Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Punkt ein Uhr wird die Menge totenstill und durch die kleine Tür betritt, von Gefängniswärtern flankiert, der Delinquent den Hof, aus dem er nicht mehr weggehen wird.
Er geht mit dem ruhigen, sicheren Schritt und in der Haltung vorwärts, die er, wie uns die Angestellten von Pankrac vorher berichtet haben, die ganze Nacht eingeübt hat. »Haltung bewahren« . . .
Er hat nur acht solcher stolzen Schritte zu machen. Acht Schritte von der Eingangstür entfernt, an der Ecke des erhöhten Rasens, der den Gefängnishof bis fast zu dem hohen Zellengebäude ausfüllt, sieht der Delinquent den Volksgerichtshof vor sich. Er kennt diese Männer und Frauen, fast drei Monate lang stand er vor ihnen, stand er ihnen Rede, hatte er ihnen Antwort auf ihre Fragen zu geben. Heute wird er keine Fragen hören und keine Antwort geben müssen. Es ist auch keine Hörmuschel da, um ihm in Übersetzung zu vermitteln, was über ihn und zu ihm gesprochen wird.
Der Delinquent kennt die Männer und Frauen, die -– heute zum erstenmal im Freien und zum letztenmal überhaupt – vor ihm sitzen. Er kennt sogar den majestätischen, großen Geistlichen, der neben dem Präsidenten sitzt. Delinquent hat ihn vor wenigen Stunden kennengelernt, den Monsignore Týlínek, der in die Zelle kam, um Beichte, geistlichen Trost und Letzte Ölung anzubieten. Der Delinquent hat ihm geantwortet, er sei zwar Theist, also gottesgläubig, aber er lehne dankend ab. 396
Den anderen Mann neben dem Präsidenten kennt Delinquent nicht und wird ihn auch bei Lebzeiten nicht kennenlernen. Es ist der Vertreter der medizinischen Wissenschaft und wird festzustellen haben, daß Delinquent tot ist.
Nachdem Monsignore Týlínek unverrichteter Dinge die Zelle verlassen hatte, brachte man dem Delinquenten sein Abendbrot: Eier, Schinken und etwas zu trinken. »Henkerkost«, sagte Delinquent sarkastisch und in seiner Muttersprache. Aber es ist kein richtiges Deutsch, er wollte sagen »Henkersmahlzeit«, das ist: letztes Essen eines Mannes, den der Henker holt. Das sei hier erwähnt, weil es zu jeder schwankenden und unklaren Politik gehört, schwankend und unklar zu sprechen oder zu schreiben. Die Naziführer konnten nicht einmal Deutsch, am allerwenigsten Hitler.
Während seiner acht Schritte hat Delinquent nur nach vorne geschaut und nicht nach rechts. So hat er nicht gesehen, daß er an einem Gerüst vorbeikam. Noch im vorigen Jahr, als er Staatsminister des Deutschen Reiches war, SS. Höherer Polizeiführer und dergleichen über das Protektorat Böhmen und Mähren, wo er unumschränkt regierte, als er Herr über Leben und Tod war und auch reichlich davon Gebrauch machte, als er noch der glanzvolle Tyrann Karl Hermann Frank war, wurden ihm andere Tribünen gebaut. Hier steht nur ein roh gezimmerter Pflock mit einem eingerammten Haken, nicht einmal ein Querbalken ist da, ohne den man sich einen Galgen gar nicht vorstellen kann. Aber, glaubt es, es ist ein Galgen. Eine Treppe, mehr Leiter als Treppe, führt hinauf, und oben stehen drei junge Männer in schwarzen Uniformen und warten darauf, ihr Amt zu vollstrecken.
Delinquent Karl Hermann Frank steht zum letztenmal vor seinen Richtern und starrt sie mit eingeübter Festigkeit an.
Hinter den Richterstühlen drängt sich eine Menschenmenge, die unübersehbar und unvorstellbar ist. 397 Unvorstellbar, weil die Menge jene Leute in die ersten Reihen vorläßt, welche ersichtlich Naziopfer sind, Anklageschriften in Menschengestalt, Krüppel, Verstümmelte, Männer mit weggerissenem Gesicht. Alle wollen den obersten ihrer Quäler und Mörder sehen, wenn er aus dieser Welt verschwinden wird.
Auch der Scharfrichter ist einer von den Betroffenen und übt – anders als die historischen Scharfrichter in Böhmen, die Mydlář, Pipperger und Wohlschläger – nicht um des Geldes willen sein Amt aus. Ihr Nachfolger Nenáhlo will die Martern rächen, die er und seine Freunde sechs Jahre lang in Oranienburg und Sachsenhausen erlitten. In schwarzer Uniform harren er und seine beiden Gehilfen auf dem Gerüst . . .
Der Erwartete steht inzwischen vor den Richtern aus dem Volk und hört die vorletzte Formalität an. Seinem letzten Wunsch, ohne Fesseln auf den Galgen geführt zu werden, wurde entsprochen. Auf das Gnadengesuch traf keine Antwort ein.
Der ohnedies kleine Mund Franks verschwindet ganz, der Kopf neigt sich, fällt fast, aber wird sofort hochgerissen, die Füße, die sich's bequem gemacht hatten, klappen von neuem zusammen – Haltung bewahren!
Es wird das »Enunciat« vorgelesen, eigentlich die wortgetreue Wiederholung des Urteils, das der Angeklagte und der Gerichtssaal schon gestern gehört und heute in der Zeitung gelesen haben. Auch deutsch wird es vorgelesen, eigens für den Delinquenten.
Aber den interessiert es nicht, er gibt sich der letzten Nervosität hin. Er zieht nachdenkliche Kreise mit seinem rechten Fuß, er dreht den Kopf nach allen Seiten, schaut auf die Photographen, die rings um ihn knien, um ihn zu knipsen, und auf die riesigen Filmapparate, die von allen Seiten ihre Mündungen auf ihn richten.
Seine Hände spielen unruhig. Auf der Linken trug er noch gestern einen goldenen Ring. Dieser war ihm bei der Einlieferung nach Pankrac abgenommen worden 398 und seither war es Franks ewig wiederholter Wunsch gewesen, ihn zurückzubekommen. In der Nacht auf gestern hatte ihm sein Anwalt den Ring wiedergegeben, wobei Frank eine große sentimentale Wiedersehensszene aufführte. Auf dem Ring standen die Worte: »Gott schütze dich! Lola, 14. 4. 1940.« Heute trägt Frank den Ring nicht mehr . . . wahrscheinlich hat er den Glauben verloren, daß Gott ihn noch schützen könne.
Der Übersetzer hat die Vorlesung des Enunciats beendet und fragt den Delinquenten, ob er noch etwas bemerken wolle.
Ganz leise, fast unhörbar selbst für uns, die unmittelbar neben ihm stehen, flüstert Karl Hermann Frank seine letzten Worte. Sie sind vielleicht als Manifest an die Nachwelt gedacht oder als Demonstration gegen das Volk gerichtet, das ihn richtet. Aber der Flüsterton straft diese Absicht Lügen.
»Das deutsche Volk«, haucht er, »wird leben, auch wenn wir sterben müssen. Es lebe das deutsche Volk, es lebe der deutsche Geist.«
Dann gibt der Richter ein Zeichen, Delinquent versteht, macht eine Kehrtwendung und geht wieder acht Schritte. Diesmal zum Galgen. Er steigt die Stufen hinauf und überschaut die Menge.
Damit ist alles aus, was sich berichten läßt.
Dort oben hängt ein Mensch, der, wenn er je einer war, keiner mehr ist.