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Ziemlich schwer hatte es die Mutter Gottes von Guadalupe, sich durchzusetzen, denn nur ein alter Indio hatte sie erscheinen gesehen, als erster und einziger. Dieser Indio war im Alter von fünfzig Jahren auf den Namen Juan Diego getauft worden und hatte gleichzeitig den Beschluß gefaßt, seine Ehe von nun an in Keuschheit und Enthaltsamkeit zu führen, sich auf ein quasi geschwisterliches Zusammensein mit seiner Frau zu beschränken. Nach dem Tod der bedauernswerten Ehefrau wohnte Juan Diego mit seinem Onkel Bernardino, und an diesem sollte sich bald die erste christliche Wunderheilung vollziehen, in dem Lande, wo bisher nur heidnische gang und gäbe waren.
Am 9. Dezember 1531, auf dem Weg zur Morgenmesse in die kilometerferne Hauptstadt, hört Juan Diego plötzlich seinen Namen: »Hänschen, Hans-Jaköbchen!« Es ist am Fuß des Felsens Tepeyac. Hier hatten seine Eltern und seine Voreltern und auch er selbst noch vor nicht langer Zeit aus dem heiligen Quell der Göttin Tonantzin getrunken und zu ihr um die tägliche Tortilla gebetet. Noch immer wallfahren Indios aus den drei ehemaligen Königsstädten Tenochtitlán, Tlaxcala und Texcoco, ihrer Taufe spottend, insgeheim zu Tonantzin, drehen sich, wenn auch nur nächtlicherweile und ohne Trommelwirbel, im althergebrachten Tanz, und bringen ihr verstohlen eine Fülle von Opfergaben.
Da das angerufene Hänschen ängstlich seinen Blick zur heidnischen Höhe erhebt, steht dort in hellem Schein eine dunkle Señora. Sie ruft ihm zu, sie sei die Jungfrau Maria, Mutter des wahren Gottes, und wünsche, daß ihr an dieser Stelle ein Tempel errichtet werde. 79
Geradenwegs läuft Juan Diego in den bischöflichen Palast und wird – hier ist ein Wunder, glaubet nur – vom Bischof persönlich empfangen. Aber Bischof Zumárraga verspricht nicht, den Wunsch der höchsten Frau unverzüglich zu erfüllen, den Bau der Kirche auf der Stelle in Angriff zu nehmen. Er sagt dem Boten nur, eine so wichtige Sache müsse erst überprüft werden.
Bedrückt kehrt Juan Diego zurück und berichtet der Señora, denn diese steht wieder oder noch immer auf dem Felsen Tepeyac, man habe ihm offenbar nicht geglaubt. Warum, fügt er vorwurfsvoll hinzu, warum habe sie denn ihn, einen so Klein-Kleinen, hingeschickt? Die Señora erwidert, sie habe wohlweislich ihn gewählt, und er möge morgen noch einmal zum Bischof gehen.
Morgen ist ein Sonntagmorgen und es ist daher noch verwunderlicher als das erstemal, daß der barfüßige Indio gleich vorgelassen wird. Zumárraga erklärt, er glaube dem Boten, gewiß, aber ohne authentisches Dokument könne er nichts unternehmen.
Gefolgt von Spähern des Bischofs (wie dieser später aussagt, damit ihm keine Unterlassung vorgeworfen werde), verläßt Juan Diego .den Palast. In der Nähe des Felsens verlieren die Verfolger seine Spur. So ist er allein mit der Señora und wiederholt ihr die Worte des Bischofs und dessen Forderung. Daraufhin verspricht sie, ihm am nächsten Tag ein unwiderlegliches Beweisstück zu liefern.
Zur befohlenen Stunde kommt aber Juan Diego nicht an den befohlenen Ort; er bleibt den ganzen Montag über bei Onkel Bernardino, der in den letzten Zügen liegt. Erst am Dienstag, dem 12. Dezember, geht Juan Diego aus, um einen Priester mit den Sterbesakramenten zu holen. Weil er Vorwürfe der Señora fürchtet, die er gestern warten ließ, will er sich auf der anderen Seite des Felsens, am Osthang, vorbeischleichen. Dort, wo sich später ein vortrefflich geeigneter Bauplatz für die aufzurichtende Kirche ergeben wird, 80 tritt die Señora hervor, hört die gestammelte Entschuldigung des Indios an und verkündet ihm, sie habe eben seinen Onkel geheilt.
Was sie dem Juan Diego dann aufträgt, steht wörtlich in den kanonischen Akten, wenngleich dort nicht erwähnt ist, in welcher Sprache die Worte zu dem Indio gesagt wurden: »Und nun besteige diesen Felsen, pflücke die Blumen, die du am Gipfel finden wirst, lege sie in deinen Mantel und bringe sie mir.«
Juan Diego erklimmt die Steinhöhe, auf der sonst nur Kakteen wuchern. Aber siehe da, heute blühen hier Rosen. Er zieht seine Tilma aus, sammelt die Rosen hinein und trägt sie zur Señora. Die drückt ihre Hände in den Blumenflor und befiehlt ihm, damit zum Bischof zu gehen.
Zumárraga feiert eben in großem Kreis den Jahrestag seiner Ernennung zum Bischof. Da tritt der Indio ein, setzt seine Barfüßigkeit auf das spiegelnde Parkett und schüttet aus dem Mantel die Rosen mit zugehöriger Legende. Und was sehen die versammelten kirchlichen Würdenträger außerdem? Außerdem sehen sie auf der Innenseite des Mantels ein farbenprächtiges Bild der Mutter Gottes.
Nichts in dieser Wundergeschichte ist zufällig und absichtslos. Der Indio versäumt eine ausdrücklich vereinbarte Zusammenkunft mit der Heiligsten der Heiligen, und infolge dieses Versäumnisses bringt er die Beglaubigung gerade am Jubiläumstag des Bischofs bei. Eines solchen himmlischen Geschenks bedarf Bischof Zumárraga dringend, denn auf Erden hat er viele Feinde. Die Gelehrten unter den Padres werfen ihm vor, daß er tausende und aber tausende unschätzbarer Bildwerke und Dokumente vernichten ließ, die Beweise, daß das unterworfene Aztekenreich keineswegs von Kannibalen bewohnt war, sondern von Menschen mit erstaunlicher Kultur.
Erbarmungslos geht Zumárraga gegen jene Indios vor, die ihre Tradition nicht so schnell vergessen können, noch 81 immer glauben, überirdische Wesen seien imstande, Regen zu machen, Erdbeben zu verhindern, Überschwemmungen zu beenden und Kranke zu heilen. Zumárraga leitet persönlich die Verhöre vor dem Glaubensgerichtshof, auch gegen Indios, die später als »Menschen ohne Vernunft« der offiziellen Inquisition nicht unterstehen werden. Der Kazike von Texcoco, der am Scheiterhaufen verschmoren muß, ist nur einer von den Blutzeugen für Zumárragas unchristliche Eiferei.
Noch nach seinem Tode wird Zumárraga von priesterlicher Seite befehdet. In einer Predigt, bei welcher der Vizekönig und die Mitglieder des königlichen Rates – sicherlich nicht zufällig – anwesend sind, greift Fray Bustamante, Provinzial des Franziskanerordens, das Bildnis von Tepeyac an, dem der Name »Guadalupe« gegeben wurde, um es dem wundertätigen spanischen Gnadenbild dieses Namens gleichzustellen. Die Jungfrau von Tepeyac habe ein indianischer Maler, namens Marcos Aquino Cipac im Auftrag und gegen Bezahlung des Bischofs Zumárraga gemalt. Den Indios aber rede man ein, es sei ein Selbstporträt der heiligen Jungfrau, eine vom Himmel stammende Gabe. »Wer da behauptet, daß die Mutter Gottes von Guadalupe Mirakel tue«, ruft Fray Bustamante mit Donnerstimme, »sollte mit hundert Peitschenhieben bestraft werden, und wer bei dieser Behauptung verharrt, mit zweihundert.« Auffallenderweise schreitet weder die kirchliche noch die weltliche Obrigkeit gegen den waghalsigen Prediger ein.
Auch andere bezweifeln die Authentizität der Erscheinung, nennen sie ein von Zumárraga ausgehecktes Konkurrenzmanöver gegen die Wallfahrtskirche von Los Remedios, und die Verteidiger der Jungfrau von Guadalupe sehen sich genötigt, die profanen Wissenschaften zu bemühen. Die Sternwarte von Tacuba erklärt, ohne ein Wunder konnte am Morgen des 12. Dezember 1531 auf dem Tepeyac-Felsen eine Gestalt unmöglich sichtbar gewesen sein. Ähnlich 82 formulieren die Botaniker: nur ein Wunder konnte auf dem Granitboden des Tepeyac-Felsens Rosen wachsen lassen. Im 17. Jahrhundert geben Chemiker und Maler das Gutachten ab, das Gemälde sei nicht mit irdischen Farben gemalt, denn es hänge seit hundert Jahren ungeschützt an der Wand und werde von den Ammoniakdünsten des nahen Sees umhaucht, ohne Schaden zu erleiden. (Jetzt ist der See längst trockengelegt, und das Bild hängt unter Glas.)
Mehr als zweihundertzwanzig Jahre verweigert der päpstliche Stuhl die Anerkennung des Wunders. Erst 1754 wird sie bewilligt. Eine Delegation aus Neu-Spanien stellt eine Kopie des Marienbildes vor Benedikt XIV. hin. Er sinkt nicht in die Knie, er spricht nur die Worte: »Non fecit taliter omni natione – Nicht jedem Volke ward solches getan.« Dann ernennt er in einer Bulle die Jungfrau von Guadalupe zur Hauptpatronin der neuspanischen Nation.
Für die Indios war sie es schon vorher gewesen. Und blieb es auch weiterhin. Hidalgo, erster Führer der Revolution, wählte die Jungfrau von Guadalupe zur Patronin der Unabhängigkeit, der erste Kaiser von Mexiko, Iturbide, schuf den mexikanischen Adel als »Caballeros de Guadalupe«, und der erste Präsident der Republik Mexiko wurde es unter dem selbstgewählten Namen Guadalupe.
Im Unabhängigkeitskrieg stehen die Jungfrau von Guadalupe, die »India«, und die Jungfrau von Los Remedios, die »Gachupina«, auf entgegengesetzten Seiten der Barrikade. Die Virgen de los Remedios führt das Heer des Vizekönigs, wogegen die Guadalupanerin einen formellen Befehl erhält, binnen vierundzwanzig Stunden das Land Mexiko zu verlassen. Wo die spanienfreundlichen Truppen ihres Bildes habhaft werden, stellen sie es vor ein Peloton und füsilieren es. Ist sie doch die Schutzpatronin der Klosterstürmer und Gottesleugner.
Aber nach der Schlacht findet sich fast auf jedem Leichnam, sei er von hüben, sei er von drüben, ein Medaillon 83 mit dem Gnadenbild von Guadalupe. Denn an sie glauben alle, sie ist das nationale Symbol, sie ist nicht weißhäutig wie die Spanier, und hat es, anders als die Herrscher Spaniens, nicht verschmäht, im Land der Indios zu erscheinen. Der Gedenktag dieses ihres Erscheinens ist das Fest von Mexiko.
Den von Iturbide gegründeten Guadalupe-Orden erneuert vierzig Jahre später der Österreicher Maximilian und verleiht ihn freigebig an Mexikaner und Europäer, welch letztere baß erstaunt sind, denn sie sind sich keines Verdienstes um Mexiko bewußt. Auch an den Dichter Friedrich Rückert schickt Maximilian das Heiligenbild am blau-hellvioletten Band, und so liegen im mexikanischen Staatsarchiv die Verse eines deutschen Dichters, das Dankschreiben Rückerts:
. . . ob ich der Gnade würdig bin?
Nun, wenigstens von Anbeginn
War zugewandt mein wärmster Sinn
Der Neuwelt neuem Reich,
Dem Zukunftsreichen.
Im Zeitraum zwischen der Stiftung und der Erneuerung des Guadalupe-Ordens, zwischen Iturbide und Maximilian, die beide wegen ihres Kaisertraumes erschossen wurden, erlebte Mexiko den unglücklichen Krieg gegen die Vereinigten Staaten. Mexiko hoffte, durch Friedensverhandlungen zu Füßen der Landespatronin werde der Frieden ein guter Frieden werden. Aber der Friedensvertrag von Guadalupe entriß Mexiko die reichsten Provinzen, darunter Kalifornien, das sich eben als das Goldland entpuppte. Dem Ansehen der Jungfrau tut das keinen Abbruch, und jedermann huldigt ihr an ihrem Fest.
Nirgends gibt es eine Kirmes von solcher Vielfalt, solcher Buntheit und solcher Traurigkeit. Die Nacht auf den zwölften Dezember knien Zehntausende von Gläubigen vor dem Haupttor der Basilika von Guadalupe, warten auf Einlaß. 84
Die ganze Nacht lang und pausenlos drehen sich und schaukeln sich hinter der Kirche Tanzgruppen mit ernster Miene. Die Stoffe der altindianischen Kostüme sind zumeist Massenware, und die Instrumente sind keineswegs die selbstverfertigten ihrer Ahnen, sondern Mandolinen. Nur ein oder der andere Tänzer bewegt einen Ast, von welchem Muscheln klirren oder die Schuppen eines Gürteltiers; einst bildeten die Spieler dieses Instruments, die concheros, den Kern der Wallfahrtsmusik. Getanzt wird eine balladeske oder epische Handlung, eine Verherrlichung des Cid, der die Mauren vertrieb, und des Cortez, der die Azteken besiegte.
Von dort, wo die heilige Señora auf Juan Diego wartete, führt ein Treppenweg zu der Höhe, wo Juan Diego Rosen vom kahlen Stein pflückte. Am Jahrestag dieser Begebenheit ist der Weg kaum gangbar, Hunderte rutschen auf den Knien felsenaufwärts, alte Leute werden von Söhnen oder Enkeln von Stufe zu Stufe gehoben. So knien sie sich zur Capilla del Cerrito empor und zum wundertätigen Felsenfriedhof.
Rechts und links dieses Weges kampieren auf dem Felsenhang, wo immer er Platz dazu läßt, die Pilger. Ganze Ortschaften. Kleine Holzkohlenöfen glimmen, in Sarapes gehüllt schlafen Indiomann und Indiokind, während die Indiofrau bereits aufgestanden ist, um Tortillas zu backen.
Unten die Kirche ist von Ständen und Buden umzingelt. Händler und Händlerinnen verkaufen die autochtonen Besonderheiten ihrer Gegend, und die in der Hauptstadt wohnenden Landsleute treffen sich hier; im Glanz seiner Uniform steht ein Polizist da und weiß, daß man in seinem Dorf lange von ihr erzählen wird. Gebannt starren zwei Verkäuferinnen auf den städtischen Hut eines Mädchens aus ihrem Dorf. Jeder Stand ist Tagung einer Landsmannschaft, ein Heimatfest in der Ferne.
Ost ist Ost und West ist West, aber auf diesem Markt kommen die beiden zusammen. Leute vom Atlantik 85 erhandeln Waren vom Pazifik, der Yaqui-Indio kauft eine Kürbisflasche der Otomi, Knaben aus den Ölgebieten naschen Fruchtbrot aus Puebla, alle kaufen Bänder, auf denen die Längenmaße von Gesicht und Gestalt des Madonnenbildes markiert sind, Farbendrucke mit Szenen aus dem Leben Juan Diegos und geweihte Medaillons.
Wie die Menge ins Innere der Kirche kommt, weiß sie selber nicht. Eine unbekannte Macht preßt sie fest in die Arme und trägt sie vorwärts, um sie im Kern eines Lichtkegels abzusetzen.
Heller, greller kann es auch im Himmel nicht sein zu Füßen der Himmelskönigin. Der von Sierra und Selva herbeigekommene Indio, der kaum jemals ein Haus von innen sah, unmöglich könnte er inmitten dieser Pracht etwas anderes empfinden als das, was er empfindet. Er fällt auf die Knie und läßt sich bis zum Altar tragen von jener Woge. Dazu braust die Orgel, die Glocken klingen und ein vielhundertstimmiger Engelschor singt ein altes Morgenlied mit dem Refrain:
Despierta, mi alma, despierta
Si acaso dormida estás;
Ya tienen la gloria abierta
asómate y la verás.
Wenn die Seele erwacht und das Auge entblendet ist, erkennen sie den Engelschor als eine Gruppe weißgekleideter Mädchen und schwarzgekleideter Frauen, die vor dem Altar knien und ohne Pause ihren Weckruf ertönen lassen:
Wach' auf, meine Seele, erwache,
Falls dich der Schlaf umfängt;
Schon ist der Ruhm entfaltet,
Bisher war er verhängt.
Der Lichtschein läßt die Innenarchitektur im Dunkel, die von der Pariser Rue de la Sulpice fix und fertig geliefert zu sein scheint, dem Handelszentrum für 86 Kircheneinrichtungen. Jedoch das Gold des Altars und der Meßgeräte, die Marmortafeln, Mosaiken und Gemälde an den Wänden und die Farbenfenster geben den Lichtern ein optisches Echo.
In der höchsten Höhe des Altars hängt das Bild. Die Madonna trägt ein hochgeschlossenes Kleid und darüber eine von Sternchen besäte Tunika, die vom Kopf bis zu den Füßen reicht. Sie schwebt auf einem ursprünglich wohl silberfarbenen, nun aber oxydierten Halbmond, den ein Cherub stützt. Die ganze Figur ist von einem Oval aus Licht umrahmt, ein Heiligenschein aus hundertdreißig Strahlen. Das Gesicht der Indioheiligen ist nicht bronzen, sondern ein dunkles Grau, Nase und Mund schmal, – keinesfalls hat das Antlitz auch nur das Geringste mit dem eines Indiomädchens gemeinsam. Deshalb erklärten die ersten Apologeten, die etwas Nationales in dem Bild entdecken mußten, es stelle die Mutter Gottes als Mischling, als Mestizin dar. Daß es damals, zehn Jahre nach dem Eintreffen der Spanier, außer Kindern keine Mestizen in Mexiko gab, sei ein Beweis für die prophetische Kraft des Bildes, für seinen überirdischen Ursprung.
Verzückt schaut die Menge nach oben, dieweil sie altarwärts geschoben wird und dann seitlich in einen saalartigen Korridor. Obwohl hier kein Neonlicht strahlt, ist es so hell wie im Kirchenschiff. Viele hundert Kerzen, bunte, geflochtene, modellierte, armdicke und gewöhnliche, brennen vor einer Kopie des wundertätigen Bildes. Die Kopie hängt zwar in einem Glasschrein, ist aber nicht so unnahbar hoch wie das Original, für das sie die Huldigungen entgegennimmt: alle Vorbeigehenden küssen das Glas oder reiben es mit der Handfläche, um diese nachher zum Munde zu führen oder an eine der besonderen Benedeiung bedürftige Körperstelle.
Wer sollte nicht an Wunder glauben, wenn sie hier in einer Sprache attestiert sind, die auch der Analphabet versteht. Eine Wand ist ausgefüllt mit bunt gemalten Beglaubigungen oder Danksagungen, »retablos« genannt. Ihre Primitivität 87 könnte auch der berühmteste Primitivist mit all seiner Technik nicht erzielen. Auf Blechplatten ist die Lokalchronik des Volkes verzeichnet, verzeichnet vom Volke selbst: Ein Pferd scheut, und die Insassen fallen kopfüber aus dem Wagen . . . In der Arena stürzt ein Stierkämpfer, und schon berühren die Hörner des sichtbarlich schnaubenden Bullen seine Brust . . . Leichengelb, die Augen geschlossen, ein Kind im Krankenbett . . . Banditen schießen auf einen Omnibus, die Passagiere springen aus den Fenstern . . . Eine Klapperschlange schlängelt sich an Mutter und Kind heran, die am Fluß Wäsche waschen . . . Vor einer Pulquería liegen Gäste, in deren Brust Messer stecken . . . Eine Gerichtsverhandlung . . . Auf dem Körper eines Neugeborenen kriecht ein Skorpion . . . Ein Eisenbahnzug entgleist in hohem Bogen, während die Opfer des sich eben ereignenden Unfalls bereits auf dem Bahndamm liegen . . . Ein Boot in Xochimilco kippt um, eine Frau und vier Kinder versinken . . .
Aber jedem dieser Ereignisse wohnt die Jungfrau von Guadalupe bei, immer in der rechten oberen Ecke und auf gelbem Fond. Sie hat den Spender des Bildes im letzten Augenblick gerettet, und deshalb spendete er das Bild. Die Größe der Gefahr betont eine Beschreibung, die darunter steht und ebenso orthographisch ist wie die Malerei. Ein Geretteter schließt seinen Dank mit der Mitteilung: »Bei diesem Banditenüberfall kam auch José García Jiménez ums Leben, der Vater meiner Frau, und wir erbten von ihm vierhundert Pesos.« In Wort und Bild dankt ein Spender dafür, daß ihn der Gedanke an die Heilige von Guadalupe vor einem Meineid bewahrte.
Oft wird der Text dazu benützt, um dem Feind eins auszuwischen. Der Autor dieses Buches besitzt ein aus einer aufgehobenen Kirche stammendes Retablo. Ein Hahnenkampf. Der eine Hahn, der gelbe, liegt auf dem Rücken, der andere, der schwarze, aber wartet stoßbereit, ob sich der Gegner nicht ermannen und gegen ihn wenden werde. Der Kampf 88 ist also noch im Gange. Dessen ungeachtet vollzieht sich inmitten der Arena, vor den Augen des Publikums, ein Menschenkampf. Augenrollend, zähnefletschend, mit einem überlebensgroßen, bluttriefenden Messer stürzt ein riesenhafter Mann auf einen anderen zu. Dieser andere liegt neben dem Hahn, und in seiner Brust klafft eine Wunde. Wir würden um ihn zittern, ahnten wir nicht in ihm den zukünftigen Spender des Bildes mitsamt dem folgenden Text: »Die heilige Jungfrau hat mich gerettet vor einem Dolchstoß, den mir versetzt hat mein Pate Chente Rosales aus Chicoloapan am 9. August 1875. – Crescencio Arriaga.«
Allgegenwärtig ist die heilige Jungfrau. Aber prophylaktisch ist es, sie nicht erst zum Erscheinen zu bemühen. Darum hängt ihr Bild überall. Das Mädchen hat es über dem Bett und verhüllt es nur, wenn dort der Novio zu Besuch ist, Freund oder Bräutigam. Den Führersitz im Autobus segnet das Heiligenbild, oft umrahmen es Photos von Stierkämpfern, Kinostars oder schöngewachsenen Frauen, die es sich bequem gemacht haben. Bei einer Zirkusprobe sahen wir, wie ein Bild der Virgen de Guadalupe an das Gitter des Löwenkäfigs gehängt wurde. Und siehe da, kein Unglück geschah.
Das sind die kleinen Wunder. Die großen sind in den Chroniken und Legendenbüchern verzeichnet. Zum Beispiel die großen Wunder, daß nach Bittprozessionen mit Vorantragung des Gnadenbildes allsogleich die Überschwemmung oder die Dürre oder das Erdbeben oder die Pest verschwanden.
Zuerst hatten die Indios nur die Taufe angenommen und gelernt, das Kreuz zu schlagen, das Paternoster auf lateinisch auswendig herzusagen und das Salve Regina, das Ave Maria und das Credo nachzusprechen. Dann hörten sie von den Wundern und waren, um gleichfalls solcher teilhaftig zu werden, zum Glauben bereit. Jedoch von den Wunderplätzen ihrer Ahnen ließen sie sich nicht vertreiben, und so mußte Mohammed zum Berge kommen. Jeder Göttertempel wurde 89 eine Kirche, jede Opferstätte ein Wallfahrtsort, und in der Hauptstadt, unweit der Stelle, wo die indianischen Hohepriester in schauerlicher Schau Menschenopfer dargebracht, taten die Männer der Inquisition das gleiche. Auf dem einstigen Wohnsitz der Göttin Tonantzin wogt heute auf einem Kirchenfest fromm und scheu das Volk, »dem solches getan ward«.
Alle haben die Litanei der »Mañanitas« angehört, die gläserne Schutzwand geküßt, die gemalten Wunder angesehen, sich bei den trüben Tänzen aufgehalten, kniend den Felsen erklommen, vom heiligen Quell getrunken und genießen jetzt das Kirmestreiben. Aber auch wenn die Frauen grelle Tücher erstanden und die Männer ein paar Gläser Pulque getrunken haben, fröhlich sind sie nicht. Denn sie erhoffen im Diesseits nur ein Wunder aus dem Jenseits. 90