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Es steht noch nicht im Meyer,
Es steht im Brockhaus nicht,
Es tritt aus meiner Leier
Zum erstenmal ins Licht.
Christian Morgenstern.
Das Baumwollzentrum Torreón steht nicht im Meyer, während der Meyer (Ausgabe 1908) in Torreón steht, wodurch ich erfahren habe, daß Torreón nicht im Meyer steht. Über Coahuila, den Bundesstaat, dessen wichtigste und größte Stadt Torreón bei weitem ist, wird in Meyers Konversationslexikon sehr viel ausgesagt, andere Städte dieses Staates werden lobend erwähnt. Torreón jedoch mit keiner Silbe.
*
Alles in Torreón dreht sich um Algodón. Es ist wie in Alexandria. Nur verwenden in Alexandria die Araber nicht das arabische Wort »al goton«, sie sagen englisch »cotton«, die Anglisierung von »goton«.
Das deutsche Wort geht auf den bis ins 18. Jahrhundert verbreiteten Irrtum zurück, Baumwolle sei die Wolle des Skythischen Lamms, das auf Bäumen wachse. In Rußland reisende Europäer hatten es mit eigenen Augen gesehen. Was sie gesehen hatten, waren aber Embryos von Widdern. Die Bauern, die sich schämten, ungeborene Tiere aus dem Mutterleib zu schneiden, logen den Fremden vor, der kleine Widder (Baranetz) sei bei ihnen zu Lande eine Baumfrucht. In Wahrheit war das Lockenfell nicht zum Verspinnen oder 252 Verweben ausersehen, sondern dazu, ein Pelzmützchen zu werden oder Teil eines Persianermantels.
Jedenfalls wächst im Gebiet um Torreón die Baumwolle nicht als Tier auf den Bäumen, sie wächst als Pflanze auf Erden, und das Saatgut kommt aus Memphis. Dadurch scheint mein Gefühl, in Alexandria zu sein, noch mehr gerechtfertigt. Leider erfahre ich, daß es sich nicht um das ägyptische Memphis, vielmehr um Memphis im Staat Tennessee, USA., handelt, welches unägyptische Memphis ein Monopol hat auf die Samen der bei Torreón angebauten Baumwollsorten.
Selbstverständlich wird der Leser die Frage stellen, die ich stelle: warum verwendet man denn nicht die eigenen Kerne als Saatgut?
Ich erfahre, daß das nicht geht. Die Pflanzen würden sich miteinander kreuzen, und diese Inzucht ergäbe Degeneration. Deshalb wird die Saat aus den Samenzüchtereien von USA. bezogen, wo die besten Stauden für die Zucht ausgesucht werden, »true to type« kultiviert, die Blüten in Musseline oder Zellophan eingepackt und die Befruchtung unter Kontrolle durchgeführt.
Beziehen nur die mexikanischen Felder die Saat aus der Züchterei?
»Nein, alle Baumwollfelder der Welt. Sogar die amerikanischen.«
Aber in der Sowjetunion sah ich vor fünfzehn Jahren, wie Baumwollfelder angelegt wurden. Und die Russen hatten damals sicherlich keine Samenzüchtereien.
»Die haben wahrscheinlich jahrelang experimentiert. Die müssen sich nicht beeilen, weil sie keine Konkurrenz und keinen Export haben. Die verbrauchen ja alle Baumwolle für ihr eigenes Volk.« 253
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Viele der hiesigen Firmentafeln habe ich schon in Alexandria gesehen. Die Baumwollexporteure »Anderson, Clayton & Co.«, »McFadden« und »William Woodworth« beherrschen im nördlichen Mexiko wie im nördlichen Afrika und außerdem im südlichen Nordamerika die lokalen Märkte, die zusammengenommen identisch sind mit dem Weltmarkt. Auch die Verkaufsstellen für Pflückmaschinen und Entkernungsmaschinen, für Mittel zur Schädlingsvertilgung und für Kunstdünger tragen hier wie dort die gleichen Firmennamen.
Überdies gibt es, damit ich's nicht vergesse, das Heer der Menschen, welche die Baumwolle pflanzen, pflegen und pflücken. Das spielt sich außerhalb des Weichbildes von Torreón ab, in der Laguna. Dort fließt der Nil namens Río Nazas. Dort bewegen sich die Pumpen, die den arabischen Namen »Noria« führen, während die Araber sie schon längst »wells« nennen. Und dort arbeiten die hiesigen Fellachen, die Ejidatarios.
Der Name Laguna scheint darauf hinzuweisen, daß dort Wasser ist. Aber so etwas von Nichtwasser, so etwas von Dürre und Trockenheit! Wasser gibt es nur, wenn – einmal im Jahr – der Río Nazas außer Rand und Damm gerät und alles überschwemmt, manchmal wie 1917, und kurz nach meinem Besuch in der Laguna, 1944, in katastrophalem Ausmaß, Menschen und Vieh ertränkend, Felder, Straßen und Speicher vernichtend. Nachher kehrt der Fluß, als wäre nichts geschehen, in sein Bett zurück. Auf dem Weg dorthin läßt er seinen Unrat hinter sich und darauf wächst die Baumwolle im Schweiße des Angesichts von 100 000 Laguneros.
Der Bahnhof Torreón ist dem Hafen von Alexandria ähnlicher als einem Bahnhof. In Lagerhäusern, vor hydraulischen Pressen und an Baumwollballen schallt der Lärm von Geschäftskonflikten und neuen Abschlüssen. Obwohl der Krieg den europäischen und den japanischen Markt 254 abgeschnitten hat, herrscht Konjunktur. Denn einerseits braucht der Krieg Schießbaumwolle und andererseits Watte in unvorstellbaren Mengen, von Uniformen ganz zu schweigen.
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Erstaunlich ist es, an Ort und Stelle zu sehen, welche Industrien (außer dem Textilwesen) der kleine Baumwollstrauch schafft und welchen Einfluß er auf Weltwirtschaft und Weltpolitik ausübt.
Als eine der ersten erschien die Seifenindustrie. Ein Amerikaner namens John Brittingham aus San Louis, Missouri, erbaute auf dem Boden der Laguna und eines langfristigen Kontrakts eine riesige Seifenfabrik.
Bis dahin hatten die Egrenieranstalten die Baumwollfaser nur deshalb entkernt, weil die Kerne den Verspinnungsprozeß hinderten. Die Kerne selbst, Tausende von Tonnen, wurden verbrannt oder tief in die Erde versenkt. Nicht einmal als Dünger durften sie verwendet werden, denn sie galten als Gift für Mensch und Tier.
Nun kam Mr. Brittingham und bot 15 Pesos per Tonne für das wertlose und gefährliche Abfallprodukt. Wie vorteilhaft für die Baumwollherren von Torreón, und wie vorteilhaft erst für Mr. Brittingham. In Amerika hätte ihn das zur Herstellung benötigte Baumwollsamenöl zwölfmal so viel gekostet, wie in Mexiko die ganze Seife kostete. Mister John Brittingham war nicht mehr Mister John Brittingham, sondern Señor Juan Brittingham, er verkaufte seine Seife in Mexiko und schlug den amerikanischen Seifenimport aus dem Felde.
Um die Jahrhundertwende wollte der mexikanische Finanzminister Limantour die äußere Schuld Mexikos konsolidieren. Eine Pariser Bankengruppe war dazu bereit, und dafür erhielt die französische Konkurrenz des schwedischen Nobeltrusts das Dynamitmonopol für Mexiko. Die Société 255 Centrale de Dynamite, deren Präsident Paul Clemenceau war, Bruder des Oppositionsführers George, errichtete ihre Dynamitfabrik bei Torreón.
Warum bei Torreón?
Bei Torreón war erstens die Baumwolle und zweitens die Seifenindustrie. Das Öl der Baumwollkerne ergibt nicht nur Fettsäure für die Seife, sondern auch Glyzerin für das Nitroglyzerin. Um sich in transportables Dynamit zu verwandeln, bedarf das Nytroglyzerin eines Beiprodukts, und dieses ist wiederum Baumwolle, eine kurzstaplige, die mit Salpeter und Schwefelsäure zu Schießbaumwolle wird.
Die Fabriksanlagen außerhalb der Stadt sind selbst eine Stadt, die Stadt Dinamita. Heute gehört sie nicht mehr den Franzosen. Die haben in die innermexikanischen Zwistigkeiten Dynamit hineingetragen und gingen um 1913 mit den reaktionären Staatsstreichplänen in die Luft.
Jetzt wird die Stadt Dinamita von den Dupont de Nemours beherrscht, die außer ihrem französischen Adelsnamen das amerikanische Bürgerrecht besitzen und die Hoheitsrechte über die Chemie von USA. In urheberrechtlichem Sinn ist die Dinamita nicht das Werk der Dupont de Nemours, womit die Familientradition fortgesetzt wird. Auch der Stammvater der Dynastie war nicht der Urheber seiner chemischen Entdeckungen in urheberrechtlichem Sinn. Während der Französischen Revolution war er mit den chemischen Formeln seines Freundes Lavoisier nach Amerika gesegelt und hat auf Grund dieser Formeln Schießpulver gemacht und auf Grund dieses Schießpulvers Dollarmillionen. Als Amerika in den ersten Weltkrieg eintrat und unter dem Alien Property Act auch die Patente der deutschen I.G.Farbenindustrie beschlagnahmte, wurde Dupont der größte chemische Konzern der Welt. Unter anderem übernahm er das Sprengstoffgeschäft der amerikanischen Länder. 256
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Von Torre6n aus wird das Dynamit den Bergwerken ganz Mexikos zugeleitet. In einem der Dörfer der Laguna ist die Schule nicht nach Emiliano Zapata, Pancho Villa oder einem anderen der bekannten Bauernrevolutionäre benannt, sondern nach dem »Héroe de Nacozari«. Ich frage, wer das war und höre:
Es war einmal eine Zugsgarnitur, bestehend aus Lokomotive und drei mit Dynamit beladenen Waggons. Sie hielt auf dem Bahnhof von Nacozari, einer Bauern- und Arbeitersiedlung im Staat Sonora, und ein Eisenbahner, Jesús García, stand daneben. Die Achsen waren so heiß gelaufen, daß, wie Jesús García plötzlich bemerkte, das Schmieröl brannte. In der nächsten Minute mußte die Ladung explodieren und die Ortschaft vernichten. Anstatt zu fliehen, schwang sich Jesús auf die Lokomotive, gab Volldampf und sauste mit dem Zug los. Eine Minute später fuhr er mitsamt der Fracht in den Himmel, aber die Bewohner Nacozaris waren gerettet. Jesús García ist der Heroe von Nacozari.
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Damit, daß die Baumwollkerne aus dem Abfalleimer geholt und zu einer in Silberpapier eingewickelten Seife wurden, ist das Aschenbrödelmärchen noch nicht zu Ende.
Seit den Tagen Mr. Brittinghams hatte sich der Baumwollanbau überall so erhöht, daß die Seifenfabriken nur einen Bruchteil der Kerne verdauen konnten. Der Rest häufte sich zu Halden. Da kamen die Italiener auf die Idee, ihrem Olivenöl unauffällig das Öl aus den Baumwollkernen beizusetzen. Nach den ersten Versuchen nahm Italien immer mehr und mehr Kerne ab, Schiffsladungen, jahrelang.
Bis eines Tages die Amerikaner erfuhren, daß das aus Italien nach Amerika importierte Olivenöl fast zur Gänze aus dem Öl amerikanischer Baumwollkerne bestehe. 257
Wie war das möglich? Hat denn das Baumwollsamenöl nicht einen Beigeschmack, der es ungenießbar macht? Kaum war diese Frage gestellt, fuhren schon Industriespione nach Italien und insbesondere nach Triest, wo die größten Ölfabriken waren.
Sie erkundeten das Verfahren. Wenn man Baumwollöl mit kaustischer Soda und nachher im Vakuum mit Dampf behandelt, verliert es seinen Geruch und kann mit Olivenöl verschnitten werden, ohne daß es von diesem zu unterscheiden ist.
Sehr gut, Baumwollöl konnte also zum Kochen und Braten verwendet werden. Aber zum Backen? Nein, dazu taugte es nicht. Zum Backen brauchte man Fette von höherem Schmelzpunkt. Schnell erfanden die Chemiker die Hydrogenisierung: sie setzten den ungesättigten Glyzerinverbindungen der Fettsäure Nickelstaub zu und nachher Wasserstoff. Dadurch wurde ein höherer Schmelzpunkt erreicht, – die Revolution des Backofens. Alsbald ließ sich mit Pflanzenbutter, vegetabilischem Schmalz und Margarine backen, was es zu backen gab.
In Amerika entstanden grandiose Ölmühlen, gegen die sich die italienischen verstecken können, und während in Krisenzeiten die Baumwollfaser verbrannt wurde, blieben die Baumwollkerne wertbeständig.
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Wären bloß nicht Aschenbrödels Töchter gewesen, die Linters, die winzigen Härchen auf dem Kern. Für die Verspinnung waren sie nicht zu brauchen, und das Öl verdarben sie auch. Mit komplizierten Maschinen mußten diese Flaumhaare sorgsam abgesägt und abgesaugt werden zu dem einzigen Behufe, weggeworfen zu werden.
Jedoch auch Aschenbrödels Töchter blieben nicht unentdeckt, feierlich wurden sie auf den Warenmarkt geholt und 258 spielen heute eine große Rolle. Die Linters sind eine Zellulosequelle mit Verwendungsmöglichkeiten, die voneinander so verschieden sind wie Damenstrümpfe von Explosivstoffen und Matratzenfüllung von Kunstseide.
Auf dem Lintersthron von Torreón, der sozusagen eine explosive Matratzenfüllung und einen kunstseidenen Überzug hat, sitzt seit fünfundzwanzig Jahren Mister Pegram-Dutton, ein Engländer von überdimensionaler Länge. Als ich sein Büro betrat, welches gleichzeitig das Konsulat des Königs von Großbritannien ist, kam er (selbstverständlich der Konsul) zu mir heraus, deutete mit dem Daumen auf sein Arbeitszimmer und flüsterte: »Gerade sind zwei Herren aus dem Ministerium drin. Ich will mein Bestes tun, daß es nicht lange dauert.«
Es dauerte nicht lange. Wir sitzen nun in seiner Wohnung, und er erzählt mir, die beiden Herren hätten Linters im Ausfuhrregister erwähnt gefunden und wollten erstens wissen, wie hoch man sie im neuen Tarif für Exportzölle einsetzen solle und zweitens, ob man Linters nicht in Mexiko selbst verwerten könnte.
Mr. Pegram-Dutton hatte vor einem Vierteljahrhundert, als er, ein junger Heimkehrer aus dem ersten Weltkrieg, im Baumwollhafen Liverpool konditionierte, eine Anstellung nach Torreón angenommen. Von Torreón wußte er damals nur, daß es in dem Lande liege, wo ein Berg Popocatépetl heißt.
»Steht Torreón nicht in der British Encyclopaedia?« frage ich.
»Damals? Nein, was denken Sie! Heute steht es selbstverständlich darin.«
Ich fange an, mich für den Meyer zu schämen. Jedoch Mr. Pegram-Dutton besitzt die neueste Ausgabe der Encyclopaedia, wir schauen unter Torreón nach, und siehe da, es gibt kein Torreón. 259
»Nun«, sagt Mr. Pegram-Dutton, »eigentlich ist Torreón erst seit 1936, seit der Cárdenasschen Bodenaufteilung an die Baumwollarbeiter zu dem geworden, was es jetzt ist. Innerhalb dieser acht Jahre hat sich die Einwohnerzahl um mehr als ein Drittel erhöht, und es sind in dieser Zeit mehrere tausend Häuser gebaut worden.«
Ich frage, wieso das mit der Bodenaufteilung zusammenhängen soll.
»Die Großgrundbesitzer waren Ausländer, Spanier zumeist, die entweder in Mexiko-Stadt lebten oder gar in Madrid, wo sie ihre Gewinne investierten oder ausgaben. Früher besaß ein Hacendado bis zu 75 000 Hektar, heute sind 150 Hektar das gesetzlich festgelegte Maximum. Allerdings . . . hat er rechtzeitig sein Vermögen auf Frau und Kinder überschrieben, so besitzt er mit seiner Familie drei- oder viermal 150 Hektar. Aber auch das ist nur ein Bruchteil seines ehemaligen Eigentums. Um nun den alten Profit herauszuholen, hat er Intensivbewirtschaftung eingeführt und vor allem seinen Absentismus aufgegeben, das heißt er lebt nicht mehr ferne von der Scholle, sondern auf ihr, sein eigener Verwalter. Natürlich schimpfen die ehemaligen Hacendados über die Aufteilung, unter vier Augen gestehen sie aber zu, daß sie sich nicht sehr zurücksehnen nach der Unübersehbarkeit ihrer Ländereien und nach dem Ärger mit den Peonen und ihren Forderungen, die oft sehr unangenehm waren. Sie verstehen?«
Ich verstehe, obschon ich zum erstenmal das Eingeständnis höre, daß durch die Landaufteilung die »Beraubten« nichts verloren und die Stadt einen ungeahnten Aufschwung erlebte. Ich könnte so etwas niemals aussprechen, ohne mir den Vorwurf plumpester Propaganda zuzuziehen. So frage ich denn: »Darf ich das als Ihre Meinung zitieren, Mr. Pegram?« 260
»Sie können ruhig schreiben, daß ich das gesagt habe«, sagt der britische Konsul, »aber fügen Sie, bitte, hinzu, daß ich im Prinzip ein Gegner der Bodenpolitik von Cárdenas bin.«
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Im Gespräch mit dem Direktor von Insecticidas y Fertilizantes wird mir ganz schwindlig von den Ziffern, mit denen er herumwirft, von den Quantitäten der Baumwolle, die durch Kapselwurm, Rotwanze und andere Insekten zugrunde gehen. Noch höher sind die Ausgaben für Gegenmittel. Denn diese Gegenmittel werden zu Dollarpreisen aus USA. importiert, wiewohl Mexiko die chemische Gegenwehr selbst bewaffnen könnte. Der Krater des Popocatépetl, welcher schon den Konquistadoren seinen Schwefel für ihre Munition darbot, besitzt sicherlich heute noch genug davon, um alles Ungeziefer auf weiter Flur zu vergasen.
Der schädlichste Schädling ist der »Gusano rosado«, der rosafarbene Wurm, Pectinophora gossypilas. Dem ist im Grunde nur durch einen Wettlauf beizukommen: man muß sich bemühen, die Pflanze zur Blüte zu bringen, bevor sich die Motte entwickelt.
Von einem anderen Schädling, dem Boll-weevil, spricht der Direktor nicht anders als vom »Mister Boll-weevil«, womit er andeutet, daß dieser Unglückswurm den Yankees zu verdanken sei. Aber zufällig fällt mir ein Lied ein, das die nordamerikanischen Baumwollarbeiter im Cotton Belt singen, und das den Boll-weevil einen Landfremden nennt, einen Ausländer aus – Mexiko.
The boll-weevil is a little bug
From Mexico they say
He came to try the Texas soil
And thought he'd better stay
Just looking for a home,
Just looking for a home. 261
Um mich in keine Debatte über Rassen- und Fremdenhaß einzulassen, steuere ich mein Gespräch aus dem Fahrwasser der Insecticidas in das der Fertilizantes.
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Nun ja, mit den Düngemitteln sei es wie mit der Schädlingsvertilgung. Mexiko ist eben kein Industrieland und muß teuer einführen, was es billig herstellen könnte. Von den Erzeugnissen Mexikos gehen die meisten ins Ausland ab, auch solche, die Mexiko selbst benötigt. Zum Beispiel die Ölkuchen, Rückstände der gepreßten Baumwollsamen. Dieses ölhaltige, leichtverdauliche Viehfutter wird nicht auf den Triften Mexikos, sondern auf denen Skandinaviens verdaut. Für Mexiko bleibt ein Dreck, das heißt nicht einmal der, obwohl das Land natürlichen Dünger brennend braucht.
Wohl nennt Mexiko ein ganz besonderes Düngemittel sein eigen und noch dazu eines, für das die USA. lockende Preise bieten: Bat Guano, Fledermaus-Exkrement. Seit den Nächten des Diluviums hausen in den Bergeshöhlen von Durango, Coahuila und Chihuahua Generationen von Fledermäusen und machen dort das, was sie gegessen haben. Selbst die phantasiebegabtesten dieser Fledermäuse kamen nie auf den Gedanken, daß das Resultat ihrer Notdurft dereinst von der nordamerikanischen Agrikultur heiß begehrt sein werde.
Ich frage den Direktor von Insecticidas y Fertilizantes, ob er auch Dreck am Stecken, d. h. Bat Guano auf Lager habe. Der Direktor wundert sich einerseits, daß ich schon von diesem Artikel wisse, fügt aber andererseits hinzu, daß jetzt auch die Neunmalweisen der Bürokratie davon erfahren haben. Durch ein Bundesgesetz wurde das Bat Guano neben Gold und Petroleum in die Reihe der Bodenschätze eingereiht, welche Eigentum der Nation sind und ohne behördliche Bewilligung nicht ausgebeutet werden dürfen. 262 Aber vorläufig bekämen Privatfirmen kein Schürfrecht auf den Dreck der Fledermäuse.
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Im Gebiet von Torreón gibt es Primärindustrien, die nichts mit der Baumwolle zu tun haben, höchstens mit dem wegen der Baumwolle entstandenen Straßen- und Eisenbahnnetz. Guayule zum Beispiel. Sicherlich steht auch Guayule noch nicht im Meyer und auch im Brockhaus nicht und tritt aus meiner Leier zum erstenmal ins Licht, und zwar in Gestalt eines Strauches.
Guayule fängt zu wachsen an, wo die Baumwolle zu wachsen aufhört. Auf diesem Randgebiet der Botanik ist der Boden noch brüchiger und dürrer als auf dem Baumwollfeld, und die Erdfläche schwingt sich zu Hügelwellen auf, zu Bergen. Wild sproß dort der Guayulestrauch. Die Indios der Vorzeit machten Gummibälle aus dem Pflanzensaft. Manchmal riß ein vorbeireitender Vaquero (die mexikanische Version des Cowboys, und wie alle Amerikaner ein Gummi-Kauboy) ein Stück der Pflanze ab und schob es zwischen die Zähne.
Nun zerkaut der Krieg, der allen Gummi der Welt in sein Gebiß schiebt, auch den Guayule. Der ist nicht ganz reiner Gummi, denn er enthält zwanzig Prozent Harz. Aber für viele Gummifabrikate ist er gut genug und besonders dafür, dem synthetischen Gummi beigesetzt zu werden. In Torreón gibt es eine Fabrik zur Bearbeitung von Guayule, sie gehört der Mexican Rubber Co., die wie schon der Name »Mexican« besagt, nichts mit Mexiko zu tun hat, sondern eine amerikanische Gesellschaft mit holländischem Kapital ist. Nur das Rohmaterial stammt aus Mexiko und wird zu mexikanischen Arbeitslöhnen manipuliert für »Euzkadi«, »General Popo« oder andere Firmen, welche die mexikanischen Pseudonyme nordamerikanischer Gummikonzerne sind. 263
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Torreóner Freunde fragen mich, ob ich das älteste Bauwerk der Stadt sehen will. Gewiß, ich will. Meine Augen sind müde von den Neubauten, sie möchten etwas aus vergangenen Epochen sehen, eine Pyramide oder wenigstens einen massiven Bau aus der Kolonialzeit.
So lasse ich mich zum ältesten Bauwerk führen. Es steht in der Altstadt und ist ein Türmchen, das auch so heißt – torreón – und dem ganzen Umkreis den Namen gab. Auf Quadratmeilen ist dieses Türmchen mitsamt der Hacienda, die daran lehnte, der einzige menschliche Wohnsitz gewesen. Das Türmchen ist etwa sechzig Jahre alt.
In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Grundstücke dieses Gebiets von den Firmen »Agostin Gutheil« und »Rapp, Sommer & Cia.« erworben worden, deutschen Banken in der mexikanischen Hauptstadt. Sie schickten Andreas Eppen, den Sohn eines Emigranten aus Fürth in Bayern, als Verwalter auf die Parzellen. Dort stellte er sich den festen Turm hin, um den nach und nach die Baumwolle eine große Stadt baute, eine vielsprachige Stadt.
Im Zentrum von Torreón hört man fast ebensoviel englisch wie spanisch. Mit dem französischen Sprengstoffwerk kamen merkwürdigerweise zumeist Italiener herüber, weil die Société Centrale de Dynamite eine Filiale in Avigliana bei Turin besaß, wo die Arbeiter billiger zu haben waren. Von den Franzosen kehrten viele nach Frankreich zurück, die Italiener blieben. Sie haben sich von Anfang an mit Seidenraupenzucht befaßt und ihren Wein angebaut. Später machten sie teils mit Weinbau, teils mit der Umwandlung von Baumwollöl in Olivenöl ihr Geschäft. Eine geschlossene Kolonie in Torreón bilden die Chinesen, ihnen gehören die Lebensmittelläden. 1911 gab es ein Pogrom, dem 300 Chinesen zum Opfer fielen. In der Textilbranche sind die Franzosen führend. Vertreter aller Nationen hatten sich in 264 Torreón zu vorübergehendem Aufenthalt eingerichtet und blieben ständig.
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Da ich in den Zug einsteige, um wegzufahren, läuft jemand den Perron entlang und ruft meinen Namen. Herr Utulnik aus Nimburg in Böhmen. Seine Frau war heute in Torreón und hatte in der Botica Europea gehört, ein Tschechoslowake sei hier und reise um elf nach der Hauptstadt zurück. Diese Sensation hatte sie ihrem Mann telefoniert nach seinem Rancho, fern der Stadt und nahe dem Wendekreis des Krebses. Herr Utulnik raste im Auto los, um den Landsmann noch zu erwischen und mit ihm ein paar tschechische Worte zu wechseln. Durchs Waggonfenster erzählt er mir, daß er schon zwanzig Jahre in Torreón ansässig sei. Zuerst habe er hier eine Prager Selcherei betrieben, hernach kaufte sein spanischer Schwiegersohn eine Baumwoll-Hacienda. Die aber wurde aufgeteilt, nur 150 Arbeiter könne er noch beschäftigen.
Die Türen werden zugeklappt. »Wie schade, Landsmann«, ruft er herauf, »wie schade, daß Sie schon wegfahren.«
»Nun«, rufe ich hinab, »in Mexiko werden wir mehr miteinander reden können.«
»Ach«, ruft er, »ich war noch nie in der Hauptstadt.«
»Noch nie in der Hauptstadt?« rufe ich, »wie ist das möglich?«
»Solange ich Fleischer war, hatte ich nicht genug Geld, und jetzt habe ich nicht genug Zeit. Seit dieser Landaufteilung kann ich mich nicht mehr vom Rancho rühren.«
Bei diesen Worten, die aussagen, wie der Absentismus der Grundbesitzer ins Gegenteil umgeschlagen hat, fährt mein Zug aus Torreón ab. 265