerne Säbel. Musikinstrumente überwiegen – wir sind im Heimatland der böhmischen Musikanten. Kinderviolinen, denen selbst ein künftiger Kubelik keine Töne zu entlocken vermöchte, Flöten, in die man von beiden Seiten mit der gleichen nervenmarternden Wirkung blasen kann, verschiedengestaltete Gummispezialitäten, die aufgeblasen werden, um mit herzzerreißendem Gekreisch den fremden Odem wieder auszuhauchen, Mundharmonikas, runde Mundpfeifen, mit denen man das Zwitschern der Nachtigall wenn auch nicht nachahmen, so doch persiflieren kann u. dgl. Dann die armseligen Nikolos, die aus einer unmöglichen Gipsmaske mit langem weißen Bart bestehen, an die sich ein weißes Papiergewand schließt, dann die Krampusse, die armen Teufel, die nicht Furcht erregen, sondern nur Mitleid erwecken können, dann die Soldaten, die in jeder besseren Kinderstube als untauglich erklärt oder superarbitriert werden würden.
In einer anderen der hier entstandenen Straßen stehen die braunleinenen Warenhäuser, deren Besitzer sich von dem Pumpernickel nähren, den andere essen müssen. Lebkuchenherzen dominieren, sie weisen Inschriften aus Tragantzucker auf, die ebenso geistvoll, wie schmackhaft sind. Auf den Firmenschildern aus Wichsleinwand sind lauter vergrößerte Ehrenmedaillen und Ordensauszeichnungen abgebildet. Es scheint also, daß in Potentatenfamilien Pumpernickel leidenschaftlich geliebt wird und daß die Monarchen bei freudigen Anlässen einander Lebkuchenherzen schenken.
Rote und schwarze Kegelchen stehen auf einem Verkaufsbrett: Räucherkerzen. Die Erfindungen der Parfümindustrie haben diesen Artikel, der beim Glimmen wie ein rauchender Vesuv aussieht, nicht aus der Welt zu schaffen vermocht. Die moderne Technik der Papierindustrie wiederum hat nichts mit den handgeschnittenen Papiersternen und den zusammengeklebten Papierketten zu tun, welche in der benachbarten Bude zur Verzierung der Weihnachtsbäume käuflich erworben werden können.
Überhaupt die Technik! Die Budenbesitzer haben die denkbar schlechteste Erfahrung mit ihr gemacht. Vor einigen Jahren hatten sie z. B. den Phonographen in den Dienst des Jahrmarktes und auf einen Tisch inmitten der Budenstadt gestellt. Dieser Phonograph posaunte nicht – wie es die anderen Phonographen tun – seine ganze Weisheit durch einen Schalltrichter in die 86 Welt hinaus, sondern er flüsterte sie durch dünne Gummischläuche den besonderen Menschen ins Ohr, welche sich von den anderen Passanten wohltuend durch die Entrichtung von drei Kreuzern unterschieden. Die anderen Menschen aber konnten gar nichts hören, und blickten daher staunend auf die neben ihnen stehenden Auserwählten, deren Mienen eine unbändige Heiterkeit verrieten und deren Körper und Füße in irgend einem Marschtakte zuckten. Ebenso unerklärlich war es den Leuten, warum der Mensch, der sich wieder an einer anderen Stelle des Weihnachtsmarktes in herzbewegenden Grimassen, schmerzhaften Ausrufen und krampfhaften Körperzuckungen erging, die Halter der Elektrisiermaschine nicht einfach loslasse . . . . Aber der Phonograph hat sich auf dem Prager Jahrmarkt nicht rentiert, er war dort heuer nicht mehr anzutreffen, und auch die Elektrisiermaschine sucht nur noch in den Nachtlokalen der unteren Zehntausend ihren Erwerb.
Einen Augenblick könnte man doch glauben, die größten Wunder der Technik seien vertreten. Wenn man nämlich den hochtrabenden Worten des Ausrufers vor dem »Mechanischen Theater« Glauben schenken würde, der im nördlichsten Teile der Marktstadt seine Nachbarn, die Ausrufer der drei Ringelspiele, der vier Schießbuden und des Panoptikums durch Ton und Inhalt seiner Anpreisungen zu übertreffen sucht. Aber wenn man den Lockungen des Mannes vom »Mechanischen Theater« folgt, dann ist es mit dem Glauben an irgend eine maschinelle Vorführung gründlich vorbei. Man sieht ein großes Kinderspielzeug, das wohl irgend ein invalider Bergmann in seinen Mußestunden mit geschickten Händen gefertigt hat. Es stellt ein Bergwerk dar, und dessen Lebewesen werden durch eine im Hintergrunde versteckte Kurbel bewegt. Durch diese dynamische Kraft bewegen sich die Männchen – die »Panaken«, wie man in Prag sagt. Bergleute mit Hunten fahren im Schachte auf und nieder, sie hacken Erz und sie trinken. Oben bewegt sich der Leichenzug eines verunglückten Bergmannes. Zuerst der Leichenwagen, dann die weinende Witwe mit den Kindern, dann der nach allen Seiten grüßende Geistliche, dann die Schar absolut unmöglicher Bergleute in Reih und Glied. Es ist zum Weinen. Auf beiden Seiten des Budeninnern steht je eine Kulisse. Die eine stellt einen Seesturm, die andere eine Karawane dar, und 87 so vervollständigen sie beide die Illusionen, daß man sich in einem Bergwerk befinde.
In den photographischen Ateliers werden Bilder hergestellt wie weiland zur Zeit Daguerres, und die Kunstblumen, die man feilhält, sind so ehrlich imitiert, daß kein Mensch sie für echte halten könnte. Während längst andere Städte ihren Lunapark haben, in dem alle Errungenschaften des Maschinenbaues zu irrsinnigen menschlichen Vergnügungen ausgeschrotet sind, gibts auf dem Altstädter Weihnachtsmarkt noch immer bloß Ringelspiele mit sichtbarem Handbetrieb. Und während man anderswo in spiritistischen Seancen des Schicksals Tiefen zu erforschen droht, läßt sich hier – allerdings mit der gleichen Wirkung – das Prager Dienstmädchen von weißen Mäusen oder Kanarienvögeln die »Planeten« ziehen, Zetteln mit gedruckten Weissagungen und – allerdings entrichtet man hiefür eine erhöhte Taxe – mit dem Bilde des Zukünftigen. Während anderswo die Hygiene ängstlich für das Wohl des Menschen sorgt, reißt hier der Fruchthändler mit schmutzigen Händen schmutzige Datteln von den schmutzigen Waben und wickelt sie in schmutziges Papier. Auch »Niko Petkovac«, der biedere Südslawe mit dem braunen Gesicht und der Astrachanmütze, macht Geschäfte mit seinem »Sultansbrot« und »türkischen Honig«. Unten, an der Niklasstraße schon, feiert Kasperl, der von Gottsched feierlich von der Bühne verbannte Kasperl, im Kampfe mit einem Hündchen herrliche Triumphe.
Überhaupt: Der Markt übt seine Anziehungskraft aus. Die anderen Marktfeste, die »Fidlovačka«, das Fest der Schusterinnung im Nusler Tal, das »Strohsack«-Fest der Schneidergilde in Bubentsch, das Mathäi-Fest in der Scharka, das Josefi-Fest auf dem Josefsplatz und das »Ordens«-Fest im Stern sind teils abgeschafft, teils bedeutend restringiert worden. Nur der Nikolo- und Weihnachtsmarkt, gerade das Fest im Innern der Stadt, ist in der alten Form erhalten geblieben, und steht jetzt ohne Konkurrenz da. Ob es nun Pietät ist, ob man der Tradition huldigt, ob es zu den weltmännischen Neigungen mancher Gesellschaftsklassen gehört, sich in Kirchweihfesten auszuleben – der Markt ist voll von Menschen. Sie ziehen an den Dezembersonntagen in bunten Scharen auf den Ring, in diese aus morschem Holz gezimmerte Stadt, deren Gassenfronten aus verschlissener 88 Leinwand sind. Aus allen Vorstädten kommen die Menschen und drängen sich hier, die Handwerksleute mit Weib und Kind, die bekannten Prager Lebeknaben aus den Kolonialwarengeschäften und Werkstätten, Dienstmädchen, Fabriksmädel, Ladenmamsells, Mädchen für alles und noch mehr. Alles was sonst in Tanzlokalen der Vororte und auf den Schleifplätzen der Moldau die Liebe sucht, ist im Dezember hier vereint. Der langhaarige Jüngling nähert sich innig im Gedränge seiner Angebeteten. Oder er schleudert, wenn eine Schöne in entgegengesetztem Menschenstrom vorbeikommt, ihr seinen Papierball, dessen Gummischnur er in der Hand hält, als schüchternen Annäherungsversuch wuchtig ins Gesicht. Das Mädchen quittiert mit quietschendem Aufschrei, aber sie fühlt sich durch die gezollte Aufmerksamkeit geehrt, und mißt ihren Anbeter mit einem Blick, in dem Aufmunterung, Aufforderung, Leichtsinn und vielleicht ihr Schicksal liegt. 89