Egon Erwin Kisch
Entdeckungen in Mexiko
Egon Erwin Kisch

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Agavenhain in der Kaschemme

I

Nichts auf Erden entwickelt sich so prächtig und endet so schimpflich wie die mexikanische Agave. Und nur um dieses schimpflichen Endes willen wächst, blüht und gedeiht die Agave, Maguey genannt, im zentralen Hochland Mexikos. Ihre riesenhaften, smaragdenen Rosetten krönen die Triften, säumen die Felder, bedecken die Hänge, schmücken die Gärten, verhindern die Wüsten Wüsten zu sein und erfreuen sich eines ästhetischen Lebens bis zu jenem schimpflichen Ende.

Aus der Mitte der Agave schießt ein schlanker und leuchtend hellgrüner massiver Kegel auf, hoch und höher. Ihn umgeben und schützen gleichfarbene und gleichgroße, meterhohe Attrappen, halbkreisförmig gebogen, so daß auch sie von Ferne für Kegel gelten könnten. Genau wie der Schaft enden sie oben in schwarzen Helmspitzen; vermittels dieses vegetabilischen Horns machte man einst Baumzweige zu tödlichen Speeren und Lanzen.

Was wir den Schaft nennen, dieses Bündel der fest zu einem Kegel gewickelten, gepreßten Zentralblätter, nennen die Indios das Herz. Auch jene Attrappen, die den Schaft umringenden Blätter, betrachten ihn als ihr Herz, nach welchem es die Götter gelüstet und das herausgeschnitten werden soll, wie es ehedem mit den Herzen der Menschen geschah.

Wenn es soweit ist, muß nicht nur das Herz sterben, sondern die ganze Pflanze mit Saft und Kraft, weshalb die großen Blätter wie eine Leibwache von Pistoleros darauf achten, das Herz wohl zu schützen. Nach acht Jahren, sobald 152 die Zeit des Blühens, die Stunde der Gefahr naht, richten sie sich drohend zu voller Höhe auf und schließen sich noch fester zusammen, damit der Feind jeden von ihnen für den Kegel halte, der ihr Herzstück ist.

Nützt alles nichts. Ungeschreckt und ungetäuscht schiebt sich der Mensch mitten durch den Schutzwall und schneidet mit sicherer Hantierung den Schaft entzwei. Der klappt zusammen, sinkt zu Boden. Aber der Mörder fällt nicht gleich über sein Opfer her, beeilt sich nicht, die Beute davonzuschleppen. Herzlos schreitet er von dannen, nachdem er die Todeswunde mit einem Maisblatt bedeckt hat, um die Insekten an der Einkehr in diese Pulquería zu verhindern.

Ihr wißt nicht, was eine Pulquería ist? Nun, auch die Agave weiß es noch nicht. Vorläufig sind wir bei dem Saft, der aus der Blätterkrone der klaffenden Todeswunde zuströmt. Um dieses Saftes willen werden auf dem Rancho, dessen Herrenhaus weiß vom Hügel schimmert, zehntausend, zwanzigtausend, in militärischen Reihen angeordnete Exemplare der Maguey, der Agave atrovirens Karw., gehegt und gepflegt. Um dieses Saftes willen sind Hunderte von Arbeitern, die »tlachiqueros«, auf dem Agavenfeld bemüht, und um dieses Saftes willen kehren sie immer wieder an den Ort der Tat zurück. Nunmehr ohne Mordwaffe.

Ihr neues Werkzeug gleicht jenen auf Glanz polierten Holzkeulen, wie sie Schauturner oder Jongleure durch die Luft wirbeln. Auf den Märkten Mittelmexikos gibt es Stände mit Bergen solcher vermeintlich polierten, vermeintlich hölzernen Keulen, die von den Käufern lange und mit prüfend eingekniffenen Augen gemustert werden. Es sind ausgehöhlte Flaschenkürbisse, dazu bestimmt, der Agavenquelle den Saft zu entsaugen.

»Aguamiel«, Honigwasser, heißt die Flüssigkeit im jetzigen, ungegorenen Zustand und schmeckt erfrischend, zumal wenn sie mit dem Saft einer Kaktusfrucht vermischt ist. Solches ist aber nicht der Sinn der Agavenwirtschaft, ihr Sinn ist, 153 aus dem Honigwasser Alkohol und aus dem Alkohol Ware zu machen. Zu diesem Ende kauft ein armer Indio für zehn Pesos eine Agave vom Bauern, an dessen Feldrain sie wild wuchert, und zu diesem Ende läßt der reiche Ranchero seinen Agavenbesitz pflegen.

Die Pflege erstreckt sich hauptsächlich auf Würmerjagd, eine Arbeit, die sowohl der Pflanze wie dem Jäger zu Nutzen gereicht: der Pflanze, weil sie von Würmern befreit wird, und dem Jäger, weil er um die Würmer bereichert wird, die Nahrung und Leckerbissen sind, – Mahlzeit! In Restaurants und auf der Straße kann man »Gusanos de Maguey« kaufen, und um den Handel von der Saison unabhängig zu machen, gibt es sie auch in Konservenbüchsen. Vorzuziehen sind die frischen Würmer, knusprig gebacken und warm schmecken sie beinahe wie Gänsegrieben.

Dreimal täglich kommt der tlachiquero zur sterbenden Agave, saugt mit dem Flaschenkürbis am frühen Morgen, in der sengenden Mittagsglut und im beginnenden Abenddämmer. Monate hindurch, wenn's gut geht, ein halbes Jahr lang, – so lange also vermag ein Wesen ohne Herz zu leben, so lange dauert es, ehe die Lebenssäfte verströmt sind. Erstaunlich viel, vier bis acht Liter pro Tag, im ganzen bis zu zwölf Hektoliter, werden aus einer einzigen, auf fast wasserlosem, vulkanisch-steinigem Brachland wuchernden Pflanze geschöpft.

Unter Dach und Fach geschieht die Höherentwicklung, will sagen die Alkoholisierung. Binnen Tagesfrist wird dort der Pflanzensaft zu gegorenem Most, der klare und geruchlose Honigtrank zum trüben Pulque. Fragt man, welche Hefe diese rasend schnelle Metamorphose bewirkt, so bekommt man viele Antworten, aber keine Antwort. Wer's weiß, sagt nichts, wer's nicht weiß, behauptet, Hundedreck vollziehe das Wunder. Wir kennen solche Märchen von überallher, in der französischen Champagne zum Beispiel wird gerne erzählt, es sei Urin, was dem Kognak den goldenen Glanz verleihe, und Alphonse Daudet schreibt in einem Brief aus 154 seiner Mühle, der weltberühmte Chartreuselikör habe seine Blume nur bewahrt, solange der alte Abt die getragenen Socken in den Destillationsbottich warf.

Aber wir glauben den poetischen Geschichten nicht, auch dann nicht, wenn sie von den Produzenten geleugnet werden. Ein Indio schwört uns, bei ihm werde die ganze Pulquechemie von dem Schweinefell besorgt, darin er den Aguamiel vom Felde heimtrage.

In den Haciendas kann kein Schweinestall mitwirken, denn dorthin wird der Agavensaft in Fässern gebracht und aus ihnen in die Tinacales geschüttet. Das sind Kuhhäute, die wie Hängematten auf Pfählen hängen. Durch das Gewicht ihres Inhalts dehnen sie sich zu überirdisch großen trächtigen Ichthyosauriern. Mehr als zehn Hektoliter gehen in eine Kuhhaut.

Die haarige Außenseite ist nach innen gekehrt, und vielleicht sind es die Körperhaare der verstorbenen Kuh, welche die mystische Wandlung des Honigsees in einen Pulquesee vollziehen. Keinesfalls ist es jenes Ferment, von dem die Böswilligen sprechen, in den gefüllten Riesenkühen müßte sich die Notdurft ganzer Hundemeuten einflußlos verlieren. Auch würde ein solches Ingredienz nicht passen zu der noch heute respektierten Heiligkeit des Raumes: wer immer bei den Tinacales einkehrt, nimmt an der Schwelle den Hut ab, als träte er in eine Kirche oder in einen Tempel der Pulquegötter.

Ewig und sichtbar schwimmt in alten Haciendas eine dieser Gottheiten in dem See aus werdendem Pulque. Oft wechselt die Flüssigkeit, selten wechselt die Kuhhaut, nie wechselt der schwimmende Gott. Er ist aus rotem Holz und war einst unter dem Namen Cuapatli ein vollberechtigtes Mitglied der Mythologie. Jetzt heißt er Palo de Pulque, Pulquestock, und nicht das kleinste Menschenopfer dankt ihm dafür, daß er sich an der Alkoholisierung beteiligt, er 155 soll froh sein, daß man den Hut zieht, wenn man bei ihm eintritt.

Die chemische Hauptarbeit allerdings leistet nicht er, sondern ein alter und durchgegorener Pulque, voll von »semillas«, Gärungspilzen und Bakterien, der Mutterpulque. In einem versperrten Raum harrt er der neu ankommenden Honigwässer, um an ihnen die Wirkung zu üben, die an ihm längst geübt ward.

Auf eigener Eisenbahn rollt der Trunk den Kehlen der Außenwelt entgegen. Diese sehr schmalspurige Kleinbahn trägt in allen Haciendas den gleichen Fabriksnamen: »Décauville Ainé«, der in uns die wehmütige Erinnerung an ein anderes Erzeugnis der Firma weckt, an die Waggons der Pariser Metro. Das engbrüstige Schienenpaar mündet in der nächsten Station der öffentlichen Eisenbahn, wo eine Zugsgarnitur bereitsteht, die Fässer aufzunehmen. Täglich treffen aus den Staaten Hidalgo, Tlaxcala, Mexiko und Puebla je zwei Züge in Mexiko-Stadt ein mit insgesamt 300 000 Litern Pulque.

 
II

In der Stadt Mexiko hält ein Konsortium die Pulqueverteilung in der Hand, welche die andere wäscht. Verschnitte und Verfälschungen werden diesem Konsortium nachgesagt, aber nicht nachgewiesen, am allerwenigsten der Wasserzusatz, weil in der Regenperiode der Aguamiel schon vom Feld her gewässert ist. Wie dem auch sei, die Konsorten machen ihren Schnitt. Für einen Liter Pulque, dessen Einstandspreis »frei Waggon«, das heißt ab Hacienda, einen Centavo beträgt, zahlt der Indio ab Theke seiner Kneipe 20 Centavos. Auch wenn man davon die Steuer und den Marazo abrechnet, einen pfefferminzhaltigen Fusel, den der Wirt dem Pulque beisetzt, bleibt das eine respektable Profitrate. 156

Von den Budiken aller Welt unterscheiden sich die Pulquerías dadurch, daß sie nur eine einzige Sorte von Getränk ausschenken. Nicht weniger als 826 Pulquerías gibt es, der amtlichen Statistik zufolge, im Bereich der Stadt Mexiko.

Die Lokale haben romantische Namen: »Zur Wollust vor dem Tode«, »Ich fühle mich wie ein Flieger«, »Die Rose an den Rieselfeldern«, »Freudentränen der Agave«, »Paradies des Arbeiters«, »Los diablos en la talega«, zu deutsch etwa: »Die Teufel in der Zwickmühle«. Eines heißt: »Der Sohn der Leda«, obwohl unseres Wissens der Schwanerei der Leda zwar die schöne Helena entsproß, jedoch kein Sohn.

Zwei schwingende Bretter bilden den Eingang zur Pulquería, damit der Gast beim Hinaustorkeln nicht gegen den harten Widerstand einer Tür knalle. Falls es richtige, geschlossene Türen gäbe, wäre bei den häufigen Prügelszenen kein Hilferuf draußen hörbar und die Polizei käme noch öfter erst nach vollbrachtem Totschlag auf den Schauplatz.

Oder sind die schaukelnden Eingangsbretter eine Spekulation auf die Schüchternheit des Indios vom Lande, der sich kaum trauen würde, eine fremde Tür aufzuklinken? Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es am besten, das Lokal ganz offen zu halten, ohne Tür und ohne Brett. Der Wirt will jedoch die Vorbeigehenden nicht zusehen lassen, wenn er Hose und Hemd der Gäste pfändet, oder wie sie den genossenen Pulque mitten im Gastlokal abschlagen. Keine Pulquería besitzt eine Toilette; glücklicherweise sondert der Mexikaner wenig Harn ab, nicht wie der Europäer 1500 bis 2000 Kubikzentimeter pro Tag, sondern nur 800, höchstens 1200.

Frauen dürfen nicht in die Pulquería, ganz ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen aber sind auch sie nicht von den männlichen Genüssen; neben dem Eingang, am Schalterfenster »para las mujeres«, machen sie ihren Kauf, den sie nach Hause tragen oder stehend konsumieren, freilich nur solange sie bar Geld haben, denn Kleid und Leibwäsche können sie auf offener Straße nicht als Pfand hingeben. 157

Pulquerías gab's schon in der Mythologie, sie waren im Nachthimmel etabliert, und nach vollbrachtem Tagewerk trafen sich dort die Götter. Wie man im Codex Vaticanus nachzählen kann, verfügte die Agavegöttin Magayel über einen Pulque-Ausschank von vierhundert Brüsten. Vierhundert an der Zahl waren auch die Pulquegötter, die in Kaninchengestalt den Mond bewohnten, jeder zuständig für eine andere Art von Rausch.

Bei den Tarasco-Indianern kümmerte sich ein Gott nur darum, daß es den irdischen Zechern nicht ergehe, wie es ihm ergangen. Er war im Rausch aus allen Himmeln gefallen, hatte sich ein Bein gebrochen und hinkte seither. Ein anderer Unsterblicher mußte sterben zur Strafe für Gewohnheitssuff; aber nach sieben Jahren wurde er wieder zum Leben erweckt, ein Vorgang, der das Gemeinsame von Rausch und Tod symbolisiert, Besinnungslosigkeit und Wiederauferstehung.

Selbst Quetzalcoatl, der gute der beiden Obergötter, betrank sich eines Tages mit Pulque, den ihm der böse der beiden Obergötter durch einen medizinischen Dämon unterschieben ließ. Das war der Sündenfall. Quetzalcoatl verschwand beschämt, und gerade als man die Zeit für gekommen hielt, daß er seinen Rausch ausgeschlafen habe und wiederkehren könnte, traf – bleichgesichtig und spitzbärtig wie Quetzalcoatl – der Konquistador ein, und es gab das verhängnisvolle Quiproquo.

In der Kunstgalerie von Mexiko hängt ein großes und kitschiges Gemälde. Ein Indianermädchen kredenzt dem Toltekenkönig einen goldenen Pokal. Was der Pokal enthält, was dieser Szene vorausging und was ihr folgte, ist aus dem Bild nicht zu ersehen, aber jedermann weiß es aus der Sage: Der Vater des Mädchens hatte eine Feldmaus beobachtet, die an dem Schaft einer Agave knabberte und sich hernach wohlig auf der Erde wälzte. Nun kostete auch der Beobachter, fand den Trank königswürdig, schickte sein schönes Töchterlein damit zum König und wir sind im Bilde. Hinter und nach dem Bild geruhte Seine Majestät Gabe und Geberin zu genießen, er soff und 158 liebte sich zu Tode, und sein Volk, das er des Getränks teilhaftig werden ließ, ging mit ihm schmählich und heiter zugrunde.

Diese Trinkerlegende diente den Azteken, die nach den Tolteken das Tal Anáhuac besiedelten, zur Warnung. Bei den Azteken durften nur Männer von über siebzig Jahren Pulque trinken, denn diese konnten an ihrer Zeugungskraft nicht viel einbüßen und nicht mehr die bei den Tolteken üblich gewesenen Exzesse mit Müttern, Töchtern und Enkelinnen treiben.

Weil diese Einschränkung auf religiöser Grundlage erfolgt war, beeilte sich die spanische Herrschaft, sie als heidnisch und abergläubisch aufzuheben mit dem Erfolg, der in den Pulquerías und um die Pulquerías herum ersichtlich ist. Verblödung, Verarmung, Verbrechen – meist Totschlag ohne Motiv.

Erst die Revolution erklärte dem Pulque den Krieg und zerstörte die Tinacales; 1915 ergossen sich im Distrikt von Apam (Hidalgo)und nachher in allen Agavegebieten von den Hügeln herab Ströme in die Täler, Ströme von Pulque. In Peralvillo, dem Elendsbezirk der Hauptstadt, stürzten die Patrouillen des Revolutionsgenerals Alvaro Obregón die für die Pulquerías bestimmten Wagenkolonnen um und zerschlugen die Fässer. Von allen Seiten rannten die Bewohner herbei und warfen sich zu Hunderten in die Pfützen. »Ojalá, jefecito«, riefen sie den Soldaten zu, »kämet ihr doch alle Tage, um Pulquechen auszugießen!«

Menschen, die aus Ländern der Weinrebe oder der Hopfenranke stammen, können auch in soundsovielter Generation nicht begreifen, was dazu verlockt, in den Städten Pulque zu trinken. Sein Geschmack spottet jeder literarischen Beschreibung, weshalb wir diejenige Karl Mays hierhersetzen:

»Was das Trinken anbelangt, Señor, so könnte gesorgt werden. Darf ich Euch etwas anbieten?«

»Hm«, schmunzelte er, »etwa Pulque?«

»Wie kommt Ihr auf dieses Getränk?« – 159

»Ich habe mein Glas noch drüben in der Venta stehen.«

»Es schmeckte Euch nicht?«

»Oh, es schmeckt, aber wie. Ein Gemisch von Alaun, Süßholz, Aloe, Kupfervitriol, Salmiakgeist, Holunderbeeren und Seifenwasser würde wohl ähnlich schmecken.«

Schwerlich wird diese Formel einer chemischen Nachprüfung standhalten, aber wahr ist, daß das trübe Gesöff kein ungetrübtes Entzücken bereitet. Selbst seine notorischen Anhänger leugnen, seine Anhänger zu sein und sprechen, wenn sie Pulque meinen, von »Wasser«. Auf den Klostergütern gab es für die Fronarbeit der Peone keine andere Prämie als Wasser, welches Pulque war. Und noch heute gilt es als ungeschriebenes Arbeitsgesetz, auf dem Feld, am Bau oder in der Werkstätte für besondere Leistungen eine Lage Pulque zu fordern: »Para el agua, patrón?«

Die Bierindustrie bekämpft den Pulque, ist jedoch sorgsam darauf bedacht, daß ihre Agitation nicht in Anti-Alkoholismus ausarte. Prompt ripostieren die Volksfreunde vom Pulquevertrieb. In ganzseitigen Inseraten und wissenschaftlichen Artikeln antworten sie mit ähnlichen Argumenten, wie sie seinerzeit von den Bierbrauereien in den Vereinigten Staaten gegen die Prohibition ins Treffen geführt wurden: Der Pulque fülle die Kassen der Steuerämter und Eisenbahnen – beschäftige Tausende von Arbeitern – rette in wasserarmen Regionen die Bevölkerung vor dem Verdursten und vor dem Typhus – enthalte Vitamine, die vor Rachitis schützen, – und fördere die Verdauung der fast unverdaulichen Nationalkost.

Gegenangriffe auf das Bier hat der Pulque nicht nötig, das Bier kann ihn nicht verdrängen, weil er weit billiger ist. Viel eher wird ihm die Landaufteilung den Garaus machen. Denn Pulqueindustrie ist an Extensivwirtschaft gebunden, sie lohnt sich nur mit Zehntausenden von Agaven auf dem Feld und ebensovielen Sprößlingen in der almasiga (Agavenbaumschule), mit einem Heer geschulter tlachiqueros und einer beziehungsreichen kaufmännischen Verwaltung. Ein reicher Hacendado 160 konnte ruhig acht und mehr Jahre abwarten, bis die Pflanze erntereif wurde, weil auf seinem Gebiet jeden Tag genügend Magueys den Tag ihrer Reife feierten, den Tag ihres Todes.

Nun aber sind die meisten Plantagen aufgeteilt auf die tlachiqueros, die bisher pro Tag einen Pesa Lohn und eine Naturalzulage von sechs Litern Pulque bekommen hatten. Auf eigenem Land bauen sie an, was sie brauchen, Bohnen, Mais und Agaven. Schenken die Agaven mehr aus als die Kehle faßt, wird der Überschuß einer Einkaufsgesellschaft oder einem Händler verkauft.

Immerhin ist mit freiem Auge noch nichts von einer Pulqueknappheit zu merken. Verbringt man zufälligerweise eine Nacht auf der Unfallstation »Cruz Verde«, so sieht man wie sich die Agave am Menschen rächt. Die Mehrheit aller Patienten sind Pulqueopfer.

Einer, der unter ein fahrendes Auto geriet, stöhnt in dem Bett, in dem vor kurzem Leo Trotzki starb. Auf dem Operationstisch, mitten im wild belebten Raum, wird die Gehirnoperation an einem vorgenommen, den seine Zechkumpane im weiten Bogen aus der Pulquería »Zum ewigen Frieden« warfen. Etwa zehn, die auf der Straße hingefallen und mehr oder minder schwer verletzt sind, liegen auf dem nackten Fußboden.

Andere zehn taumeln auf dem Korridor herum, Krankenwärter versuchen, ihnen einen auf einem Stock befestigten mit Kampfer getränkten Wattebausch unter die Nase zu halten. Die schaukelnden Gestalten wenden den Kopf ab und stoßen den Stock mit Bewegungen von sich, die bei allen identisch sind, – ein Ballett widerspenstiger Gespenster.

Auf dem Hof sind jene, die bereits behandelt wurden und nunmehr das Haus verlassen sollen. Sie denken aber gar nicht daran. So besinnungslos sind sie denn doch nicht, auf die Straße hinauszugehen zu neuen Fall- und Unfallmöglichkeiten und zu den Polizisten. Sie weigern sich, sie werfen sich auf die Erde. Kaum ist es den Wärtern gelungen, einen zum Aufstehen zu bringen, so reißt er sich los und läuft verblüffend 161 schnell auf die andere Seite des Hofs, und das Personal, das ihn eben mühselig hochgebracht hat, muß ihn nun wieder niederzwingen.

Die Aufnahmekanzlei liegt im Hochparterre. Zehn oder zwölf Stufen führen von zwei Seiten hinauf, so daß der kleine Treppenvorbau dreieckig ist. Ins Innere dieses Dreiecks flüchtet einer der Gejagten und füllt es aus, hingestreckt wie eine Grabfigur im Dom. Von der Seite her können die Verfolger nicht an ihn heran, gegen ihren Frontalangriff schützt er sich erfolgreich, indem er ihnen entgegenkotzt.

Ist das, fragen wir, ist das ein rühmliches Ende für den Saft der edlen Agave? 162

 


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