Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Der Hafen der Seeräuber
(1944)

Auf meinen Reisen begegnete ich oftmals Bekannten, die an der eben von mir passierten Stelle steckengeblieben waren. Einen Mitschüler traf ich als Sträfling in Sing-Sing an, einen Regimentskameraden als Fischer in Tadschikistan, einen Fußballkollegen als Toilettenmann des Kasinos von Monte Carlo, und so und überall.

Auch mit indirekten Bekannten kam ich so zusammen, mit Verwandten und Freunden von Freunden, mit Menschen, die ich aus Büchern kannte oder vom Hörensagen. Manchmal lebten sie, manchmal fand ich ihren Namen auf dem Ortsfriedhof. In dem Garnisonstädtchen Gyula tauchte mir Albrecht Dürer der Ältere und sein Geburtshaus auf, ganz unvermutet, denn ich hatte nicht gehört, daß der Vater des deutschen Meisters ein Ungar gewesen.

Eine Herberge im Kaukasus . . . Dort erzählte mir der Portier, ein Alkoholkopf und ehemaliger Kommissar der Ochrana, er habe einmal, in den achtziger Jahren, den kleinen Bruder des Zarenmörders Uljanow freigelassen, den künftigen Lenin. »Ich habe geglaubt«, lallte er, »der Junge wird uns nicht gefährlich werden . . .«

Auf meiner Fahrt nach dem Hafen Campeche im Südostwinkel des Golfs von Mexiko denke ich, daß ich dort gewiß keinen Lebenden und keinen Toten treffen werde, den ich kenne. Ich werde also, durch nichts abgelenkt, in diesem geschichtlosen, bekanntenlosen Campeche den Chicle studieren, um dessentwillen ich hinfahre. 382

Da ich aber durch die Stadt gehe, finde ich sie auf Seeseite und Landseite eingeschnürt in bärbeißige Wälle mit Zinnen, Schießscharten, Bastionen und Wachttürmen; sie spähen nach allen Graden der Windrose. Demnach hat dieser Ort sein Leben doch nicht so friedlich und sorglos verbracht, wie ich gedacht hatte. Von welcher Großmacht, frage ich mich, drohte diesem weltenfernen Wasserwinkel so viel Gefahr?

Nun, das ist leicht zu erfahren: Piraten sind es gewesen, denen diese Festungswerke Angst und Schrecken einjagen sollten. Piraten! Als Junge waren sie meine Lieblingshelden. In meinen Mannesjahren kaperten sie mich von neuem, ich wollte ein Buch schreiben über sie und die Zeitgebundenheit ihrer Taten.

Die Zeit, an die sie gebunden waren, war die Zeit der neuen Kolonialwaren. Spanien betrachtete diese Produkte, einschließlich der Arzneien, als sein gottgegebenes Monopol und wollte nichts davon ans Ausland verkaufen. Jedoch gerade im Ausland war ein mächtiges Manufakturwesen entstanden. Flandern, Frankreich, England wollten die Textilfasern und Färbemittel Westindiens, vor allem Blauholz (Campeche-Holz), Cochenille und Indigo, mit Gewalt haben, erstens weil sie sie brauchten, und zweitens, um das habgierige Imperium Spanien zu schwächen. Dies war die Außenpolitik des aufstrebenden Bürgertums in Europa.

Seine Innenpolitik war der Kampf gegen den Feudaladel, dessen Vorrechte und Willkür. Immer deutlicher wurde ersichtlich, daß das Geld Sieger bleiben werde über die Wappen und Schwerter. Mancher Junker verließ das väterliche Schloß und ging, sofern ihn Tatendrang beseelte, über die See, auf die See.

Mein Buch über die Seeräuber blieb ungeschrieben, weil es keinen Ort und keine Stelle gab, wo ich recherchieren konnte. Ihr Tatort war das Meer. Die Vorbereitung zur Schlacht, die Aktion der Enterhaken und Enterbrücken, die Brandgranaten, das Gemetzel an Bord, das Versenken der Schiffe, – all das war 383 kaum vollbracht, zu Wasser geworden. Wie sollte ich auf der Meeresfläche feststellen, welchen shakespeareschen Szenen sie einst als Bühne gedient?

Daß das Festland mitwirkte an den blutigen Wasserpantomimen, hatte ich in meiner Knabenzeit nicht beachtet, und später fand ich die Nebenschauplätze auf dem Land unwichtig und zu entlegen. Ich vergaß sie und fuhr deshalb in Campeche mit dem Gedanken ein, dort keinen bekannten Namen anzutreffen.

Und nun begegne ich hier den schwimmenden Räubern abermals. Diesmal werden sie mir nicht entrinnen, und sollte dabei auch meine Chicle-Reportage in die Binsen gehen!

Ich fange im Museum an. Hier gibt es eine eigene Abteilung »Pirateria« mit Schiffsgeschützen und ihrer steinernen Munition, mit Resten und Modellen von Galeonen, mit Stahlstichen von Schlachten und Schiffsexplosionen. Auf einem kolorierten Seestück sieht man, wie die Flottille des Flibustiers Lorenzillo die Stadt Campeche angreift. Ein anderes ist ein Genrebild: der Korsar Rock Brasiliano befehligt eine sadistische Auspeitschung. Mehr als ein Dutzend Porträts aus der Heldengalerie der Wasserwegelagerer hängen an der Wand, und ich feiere ein Wiedersehen mit vertrauten Gestalten.

Glanzstück der Ausstellung ist ein Steuerruder. Man könnte es als einen meisterhaften Bronzeguß bezeichnen, wenn sich nicht bei näherer Betrachtung herausstellte, daß es aus Edelholz geschnitzt ist. Es stellt einen Windhund in gestrecktem Galopp dar. Eine Schlange umschlingt ihn, ringelt sich seinem Kopf zu. Vor Angst hat sich der vierbeinige Laokoon in eine drei Meter lange Horizontale verwandelt, er hofft, durch die Entfaltung rasender Geschwindigkeit der Schlange entlaufen, aus seiner eigenen Haut schlüpfen zu können . . .

Das Korsarenschiff, von dieser Skulptur gesteuert, wurde in der Nähe von Campeche auf See gerammt und vermochte sich, seinem dahinjagenden Windspiel 384 zum Trotz, nur langsam bis zur Mündung des Rio Viejo zu schleppen. Dort, beim Dorfe Palizada, sank es auf den Flußgrund.

Vor einer Vitrine mit gefälschten Maya-Skulpturen erfahre ich, daß die Falsifikate von einem ortsansässigen Antiquitätenhändler stammen. Ich suche ihn auf, und Don Agostino bietet mir Raritäten an, die nach seiner Versicherung samt und sonders persönlicher Besitz der Bukaniere gewesen waren. »Sehen Sie, Señor, dieses preiswerte Terzerol trägt das Monogramm H. M.; der Seeräuber Henry Morgan hat damit mehr Spanier erschossen, als je ein Mensch Spanier erschoß.«

Mit der erwarteten Ehrfurcht umspanne ich Morgans Mordwaffe, aber ich weiß, daß seine Hinterlassenschaft kostbarere Stücke enthält. Vor siebzehn Jahren fuhr ich als Leichtmatrose durch die Karibische See, an Cocos Island vorbei. Die Mannschaft stand auf Deck und schaute sehnsuchtsvoll auf die Insel. Dort liegt der Schatz Henry Morgans vergraben und wurde nie gefunden, die Prisen seiner Prisenfahrten, Edelsteine, Perlen, Goldbarren. Und ich sollte mich mit einem Terzerol begnügen?

Don Agostino hat noch allerhand anderes aus der Piratenzeit. Diese zierlichen Brandbomben zum Beispiel, aus Eisen gegossen. Oder diese Spitze eines Enterhakens. Oder dieser spanische Säbel da, in den Griff ist eine Madonna graviert. »Wie Sie sehen, wurde sie wegzukratzen versucht. Der Erbeuter, ein englischer oder holländischer Lutheraner, mochte jedenfalls die Heilige Jungfrau nicht.« – »Sehen Sie dieses rostige Dolchmesser mit den bogenförmigen Scharten auf beiden Seiten der Klinge?« Ja, ich sehe es. Ich weiß aus meiner Jugendzeit, daß der Freibeuter, wie er im Buche steht, mit der linken Hand das Pistol abschießen, in der Rechten den Krummsäbel schwingen und den Dolch im Munde halten muß, dieweil er ja »bis auf die Zähne bewaffnet« ist. Aber niemals hatte ich bedacht, wie er den Dolch im Munde festhält. Nun weiß ich es: für die Zähne waren eben die Scharten 385 da, eine sehr praktische Idee der Seeräuber oder – des Antiquitätenhändlers.

Authentischeres Monument aus den seeräuberischen Zeitläuften ist der Festungsgürtel, gebaut von 1636 an, ein Jahrhundert lang und mehr. Ganz Campeche ward zur Zitadelle, selbst der Fischgeruch konnte nicht hinaus und ist noch heute da.

Um zu atmen, spazierten die Bürger, sofern kein Angriff zu gewärtigen war, auf die Alameda hinaus. Diese ist eines der typischen Glacis, wie sie zur Zeit des Rokokos auch in den befestigten Residenzstädten Europas entstanden, halb Baumgarten und halb Steinmetzarbeit, halb Korso und halb Reiterschau.

Wenige Schritte von der Alameda, im Falle eines Alarms also gleich zu erreichen, erhob sich die Umwallung der Stadt, ein Sechseck, kilometerlang und neun Meter hoch. Ich gehe das Sechseck entlang auf dem Parapett, auf dem einst Schildwachen patrouillierten. Ich erklimme die Türme, aus deren Luken Fernrohre kreisten. Ich steige die Rampen empor, auf denen einst Kanonen und Lafetten hinauffuhren zu den Bastionen.

Wo die Kasematten waren und die Besatzung gewohnt hatte, wohnen heute Soldaderas, Soldatenfrauen und Geliebten mit zahllosen Kindern. Durch ein paar Palmenzweige ist jede Kasematte symbolisch in Wohnungen geteilt.

Vom Dach der Türme spähe ich über Meer und Stadt. Die See geht hoch und nieder und tut, als hätte sie nichts gesehen. In der Stadt unter mir sind die Tatorte aus der Seeräuberzeit geblieben.

Dort an der Hafenstraße, aus der eine Mole ins Wasser vorstößt, pflegten die Freibeuter lautlos in lautloser Nacht zu landen und schwärmten aus in den Schlaf der Bürger. Dort drüben auf dem großen Platz zwischen Kirche und Regierungshaus schlossen sie ein Karree und verkündeten unter Trommelwirbel: Jeder Bürger habe zuerst, bei Todesstrafe, seine Waffen abzuliefern, nachher, bei Todesstrafe, seine Juwelen, 386 und dann, bei Todesstrafe, sein übriges Hab und Gut. Am gründlichsten hauste der englische Kapitän William Parker, dessen die Campecher Chroniken als »Guillermo Parque« gedenken. Er ließ im Jahre des Heils 1597 Haus für Haus ausrauben, alle Spirituosen austrinken und beorderte schließlich, bei Todesstrafe, sämtliche Frauenspersonen von dreizehn bis zwanzig Jahren auf den Marktplatz. (Um sich von ihnen Essen kochen zu lassen, dachte ich als Knabe.)

Vor dem Bollwerk San Carlos, in dem ich den Soldatenkindern Taschenspielertricks zeige, wurde einmal ein Galgen gezimmert. Die höchsten Bäume der Gegend waren dafür geopfert worden. Morgen sollte einer auf ihnen hängen, der einen weithin gefürchteten Namen trug, wiewohl er seinen richtigen Namen nie verriet; die Schiffer und Küstenbewohner kannten ihn nur als Bartholomäus, den Portugiesen.

Bartolomé Portugues war 1663 während einer Brandschatzung Campeches von einer herankommenden spanischen Flottille geschlagen und gefangengenommen worden. Nun lag er im Bunker einer Fregatte, gebunden an Händen und Füßen mit unzerreißbaren Stricken aus Henequen. Vom Strand her, just von der Stelle, wo ich eben bin, drangen Axtschläge an sein Ohr, und er wußte, man zimmere seinen Galgen. Wütenden Auges sah er sich in seinem Gefängnisloch um.

Da lagen nur leere Tongefäße für Wein und Bündel von Werg. Bartolomé schob sich an dieses Zeug heran und stopfte das Werg in die bauchigen Töpfe. Dann zwängte er sich und sie aus dem Bullauge, hielt sich im Wasser an ihnen, den schwimmenden Gefäßen, mit seinen gefesselten Händen fest und steuerte, mit gefesselten Füßen, ans Ufer. Hier rieb er sechs Stunden lang seine Handfessel an der Kante eines Felsens. Als endlich die unzerreißbaren Seile aus Henequen rissen, konnte er ostwärts wandern, wo er in versteckter Bucht eine Gruppe seiner Berufskollegen wußte. Er bewog sie zu einem Überfall auf Campeche, aus dem die spanische Flottille wieder abgesegelt war. Gestern 387 hatte die Stadt geweint, weil Bartolomé entwichen war, heute weint sie, weil er wiederkommt.

Nächster Punkt meines Rundgangs ist das Regierungsgebäude, darin die Ratsherren gar häufig mit Seeräuberabwehr befaßt waren. Wohl die seltsamste Tagung fand dort statt, als man das Jahr 1708 schrieb. Im Innern des Landes Campeche und auch in der Stadt lagen sich weltliche und kirchliche Obrigkeiten in den Haaren, die Situation glich einem Bürgerkrieg. Von außen aber drohte noch schwerere Gefahr. Der tollkühne Seeräuber Barbillas kreuzte vor der Reede und hatte bereits, gleichsam im Gesichtskreis der Festungsartillerie, eine gewaltige Brigantine erbeutet.

Da entstiegen plötzlich am hellichten Tage zwei Männer einem Ruderboot. Des einen Körper war ein Prisma und sein Kopf ein Würfel, den ein riesenhafter Schnurrbart in zwei Hälften teilte. »Barbillas«, flüsterten die Fischer im Hafen und glaubten sich selbst das Wort nicht, das sie flüsterten. Der andere sah wie ein Grande aus, und in der Tat, es war Seine Exzellenz Don Fernando Meneses Bravo de Saravea, vom spanischen König mit diktatorialen Vollmachten entsandt, um sowohl den Streit der Behörden zu beenden, als auch dem Piratenwesen für immer und ewig den Garaus zu machen.

Knapp vor dem Ziel war die Fregatte, auf welcher der neue Gouverneur mit seinem Stabe und seiner Familie gen Campeche fuhr, von Barbillas gekapert worden, und der Seeräuberhäuptling verlangte ein Lösegeld von 14.000 Goldpeseten. Aber der Gefangene hatte so viel Geld nicht bei sich. So beschlossen Räuber und Gouverneur, gemeinsam in die Stadt Campeche zu rudern, nachdem sie einander je einen Eid geleistet. Schwur des Gouverneurs: Ich will das Geld ohne Hintergedanken auftreiben. Schwur des Barbillas: Falls ich zur vereinbarten Stunde nicht an Bord zurückkehre, werden die Angehörigen des Gouverneurs mit Teer begossen und langsam verbrannt; außerdem wird Campeche zu Wasser und zu Lande angegriffen und eingeäschert werden. Dann ruderten sie los. 388

Aufregung herrscht in der eilig einberufenen Ratsversammlung. Der Alkalde und die Regidores, Bürgermeister und Ratsherren, wollen sich einerseits bei dem künftigen Diktator in gute Gnade setzen, andererseits finden sie die Summe unerschwinglich; sie weisen auf die Ebbe in der Staatskasse hin und auf die besonders günstigen Chancen für einen Widerstand.

Aber da wohnen, wider alles Recht und Gesetz, der Sitzung zwei Männer bei, die nicht ernannte Stadtväter sind, und mischen sich in die Debatte. Der Rechteckige mit dem Riesenschnurrbart begründet die Höhe des Lösegeldes mit den Kosten und Risiken seines Unternehmens. Der neue Gobernador vertritt den Standpunkt, daß die Höhe des Lösegeldes seinem Rang entspreche.

Die beiden siegen über das Ratskollegium, das Lösegeld wird bar bezahlt, Barbillas rudert zurück und sendet am nächsten Tag die Angehörigen des Gouverneurs nach Campeche.

Hinter dem Regierungsgebäude führt der Festungswall weiter und wird nach einigen Schritten zur Rückwand einer langgestreckten Markthalle. Lebende Riesenschildkröten, Guacamos, liegen einzeln oder übereinandergeschichtet auf dem Boden, einige sind an die Wand gelehnt. Alle strecken dem Marktbesucher ihre fetten nackten Bäuche entgegen. Wie zwergisch verkrüppelte Arme und Beine hängen die Flossen an beiden Seiten des Körpers und zeigen durch krampfhaftes Flattern an, daß sie einem lebendigen Wesen zugehören.

Eine Schildkröte nach der anderen wird aus dem Stapel gezerrt, der Schlächter versetzt ihr mit dem Messerknauf einen betäubenden Schlag auf den Kopf, durchschneidet die Gurgel, trennt Arm- und Beinflossen vom Leib und hämmert den Brustpanzer los. Nun ist die Anatomie klargelegt, blau, hellrot und violett verzweigen und kreuzen sich Därme, Muskeln und Adern innerhalb der metergroßen Rückenschale.

Der abgeschnittene Kopf wird in eine Ecke geworfen und das Herz auf einen Tisch gelegt. Es schlägt weiter, 389 und ich warte auf seinen Tod. Aber da sich der Herzschlag nicht einmal verlangsamt, wende ich mich dem Schildkrötenhandel zu. Schildkrötenklein, Flossen, Leber und Gelatina, ein Stück Mark aus dem Brustpanzer, werden verkauft oder ein Fläschchen Schildkrötenöl, das den Schwindsüchtigen als vorletzte Ölung dient. Weggeworfen wird der moosbewachsene Rückenpanzer, der eine Austernschale in hundertfacher Vergrößerung ist.

Die Riesenschildkröten sind kein Material für das Schildpattgewerbe, es sind die kleinen, braun und gelb gesprenkelten Carey-Schildkröten, die ihren durchscheinenden Panzer den Schnitzern liefern.

Ohne Unterlaß stoßen von den Zinnen der alten Festungsmauer Aasgeier in die dachlose Markthalle herab, gehen mephistophelischen Schrittes auf dem blutigen Fußboden hin und her, picken sich ein Stück aus dem Assortiment der Schildkrötenleiber und jagen im selben Augenblick feige auf ihre Zinnen zurück. Anders die Schmeißfliegen: träge und unbekümmert hocken sie in Mengen auf ihrer Beute.

Ich schaue wieder auf den Tisch, – und noch immer, obwohl zwei Stunden vergangen sind, pochen die Schildkrötenherzen. Es scheint, als trenne sich ein Herz, das länger als andere Herzen einem Lebewesen angehörte, auch schwerer vom Leben.

»Wie lange lebt eine Schildkröte?« Mit dieser Frage an die Männer am Verkaufstisch unterbreche ich meine Biophilosophie.

»Wir verkaufen keine, die älter ist als hundert Jahre.«

»Und wie erkennt man, daß sie nicht älter ist?«

»Die älteren zeigen Zeichen von Senilität, können die Gliedmaßen kaum noch bewegen. Die Fischer, die von den Schildkröteninseln bei Venezuela und Jamaica herüberkommen, bringen uns keine so alten Tiere.«

»Wie alt kann eine Schildkröte werden?«

»Zweihundert Jahre«, sagt einer, und der andere »dreihundert Jahre«. Ein dritter spricht die häufigste 390 Phrase Mexikos: »Quien sabe, wer kann das wissen?« aber er spricht sie wahrlich mit mehr Berechtigung aus, als sie allgemein gebraucht wird. Wer kann wissen, wie alt Schildkröten werden?

Jedenfalls sind sie, und das verdoppelt mein Interesse, jedenfalls sind sie Zeitgenossen der Seeräuber. Sie kommen, wie ich eben hörte, von den Inseln bei Jamaica. Dort diente die Isla de las Tortugas den Seeräubern als Flottenbasis, Depot und Verkaufsplatz der Beute, als Rekrutierungsstelle, Ersatzformation und vor allem als Vergnügungspark.

Dorthin kamen die Korsaren siegreich oder verlustreich für kurze Zeit, und dorthin kamen auch die trächtigen Schildkrötenweiber. Auf der Isla de las Tortugas müssen sich Seeräuber und Schildkröten getroffen haben.

Sagt, Schildkröten, was wißt ihr von der Seeräuberzeit? Saht ihr ineinander verdolchte Menschen zu euch herabstürzen? Saht ihr himmelhoch brennende Schiffe, hörtet ihr, wie sie krachend und zischend in eure Tiefe sanken? Vernahmt ihr einander kreuzende Kanonenschüsse, kamt ihr an Menschen vorbei, die tot und doch noch mit wildem Blick auf dem Meeresgrund saßen?

Erzählt mir von den Piraten, von den Freunden aus meiner Jugendzeit, auf deren Spuren ich hier so unvermutet stieß. 391

 


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